Open Air-Konzerte sind (auch in der Klassik) eine ganz eigene Sache. Viele verstehen Musik als die Kraft, die jede Situation in einen Konzertsaal verwandeln kann. Doch so ein Konzertsaal ist mehr als eine Schallkiste, die ein Auditorium von der Außenwelt trennt: das Publikum in so einer Schachtel ist nämlich eine besondere Gesellschaft – abhängig davon, was gespielt wird.

Ein Abend mit Streichquartetten wird zum Beispiel ein Publikum anziehen, das mehr oder weniger aus Kenner/innen, Intellektuellen besteht. Bei einem Klavier-Rezital wird die Gruppe noch esoterischer; die Leute darin können sich an die Feinheiten dutzender Interpretationen eines Stücks erinnern (oder glauben es zumindest). Ein Opernarien-Programm wiederum erzeugt ein eher normalbürgerliches Publikum – dem gefällt es, wenn die Musik mit Emotionen gesättigt ist. Und das Sinfoniekonzert: das ist natürlich ein erbauliches Beispiel von sozialem Zusammenhalt, symbolisiert durch das Orchester, dieser Maschine vollkommener Konkordanz.


Musik im Freien

Diese lockere Einteilung ist als sozio-musikalische Hypothese nur gültig, wenn man einen Konzertsaal annimmt, der sie begrenzt. Wenn es die Klassik nach draußen zieht, dann bietet sie natürlicherweise Zugang für eine amorphe Vielfältigkeit von Zuhörer/innen – sie wird »Musik für Alle«.

»Natürlicherweise« meine ich hier im soziologischen Sinne, als Ritual, nein, als Ereignis. Denn eine Open Air-Aufführung ist aus einem einfachen Grund musikalisch immer schwierig: die Musik bildet und markiert Schichten.

Wie sieht ein Open Air-Konzert aus und wie klingt es? Na ja, so. Zum Beispiel kann jede/r, die/der Lust hat, auftauchen und sich ganz nach Belieben verhalten. Es gibt kein Auditorium und keine Konzertetikette.

Mir persönlich scheint es ziemlich absurd, auf einer Wiese zu sitzen, Bier zu schlürfen, zu quatschen und damit den Klang eines weit entfernten Orchesters zu übertönen, das eh schon nur mit Lautsprechern zu hören ist. Das ergibt in Bezug auf die Musik keinen Sinn, wenn auch in Bezug auf die Gesellschaft.

Am Ende geht es um Freiheit, Gleichheit und Gratis: um Kunst, die Allen und Jedem gehört. Es hatte einen Grund, warum Leonard Bernstein beim Dirigieren von Beethovens 9. Sinfonie zur Feier des Mauerfalls – mehr oder weniger auf den Überresten der Mauer, wenn auch eigentlich im Konzerthaus-Saal – warum er da »Freude« in der Ode an dieselbe im letzten Satz mit Schillers Original, »Freiheit«, ersetzt hat, die ein Zensor zu dessen Zeit gestrichen hatte.

Oder auch die Welttournee der Drei Tenöre – José Carreras, Placido Domingo und Luciano Pavarotti von 1996/97. Man schaue sich an, wie sie das hohe B am Ende von Puccinis Nessun Dorma nehmen und dann die ekstatische Reaktion des ganzen Stadions. Ist das schön? Darauf kannst du wetten. Ist es albern? Oh ja.

Aber das Livekonzert ist auch live, warm, spontan – Freude und Freiheit gleichzeitig. Man hört das auch auf der Aufnahme von Seiji Ozawas Gershwin Night in der Berliner Waldbühne 2003: Lauscht nur der Soloklarinette am Anfang von Rhapsody in Blue, diesem legendären über eine Oktave nach oben kletternden Glissando; hört sich das nicht in einem Wald ganz anders an als in einem Saal?

