»Dann läutet seltsam jene Glocke Nie …«

Paul Celan, Festland

Wenn die Komponistin Dorothee Schabert spricht, zittern ihre Finger. Als wären sie Antennen, die empfindlich reagieren auf jene Vibration der Luftmoleküle, die wir Klang nennen. Schaberts Stücke hört man nicht; man erfühlt sich einen Weg durch sie hindurch wie ein Insekt. In GlasGewitter für Elektronik wird man einem Sturm aus Glasscherben ausgesetzt. Zunächst ist der Schmerz fast angenehm, wie das Klirren von Buntglas, das im Altglascontainer auf anderes Glas trifft. Dann hört man ein Es von einer fernen Bratsche. Ihre mittelalterlich anmutende Melodie tröstet einen durch die harten Akzente des Glases. Gleichzeitig lässt sie die Geräusche noch viel härter ins Trommelfell schneiden. Erst die schöne Melodie lässt den Schmerz in der Intensität fühlbar werden. »Lustig, ne?« sagt Schabert, als ich ihr beschreibe, wie GlasGewitter auf mich wirkt. Sie hat Spaß am Spiel mit der Wahrnehmung.

Dorothee Schabert, GlasGewitter

Schaberts Musik ist differenziert und räumlich. Sie bedient sich bekannter Muster der Neuen Musik, ist aber stilistisch schwer greifbar (was mir persönlich gefällt). Ihr La Vallée des Mandailles für vier Holzbläser und Schlagzeug (2008) etwa klingt, als hätte der mikrotonale Meister Giacinto Scelsi Variationen über die Fagott-Melodie am Anfang von Strawinskys Sacre du Printemps geschrieben. Le Rouge et le Noir für Elektronik sensibilisiert den Hörer für die extremen Feinheiten eines weißen Rauschens, wie eine Art Field Recording einer außerirdischen Technologie. In Saggat (2017) für Blockflöte, Flöte, Oboe, zwei Klarinetten und Fagott stellt Schabert raue Multiphonics aus wie bedrohliche Skulpturen, die einen immer wieder angenehm erschrecken. Sie hat eine seltene Begabung für Überraschung, Dramaturgie, Klangmischung.

Dieses besondere Empfinden ist eng an Schaberts Ausbildung und lange Tätigkeit als Tonmeisterin verknüpft. Einen Großteil ihres Berufslebens hat sie mit dem sehr genauen Zuhören und Auswerten von Klängen verbracht. Bei jeder Aufführung ihrer Stücke analysiert sie die Akustik und lässt die Musiker entsprechend anders sitzen. »Tonmeister hören Klangfarbe anders und auch den Raum«, erzählt sie mir. »Immer wieder der Raum. Ich merke, dass Musiker den Raum nicht hören. Eigentlich reagieren Dirigenten natürlich mit dem Tempo, aber das meine ich gar nicht. Sondern: dass man sich traut, eine Flöte mit dem Rücken zum Publikum spielen zu lassen, und das als Klangfarbe zu hören.« Wie ein Stück klingt, ist für Schabert niemals theoretisch. Viele Komponist*innen laden schlechte Proben- oder Konzertmittschnitte ihrer Werke auf Soundcloud hoch. Als ich Schabert im Sommer treffe, gibt sie mir eine CD von ihrer Musik, dann sagt sie, ich solle die CD nicht in der Sonne liegen lassen. Das könne den Klang beeinträchtigen.

Schabert wird 1952 in Bamberg geboren, ihre Eltern stammen ursprünglich aus Riga. Sie nimmt Klavierunterricht bei Fanny Hensel, der Urenkelin der Fanny Hensel. Der Unterricht ist spannend und breitgefächert. Doch die Begeisterung für ihre anfänglichen Kompositionsversuche halten sich bei den Eltern in Grenzen. »Ich habe immer Sachen geschrieben. Aber ich komme aus einer Familie … das ist so richtig klassisches Bildungsbürgertum«, sagt sie. »Wenn ich etwas komponierte, hob meine Mutter die Hand und sagte: Beethoven.« Schabert will später Musik studieren, hat aber das Gefühl, als Pianistin nicht gut genug zu sein. »Ich hatte immer mit dem romantischen Geniekult zu kämpfen – der Auffassung, dass der musikalische Gedanke eine Größe hat, die dem normalen Menschen nicht zugänglich sei.«

