Einer der Gründe für den wahnsinnigen Erfolg der Romantrilogie Das Leben des Vernon Subutex, die inzwischen auch zur TV-Serie wurde und auf etlichen Bühnen als Theateradaption gespielt wird, ist der Job, den der Titelheld verloren hat, mitsamt dem Laden, der ihm gehörte. Ein Plattenladen in Paris, Nähe Bastille, genannt »Revolver« wie das Album der Beatles von 1966, dem mutmaßlichen Geburtsjahr von Vernon. Seine Erfinderin Virginie Despentes hat selbst mal in einem Plattenladen in Paris gejobbt und den »Napster-Tsunami« miterlebt, wie sie das nennt, den Anfang vom Ende der physischen Tonträger und ihrer stationären Händler. Vernon ist am Ende von Band eins obdachlos.

Die Musiktauschbörse Napster ging 1999 online, zwei Jahre später wurden dort rund zwei Milliarden Dateien getauscht, bezahlen musste man nichts. Die Folge: weltweiter Umsatzeinbruch bei Tonträgern, vor allem im Bereich Pop und Rock. Vernon kann seinen Laden noch bis 2006 durchbringen, dann macht er dicht. Er ist Mitte 40, als er auf der Straße sitzt. Da der Kultladen »Revolver« zugleich sein Jagdzentrum als serial lover war, ist es auch eine Geschichte über das Älterwerden seiner Generation, ihren Verlust an Attraktivität. Das sollte man bedenken, wenn man als Ü50er anfängt, der CD nachzutrauern, deren Anteil am weltweiten Gesamtumsatz in zehn Jahren bis 2019 von 60 auf 22 Prozent fiel.

Oder wenn man gleich Schatten auf Wien fallen sieht bei der Nachricht, dass selbst die legendäre »EMI« in der Kärntner Straße vor der Schließung steht, ein Plattengeschäft, 1931 gegründet, als der damals größte Schallplattenkonzern der Welt entstand, die EMI. Ist es nicht die alte Geschichte von technischem Fortschritt und Klagen von Leuten aus der vorigen Epoche? Warum nicht einfach streamen? Der Umsatz mit Musikverkäufen ist in zehn Jahren von knapp fünfzehn Milliarden US-Dollar auf gut 20 Milliarden gestiegen, der Streaming-Anteil von 2,7 auf 56 Prozent. Es führt zu weit, hier auseinanderzuklamüsern, warum klassische Musiker davon kaum profitieren, wie auch von CDs.

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Das Jahr 2006, in dem Vernon Subutex seinen Laden dichtmacht, war für die Klassik der letzte Plattengipfel. Es war auch das Mozartjahr, »da wurde gekauft wie wild, es war der Wahnsinn«, erzählt Astrid Rothauer, die vor drei Jahren das legendäre Musikhaus Katholnigg in Salzburg schloss, weil sie nicht warten wollte, bis »wir von den Labels über die Einstellung der CD-Produktion informiert werden.« Aber eben die lässt erstaunlicherweise auf sich warten. Und vielleicht ist es gar keine schlechte Idee von Frau Rothauer, einen neuen kleinen Laden aufzumachen, in dem es »nur ganz Ausgewähltes und Exklusives« gibt.

Es werden nämlich weiterhin CDs auf eher steigendem Niveau produziert, und so viele, dass etwa beim »Preis der deutschen Schallplattenkritik« das Genre Kammermusik neuerdings auf zwei Jurys verteilt ist (eine nur für Streicher ohne Klavier). Wer da mitvotiert, packt monatlich an die 40 neue CDs aus. Es passiert sehr selten, dass die fünf Juroren pro Quartal nicht wenigstens acht Produktionen als herausragend nominieren. Auch aus anderen Genres kommt so viel Gutes, dass selbst bei gnadenlosestem Wegschieben zehn neue Alben pro Monat einen Platz in meinem Regal suchen. Vergeblich. Die Stapel wachsen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Alben nur noch für »Multiplikatoren« produziert werden, damit die Musiker medial präsent bleiben. Ich finde es wunderbar, in den Booklets zu lesen und die Musik aus einem schweren, britischen CD-Player der mittleren 1990er kommen zu lassen oder aus dem billigen Ding im Auto, wo besonders Klaviermusik und Sinfonik so gut mit der Piste oder dem Stau verschmelzen (Streichquartette sind den Fahrgeräuschen nicht gewachsen). Und ich habe den Eindruck, dass eine CD mehr Nuancen mitbringt als eine Datei, die durchs Netz geschickt werden kann. Da nach wie vor Bücher gedruckt und in Läden verkauft werden – warum sollten physische Tonträger verschwinden? Musik aus dem Netz ist wie Essen ohne Teller. Ich finde es schöner, wenn alles mit Konzept auf einer Scheibe versammelt ist.

In Skyfall (2012) sitzen der reife James Bond und ein blutjunger IT-Experte in London vor William Turners Bild von der Temeraire, dem Segelschlachtschliff, das von einem modernen Dampfschiff zum Abwracken geschleppt wird. »Ich schätze«, sagt Q, »ich kann auf meinem Laptop mehr Schaden anrichten, noch vor meiner ersten Tasse Earl Grey, als Sie in einem ganzen Jahr da draußen.« »Oh, wofür brauchen Sie mich dann?« »Ab und zu muss einer abdrücken.« Diese Antwort hat mit Musik nicht besonders viel zu tun. Aber sie zeigt, dass die Profis aus dem vorigen Jahrhundert und ihre altmodischen Geräte unersetzlich sein können. Wenn mir die CD-Stapel über den Kopf wachsen, mache ich vielleicht auch einen Plattenladen auf. Skyfall wäre ein guter Name. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.