Und nun ein Blick auf das Programm unseres Palmyra Open-Airs: Das Orchester leitete Valery Gergiev, ein Kumpan des autoritären Usurpators Vladimir Putin; der Solist, Cellist Sergei Roldugin, kontrolliert das Geld und Vermögen des gleichen Usurpators. Wenn man das weiß, ist es schon schwer dem Titel des Konzerts zu trauen, der tatsächlich sehr gut ist: »With a Prayer from Palmyra: Music Revives the Ancient Walls.«

Ja, Schönheit liegt im Auge des Betrachters, aber das Gegenteil ist auch wahr. Nehmen wir also einmal an, dass jeder frei ist, die Regierung seines Landes zu hassen, und dass es eine Privatangelegenheit ist, wer sich in Russland was unter den Nagel gerissen und wieviel Geld er dabei verschoben hat. Aber gerade dann sollten wir uns das Konzert genauer anschauen, beziehungsweise anhören.


Statt einer Rezension

Ich vermute, dass kein Konzert, ob in- oder außerhalb eines Gebäudes, je mit einem 15-minütigen Stück für Solovioline angefangen hat. Schon dadurch sollten wir gewarnt sein – Palmyra wird kein gewöhnliches Konzert. Die Gewehre der [hier den glorreichen Namen der entsprechenden Russischen Artillerie einfügen] schweigen erst seit eben, und die Stimmen der Musen können nicht gleich in einen Chor einstimmen, geschweige denn in einen Orchesterklang. Es muss mit einer einzelnen menschlichen Stimme losgehen.

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J.S. BACH, CHACONNE AUS PARTITA NO. 2; PAVEL MILIUKOV (GEIGE)

Was Valery Gergiev uns gesagt hat: Bachs Chaconne für Violine solo aus der Partita No. 2 verkörpere die Größe des menschlichen Geistes. Und es war auch wirklich angemessen, sie in Memoriam Khalid al-Asaad zu spielen, dem ehemaligen Direktor der Altertümer, der von den Orks des IS geköpft wurde. Der Violinist Pavel Miliukov lieferte eine exzellente Performance der Chaconne; gravitätisch, mit einem Gefühl des Schmerzes und einem erkennbar sozio-politischem Klang, den der Anlass zweifellos erforderte.

Nach ihm ging es allerdings schnell bergab. Sergei Roldugin kämpfte sich mehr schlecht als recht und unsauber intoniert durch die fröhliche Quadrille aus Schtschedrins Oper Nicht nur Liebe. Was hatte solche Musik hier zu suchen, in diesem verwüsteten, durch Massenmord geschändeten Platz? Welche Botschaft überbrachte sie? Dass man in diesen Tagen in Palmyra nicht allein die Hölle, sondern – wie eine Notiz Schtschedrins an der Quadrille es formuliert – auch die »glücklich geschiedene Katerina« vorfinden kann, »die mit einem Mann nach dem anderen tanzt«?

Und was hatte Prokofjews 1. Sinfonie, dieser Jugendscherz einer Klassizismus-Imitation, für Palmyra zu bedeuten? In ihrer Unangebrachtheit erinnerte sie an das Hissen irgendeiner Landesflage bei einer wagemutigen Expedition, weit weg auf irgendeinem gottverlassenen Flecken der Erde.

Klar, vielleicht sollte die Musik diese Flagge sein. Je einfacher die Geste, desto leichter kommt sie bei der Zielgruppe an. Es war, als ob nach der Befreiung von Palmyra von den unmenschlichen Barbaren erst einmal die pan-menschliche Musik des Pan-Menschen Bach gebraucht würde, als Zeichen von pan-menschlicher Trauer – um im Anschluss daran unsere eigene, russische Musik spielen zu können: Wir haben die Barbaren besiegt, sie von diesem heiligen Platz vertrieben und mit Prokofjew abgefertigt.