La Vallée des Mandailles für vier Holzbläser und Schlagzeug (2008); Ensemble Aventure

Stattdessen studiert Schabert zwischen 1971 und 1977 Geschichte und Germanistik auf Lehramt an der Universität Freiburg. Sie interessiert sich für linke Politik, kandidiert mehrmals in der dortigen Basisgruppe und schreibt eine Komposition, die auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg gespielt werden soll. Es ist die Politik, die sie wieder zurück zur Musik führt. »Ich habe mein Staatsexamen gemacht, aber ich hing ein bisschen durch, weil es klar war, dass mich niemand einstellen würde. Die Staatsorgane reagierten in diesen Jahren ziemlich hysterisch auf alles, was in die linke Richtung ging«, sagt sie. »Die Basisgruppen an der Freiburger Uni hatten damals Mitgliederzahlen in den Tausenden. Trotzdem kam man in den 70er Jahren in Baden-Württemberg nicht in den Schuldienst, wenn man dort einmal dringewesen war. Ich habe gesagt: ›Danke, ich will eigentlich viel lieber Musik machen.‹« (In den frühen 2000er kandidiert Schabert für die Grünen in Baden-Baden. Sie wollte die Öffentlichkeit für Themen wie Verkehr, Umweltschutz, und die Gleichberechtigung von Frauen sensibilisieren. Inzwischen sagt sie, dass sie sich keiner Partei mehr zugehörig fühlt.)

Schabert zieht nach West-Berlin. Zwischen 1979 und 1985 studiert sie an der Universität der Künste, um Tonmeisterin zu werden. Sie erhält neben der technischen Ausbildung Unterricht in Klavier und Komposition. Im Studium lernt Schabert das Wichtigste – zu hören, und zwar genauer als viele professionelle Musiker es tun. »Ich bin weit in die Einzelheiten der Komposition vorgedrungen«, erzählt sie mir. »Eben zu hören: Führe ich den Bogen so? Wie laut ist der letzte Ton? Kriegt er einen Akzent, oder soll er ausklingen? Das genaue Hören hat mich unglaublich weitergebracht.« Zwei Jahre nach ihrem Abschluss bekommt Schabert eine Stelle als Tonmeisterin, zuerst beim SWF und danach beim SWR Baden-Baden, wo sie fast dreißig Jahre bleibt. Sie verfeinert im Beruf ihre musikalische Fähigkeiten, lernt aber auch das selbstbewußte Auftreten. Schabert erinnert sich an Aufnahmen mit einem Kammerchor, bei dem der Dirigent alle Frauen im Ensemble »Mädchen« nennt. Schabert unterbricht die Probe immer wieder, um auf Intonationsfehler hinzuweisen – hauptsächlich bei den Männern. Erst danach kam der Respekt. »Nach einer halben Stunde lief das wie am Schnürchen«. Als Tonmeisterin macht sie sich mit der Musik von Luigi Nono, Gérard Grisey, Wolfgang Rihm, Georg Friedrich Haas, Mark Andre und anderen vertraut. Sie lernt die Technik der Fourier-Transformation für Klanganalyse und begleitet Dirigenten wie Michael Gielen, dessen Genauigkeit bei Mahler-Symphonien sie besonders schätzt: »Ich hatte das Gefühl, er hat die Stücke selbst geschrieben.« Für Schabert ist das Tonmeisterinnen-Dasein einerseits eine zufriedenstellende Arbeit, andererseits eine Grundbildung fürs Komponieren. »Ich habe das immer als eine sehr musikalische Sache verstanden und betrieben«, sagt sie.

