»Nach dem Abgang der Helden kommen die Clowns und Graziosos mit ihren Narrenkolben und Pritschen, nach den blutigen Revolutionsszenen und Kaiseractionen kommen wieder herangewatschelt die dicken Bourbonen mit ihren alten abgestandenen Späßchen […], und graziöse hüpft herbey die alte Noblesse mit ihrem verhungerten Lächeln.« Heinrich Heines Blick im Buch Le Grand aus den Reisebildern, noch aus der Perspektive von jenseits des Rheins, hätte sicher die volle Zustimmung einer neuen Künstlergeneration gefunden, der die heroischen Zeiten des napoleonischen Kaisertums schon zur Legende geworden waren. Auf diese trifft, aus der Provinz kommend, der knapp 18-jährige Hector Berlioz bei seiner Ankunft in Paris im Herbst 1821. Sie musste sich nun in einem als bewegungslos-dumpf wahrgenommenen Paris der Restauration behaupten – ebenso materiell wie mit einer aus dem Widerstand geborenen innovativen Ästhetik. Aufmerksamkeit war mit allen strategischen Mitteln zu erregen – mit spektakulären Großformaten, »grandes machines« (so der Atelierjargon der Maler) für den Salon, oder mit spektakulären Kompositionen, deren Aufführung zudem einen kaum zu bewältigenden finanziellen Aufwand erforderte. Die Maler hatten es da leichter.

»Grandes machines« gab es schon zu Revolutions- und Kaiserzeiten, aber die dort vorgestellten großen Schlachten und Triumphe wichen nun den desaströsen Niederlagen und Untergängen: Der 26-jährige Eugène Delacroix stellt 1824 seine die klassische hierarchische Bildkomposition auflösenden Szenen der Grausamkeit aus dem griechischen Freiheitskampf gegen die Türken aus (Scènes des massacres de Scio), in denen der Künstler zum Ankläger wird. 1827/28 folgt ein Massaker, mit dem ein hedonistischer König seinen eigenen Untergang inszeniert (La mort de Sardanapale).

Eugène Delacroix, Scènes des massacres de Scio • Foto Public Domain

Dazwischen, im Herbst 1824, entwirft der 20-jährige Hector Berlioz im Credo seiner Messe solennelle eine Szene des Jüngsten Gerichts, in der er bei der Uraufführung am 10. Juli 1825 in der Kirche Saint-Roch (mitten im Gottesdienst) sogar selbst als Akteur auftritt.

Nach Geburt, Tod und Auferstehung (»Et resurrexit«) ruft der Credo-Text die Wiederkehr Christi am Ende der Zeiten auf: »et iterum venturus est cum gloria, iudicare vivos et mortuos« – »und er wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten«. Berlioz setzt hier mit einer plakativen Rückung D–Es, Blechbläserfanfaren und Pauke neu ein, löst also die Textpassage aus dem üblicherweise durchkomponierten Großabschnitt heraus. Zehn Tage nach der Uraufführung schrieb er an einen engen Freund, der nicht dabei sein konnte:

»Im Iterum venturus, nachdem ich mit allen Trompeten und Posaunen der Welt den Beginn des Jüngsten Gerichts verkündet hatte, entfalteten sich die Klänge des Chores der Menschheit, verzehrt von Furcht. Oh Gott! Ich schwamm in dieser bewegten See, ich saugte die Fluten sinistrer Harmonien ein; ich hatte niemanden mit der Aufgabe betrauen wollen, meine Zuhörer unter Beschuss zu nehmen, und nachdem ich den Bösen durch eine letzte Salve des Blechs angekündigt hatte, dass nun der Augenblick des Heulens und Zähneklapperns da sei, führte ich einen so wilden Tam-tam-Schlag aus, dass die ganze Kirche erzitterte. An mir lag es nicht, wenn vor allem die Damen sich nicht am Ende der Welt glauben wollten.«

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»Mit allen Trompeten und Posaunen der Welt«: Berlioz hatte vier Hörner, zwei Trompeten und drei Posaunen zur Verfügung, außerdem zwei altertümliche Bassinstrumente, Buccina und Serpent (der sich ohnehin in vielen Kirchen zum Zweck der Choralbegleitung befand). Das war das damalige Maximum, aber zu wenig für eine alle Grenzen überschreitende Einbildungskraft. Er selbst ruft das Jüngste Gericht aus. Und was die Wirklichkeit nicht leistet, das soll mit der Attacke des furchtbaren Tam-tam-Schlags erzwungen werden: Mit ihm überschreitet er die Grenze der Fiktion (der berühmten »vierten Wand«) in die reale Erschütterung des Raumes: Eine poetische Idee soll, distanzsprengend, furchtbare physische Gegenwart werden.