Aber sogar dieser Zusammenhang ist wohl unabsichtlich entstanden. Die Prokofjew-Sinfonie wurde wahrscheinlich vor allem deswegen genommen, weil sie nur ein kleines Orchester erfordert und weil man ein gradliniges Stück brauchte, das in diesem unwirtlichen Klima nicht auseinanderfällt. Und es ist nicht auseinandergefallen, auch wenn das so zielmlich das einzig positive ist, was man über die Darbietung sagen kann.

Um fair zu sein: in einer solchen Hitze zu spielen, ist schwierig: Die Instrumente werden warm, die Feuchtigkeit beeinträchtigt sie; sie müssen öfter gestimmt werden, die Finger der Musiker/innen rutschen; Saiten reißen und so weiter. Die Quadrille von Schtschedrin funktionierte überhaupt nicht, aber der Prokofjew war nicht gar so schlimm, und um ehrlich zu sein, spielen sie zuhause im Mariinsky manchmal genauso schlecht.

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SERGEJ PROKOFJEW, 1. SINFONIE D-DUR; MARIINSKY ORCHESTER MIT VALERY GERGIEV (LEITUNG)

Eine Partita für den Präsidenten

Ich glaube, der Einzige, der überhaupt auf die Idee kommt, an so einem Ort ein Konzert zu geben, ist Valery Gergiev. Seine Karriere braucht keinen Anschub – er hat bereits mehr als genug Posten, Insignien und Verträge. Aber ist eben schön, auch als Friedenstaube zu erscheinen, zumindest als Botschafter von Güte und Schönheit, besonders für die westliche Musikwelt, die diesen selbstlosen Diener der Musen doch so oft frustriert.

Aber auch hier hatte der Vertraute des russischen Präsidenten nicht ganz freie Hand. Roldugins Soloauftritt (und übrigens auch Schtschedrins Quadrille – was der Solist spielen wollte, musste gespielt werden) kann nicht anders als ein aufmunterndes Schulterklopfen von Putin für seinen Schatzmeister gedeutet werden. Du stehst im Kreuzfeuer der Musikszene, weil du mit Putin verbandelt bist? Dann spiel an dieser historischen Stätte mit Gergiev. Der Maestro versichert dir, du wirst neben ihm auf dem Gipfel des Musik-Olymps stehen, und deine Kritiker sind nur ein Haufen neidvoller Loser.

Wenn man als Hörer nicht viel über Musik weiß, dann beginnt man sich zu fragen. »Dieser Offshore-Cellist – kann der was? Wenn Gergiev selbst ihn begleitet, dann ist er vielleicht nicht so schlecht.« Nun, Roldugin ist schlecht, und mit Gergiev hat er seit vielen Jahren nicht mehr gespielt, weil Gergiev nur mit Solisten der Spitzenklasse auftritt, und dazu gehört Roldugin schon lange nicht mehr (auch wenn das früher mal anders war).

Wenn ich jetzt schon der Musikkritiker bin: Eine andere Sache zeigte das russische Staatsfernsehen nicht: Auch der Tontechniker hat einen fürchterlichen Job gemacht. Doch warum schreibe ich überhaupt über die musikalische Seite der Aufführung? Weder die Dauer noch das Programm lassen auf ein ordentliches Konzert schließen. Ich will damit zeigen, dass die Musik hier letztlich fehl am Platze war.

Wie vorher angedeutet, ist ein Open Air-Konzert in mancher Hinsicht ein begrifflicher Widerspruch, weil seine integrierende Qualität den Gebräuchen der klassischen Musik widerspricht, die sich vor der gemeinen Öffentlichkeit hinter Mauern versteckt (auch dann, wenn sie diese Öffentlichkeit einlädt, die Bauten zu stürmen).