Saggat für Holzbläser-Sextett (2017); Ensemble Aventure 

Anfang der 90er trennt sich Schabert von ihrem Mann und muss drei Kindern neben der Arbeit alleine erziehen. »Sie waren einfach darauf angewiesen, dass ich etwas verdiene«, erzählt sie mir. »Meine Schublade ist voll mit Entwürfen; Entwürfe, von denen ich dachte, ich könnte etwas draus machen. Aber es ist sauschwer, an so etwas zu arbeiten, wenn man es ein Vierteljahr liegen lässt.« Große Persönlichkeiten der deutschen neuen Musik wie Rolf Riehm oder der langjährige Intendant der Donaueschingen Musiktage Armin Köhler unterstützen Schabert, geben ihr aber auch nicht den einmaligen Schub, den viele Kompositionskarrieren brauchen, um abzuheben. Sie hat auch mit der Skepsis einer sehr männlichen Klassikwelt zu kämpfen. Mit Anfang 50 bittet Schabert den Dirigenten und Komponisten Hans Zender um Rat: Könne sie Dirigieren studieren? »Er guckte mich nur von oben bis unten an und sagte: Female conductors. Das war sein Kommentar.«

Es sollte eigentlich klar sein, dass auch Menschen außerhalb des normalen Hochschulen-, Residency-, und Auftragssystems tolle neue klassische Musik schreiben können. Schaberts Kunst ist raffiniert, ein gutes Beispiel für die These, dass – ähnlich wie in der Literatur – Lebenserfahrung, Begeisterung, privates Studium und Konzentration oft bessere Lehrer sind. Schaberts Musica Insabbiata für Kontrabass solo (2010) arbeitet mit einer Art angereicherten Melodie, die die Ohren durch eine wilde Landschaft von Mikrotönen und Klangeffekten führt. Das Stück ist in seinem direkten Ausdruck fast haptisch greifbar –  was es von sehr vielen anderen Solostücken der neuen Musik abhebt. Der Komponist Jay Schwartz hört Musica Insabbiata im Frühling 2019 als Jurymitglied für die Studienaufenthalte in der Villa Massimo in Rom, auf die Schabert sich bewirbt. Viele der etwa 65 eingereichten Stücke klingen in Schwartzs Ohren ähnlich, aber Schaberts Musik sticht aus der Masse heraus. »Ich hörte etwas sehr Kahles«, erzählt er mir. »Die Musik ist nackt, ohne die für Neue Musik typische Verzierung und Überorchestrierung. Sie ist teilweise rau, wie Xenakis, und teilweise, wie Galina Ustvolskaya, irgendwie mutig entblößt.« In ihrer Bewerbung gibt Schabert zu, dass sie keine junge Komponistin sei, und das Geld vom Stipendium nicht brauche. Stattdessen suche sie den Kontakt zu anderen Künstler*innen. »Das hat mich sehr berührt«, sagt Schwartz.

KeinOrt für Stimme und Schlagzeug (2019); Rita Huber-Süß (Stimme), Manfred Rohrer (Schlagzeug)

In Schaberts Liederzyklus KeinOrt für Stimme und Schlagzeug (2019) vernimmt man prähistorisch wirkende Klagen über die Zeit, »die uns wegläuft«. »Nirgends kein Ort, kein Raum«, die Sängerin spricht und singt. Um die Zeit, die sie hat, zu nutzen, lernt Schabert, pragmatisch zu arbeiten. »Ich ackere 24 Stunden. Ich brauche kein Klavier. Wenn ich aus allem raus bin, dann brauche ich nur den Vormittag zu sitzen, und es bröselt«, sagt sie. Zum ersten Mal hat Schabert sich jetzt ein Leben eingerichtet, in dem sie sich auf die eigene Kunst konzentrieren kann. Seit 2017 ist sie in Rente. In Steinbach bei Baden-Baden baut sie mit ihrem Lebensgefährten ihr Haus um, um im Gartengeschoss mit Blick auf die Natur komponieren zu können. »Dann werde ich meinen Raum haben,« sagt sie. Sie möchte von nun an »systematisch über Komponieren und die eigenen Werke nachdenken.« Ein Italienaufenthalt, der auch Komponist*innen wie Hector Berlioz, Claude Debussy, Wolfgang Rihm und Ashley Fure prägte, steht für Schabert  2020 an – ein bisschen später als bei den Kolleg*innen. »Es ist ein neuer Start.« ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.