Berlioz’ Text ist ein einzigartiges Gründungsdokument der Moderne. Mit ihm wird eine grenzüberschreitende Ästhetik zugleich mit einer Neupositionierung des Künstlers als gesellschaftliche Instanz behauptet. Unter vielen anderen war Bernd Alois Zimmermann mit seiner Licht-Attacke auf das Publikum am Ende seiner Soldaten ein Erbe dieser radikalen Idee.

Neu waren die eingesetzten Mittel, Tam-tam und illustrierende Bläserfanfaren, nicht. »Das Tam-tam findet nur in Trauermusiken und dramatischen Auftritten Verwendung, wo das Entsetzen den Gipfelpunkt erreichen soll; seine Schwingungen erregen, mit dem Forte der schmetternden Akkorde der Blechinstrumente (Trompeten und Posaunen) vermischt, wahrhafte Schauder«, schreibt Berlioz rund zwei Jahrzehnte später in seiner »Instrumentationslehre«, und er denkt dabei u. a. an François-Joseph Gossecs berühmte Marche lugubre aus der Revolutionsszeit und an das Finale des zweiten Akts von Gaspare Spontinis La Vestale von 1807, wo ein Tam-tam-Schlag im fortissimo zum Fluch des Oberpriesters über die todgeweihte Vestalin erklingt:

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Just im Herbst 1824, also in den Entstehungsmonaten seiner Messe, besucht er eine Aufführung von Rodolphe Kreutzers Oper La Mort d’Abel, in der im zweiten Akt (II, 3) ein Tam-tam-Schlag ertönt, wenn Caïn die ihm von finsteren Mächten zugespielte Keule ergreift, mit der er kurz darauf Abel erschlagen wird. Und wenige Tage zuvor hört der junge Komponist bei der Trauerfeier für den verstorbenen Bourbonen Ludwig XVIII. in Saint-Denis Luigi Cherubinis zur Staatsmusik avanciertes Requiem c-moll von 1815/16 mit seinem auf Blechbläserfanfaren folgenden, freiliegenden Tam-tam-Schlag am Beginn des Dies irae:

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Das für damalige Hörgewohnheiten markerschütternde Schlaginstrument wandert aus der revolutionären Funktionsmusik und vor allem aus der Oper in die Messe – eine gewagte Gattungsüberschreitung – und stimuliert dort die Imaginationskraft der Hörer zu einer szenischen Wahrnehmung. Das konnte sich der junge Berlioz im Selbstbehauptungs- und Überbietungsfuror nicht entgehen lassen.

Auch für die Fanfaren zur Ankündigung oder Illustration des Jüngsten Gerichts gab es ein Vorbild, Gossecs immer noch präsente Messe des morts von 1760, in dem beim Tuba mirum der Totensequenz sogar ein Fernorchester zum Einsatz kommt:

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Für eine Radikalisierung, für die Attacke auf das Publikum liegt das Material also bereit, und es wird vom Requiem in die Messe transportiert, in der nun an unüblicher Stelle – allein das schon ein Schock – ein Jüngstes Gericht mit einem niederschmetternden Tam-tam-Schlag erscheint. Über mehrere Zwischenstufen der kompositorischen Anreicherung und der Erweiterung eines für die Vision vom Weltende prinzipiell nie ausreichenden Instrumentariums , wird aus dem Iterum venturus 1837 das Tuba mirum von Berlioz’ Grande messe des morts, es kehrt ins Requiem zurück. Das Gelingen der physischen Attacke auf das Publikum bezeugen bei der Uraufführung im Invalidendom der Nervenzusammenbruch einer Choristin und die Erschütterung des Pfarrers, der am Altar noch ein Viertelstunde lang in Weinkrämpfen verharrte: »Vraiment, c’était d’une horrible grandeur« – »in der Tat, das war von schrecklicher Größe«, schreibt der Komponist danach einem Freund.