Aber hier in Palmyra gab es natürlich gar keine Inklusion, sondern offensichtlichen Ausschluss. Das Publikum wurde in Bussen zu den Ruinen des antiken Amphitheaters gefahren, unter die knallende Sonne, wo es wieder sortiert wurde (sorgfältiger als das Orchester): Russische Militärs (die so nimmt man an, den IS aus der Stadt getrieben haben); örtliche Geistliche (die die richtige Sorte des Islams repräsentieren, nicht den, der vom IS gepredigt wird) und Kinder aus dem Ort (die viel gelitten und niemanden getötet haben, anders als andere, ebenfalls von hier stammende Kinder, die mit dem IS zu tun hatten). Und hochrangige russische Offizielle. Und eine TV-Ansprache von einem vorgeblichen Friedensstifter. Und ein schief gesungenes Lied von befreiten kleinen Mädchen in nationaler Tracht. Und gut organisierter Applaus an all den richtigen Stellen. Es war eine makellos aufgeführte Produktion.


Wie man »Wirklichkeit« inszeniert

Es gibt einen Roman von Stanisław Lem, Friede auf Erden (Pokój na ziemi). Die Handlung ist einfach: Alle Waffen auf der Erde werden mit Raketen auf den Mond verfrachtet, um dem Wettrüsten ein Ende zu bereiten. Die Nationen erklären, niemals zum Mond zu fahren, um herauszufinden, was in wessen Sektor vor sich geht. Aber die Roboter, die sich um die Waffen kümmern, betreiben, was Lem Nekroevolution nennt – die Fähigkeit lebloser Dinge, sich zu reproduzieren und weiterzuentwickeln – und bedrohen schließlich die Erde.

Wir in Russland wissen nicht genau, was in Syrien los ist. Ja, der IS ist absolut bösartig; es gibt nichts Schlimmeres. Aber wie stehen die kriegführenden Partien wirklich zueinander? Könnte dieses absolut Böse nicht ein weiteres Übel anziehen – den russischen Militarismus, der die syrischen Städte genau so effektiv wie der IS dem Erdboden gleichgemacht hat, gelegentlich sogar zu dessen nicht übersehbarem Vorteil?

Warum über so etwas nachdenken, beim Betrachten des Konzerts im Fernsehen? Weil dieses russische Fernsehen gerade einen russischen Mond erschafft, eine undurchdringliche Parallelwelt. In dieser Wirklichkeit, und nur dort, ehren ein großer Dirigent und ein Weltklasse-Cellist das Andenken der Aufrechten, die von den Islamisten gefoltert wurden, und nutzen ihre hohe Kunst, um Frieden an einen verwüsteten Ort wie Palmyra zu bringen.

Darin liegt eine bizarre Schamlosigkeit: Die Die-Krim-gehört-uns-Gang und die Panama-Geldsäcke beten für den toten Khalid el-Asaad. Das ist geistige Plünderung. Ich bewundere die mediale Gewandtheit der russischen Welt: sie kann jede Idee über den Haufen werfen, jeden Impuls pervertieren. So schwer ist das nicht: man überträgt ein Ereignis nicht, wie es stattfindet; sondern man organisiert das Ereignis so, dass man die richtigen Bilder erhält.

Was unterdessen die Ebene des gewöhnlichen Open Air-Konzerts betrifft, so ist die Musik, die die Veranstaltung offensichtlich erleichtert, ansonsten unwichtig. Sie schafft eine Hintergrundatmosphäre, eine angenehme akustische Picknickdecke. Man bemerkt sie vielleicht nicht einmal. Sie betont nur die Seltsamkeit der Situation: es ist nicht normal, klassische Musik so zu benutzen – in einem Stadion, einem Park, auf einem öffentlichen Platz oder neben einem Kanal – aber so machen wir das heute. Weil, um noch einmal Schillers Ode an die Freude zu zitieren: »Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt.«

Man erkennt aber daran, was lebendig ist und was Ergebnis von Lem’s Nekroevolution ist. Eine lebendige Gesellschaft achtet im Alltag auf Gepflogenheiten, Regeln und Grenzen und bricht sie in der Kunst. In Putin-organischen Lebensformen, ist alles andersherum.

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Die geschiedene Katerina hat nun auch einmal was anderes als gesehen. ¶