Kehren wir in die Jahre 1824/25 und zur Messe solennelle zurück. Der psycho-physischen Überwältigung des Publikums, das mit aller Macht zum Verstehen gezwungen werden soll, geht ein anderer Angriff voraus: Das Kyrie eleison, das »Herr erbarme Dich«, beginnt mit einem (scheinbar) konventionellen, aber chromatisch geschärften Fugato, dem ein fast idyllisches Christe eleison in F-Dur folgt. Die übliche Kyrie-Wiederholung aber wartet nicht mit erneuter Demut auf, sondern mit Beschleunigung und Verdichtung des Materials bis hin zu frenetischen, im inzwischen verdoppelten Tempo herausgeschrienen Ketten kleiner Sekunden – und reißt dann auf dem Höhepunkt der Steigerung einfach ab. Alles ist schon hier aus den Proportionen geraten. Gottes Gnade und Erbarmen werden nicht demütig erfleht, sie sollen in einem Kampf, gleich Jakobs alttestamentlichem Ringen mit dem Engel, herbeigezwungen werden: »Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn.«

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Aber das Werk hält neben solchen hochexpressiven Momenten, die sich um klassische »Beruhigung« nicht scheren, auch Idyllen bereit. »Rage et tendresse« – »Wut und Zartheit« in einem Werk, das ist von Anfang an Berlioz’ ästhetisches Programm: Überwältigung unbedingt, aber auch Intimität. Die Elevationsmotette O salutaris hostia (wieder in Konkurrenz mit Cherubini) und das Siziliano-hafte Gratias im Gloria sind dafür die schönsten Beispiele.

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Hervé Niquet hat das Gratias in einer neueren Aufnahme wundervoll schwebend realisiert.
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John Eliot Gardiner dagegen zerdehnt es in seiner heute wegen ihrer Knäckebrot-Ästhetik insgesamt eher abschreckend wirkenden Pionier-Einspielung von 1993 zu einer löchrigen Elegie (4’50 braucht Niquet, 6’39 Gardiner).

Der Grund dafür ist immerhin nachvollziehbar. Seit 1991, dem Jahr der Wiederentdeckung des Werks, von dem Berlioz behauptete, es verbrannt zu haben (das wäre eine spannende andere Geschichte), wissen wir, dass der Komponist die Messe ausgeschlachtet hat. Sie geistert bis zum 1855 uraufgeführten Te Deum mit ihren schönsten Stücken durchs Œuvre wie ein Geheimagent. Das Material des luftig-naiven Gratias kehrt 1830, ganz ins Melancholische gewendet, im langsamen Satz, der Scène aux champs der Symphonie fantastique wieder (so hatte es wohl Gardiner im Ohr); das Iterum venturus im karnevalesken Endspiel des ersten Finales des Benvenuto Cellini von 1837/38 (in dem es um Leben und Tod unter dem Kanonendonner der römischen Engelsburg geht); das gottverlassen psalmodierende Agnus Dei schließlich im Te Deum, unmittelbar vor der letzten großen Gerichtsszene des Komponisten (»iudex crederis esse venturus«), deren Text er aus der Mitte des Te Deum-Formulars souverän ans Ende verschiebt. Noch einmal triumphiert die mit der Messe solennelle begründete Ästhetik der Überwältigung. »Babylonisch, ninivitisch« nennt Berlioz die Wirkung dieses Schlusses in einem Brief an Franz Liszt – und er zitiert damit den bald schon zum Freund gewordenen Heinrich Heine, der in seinem Bericht über die Pariser Musikalische Saison von 1844 Berlioz den Künstler der »aufgetürmten Unmöglichkeiten« genannt hatte. ¶

… ist als promovierter Musikwissenschaftler vor allem Bruckner- und Berlioz-Spezialist, hat aber auch zur Musik des frühen Mittelalters und zur aktuellen Bildenden Kunst publiziert. Er arbeitete außerdem für verschiedene Stiftungen wie die Studienstiftung des deutschen Volkes, wo er sowohl das wissenschaftliche Programm als auch die Kunst- und Komponistenförderung leitete, und kuratierte Ausstellungen für Häuser wie die Kunsthalle Düsseldorf.