Über Jan Bosses und Ádám Fischers Don Giovanni in Hamburg.

Text · Fotos © Brinkhoff-Moegenburg · Datum 23.10.2019

Ádám Fischer ist schuld. Im Verlauf des VAN-Gesprächs vom vergangenen Dezember hatte er mir von seiner Freude darüber erzählt, dass er zum ersten Mal eine Oper in der Stadt dirigieren würde, in der er seit langem lebt. Ein Don Giovanni in Hamburg. Vom dafür vorgesehenen Regisseur Jan Bosse hatte ich vorzeiten – in den Hauptrollen Edgar Selge und Joachim Meyerhoff – im Schauspielhaus einen recht unterhaltsamen Faust gesehen. Also Karten bestellt und hin.

Während der Ouvertüre klettert jemand, man weiß nicht wie, gefühlt nackt den geschlossenen Vorhang hinauf. Interessant. Ádám Fischer im Vordergrund des halb hochgefahrenen Orchestergrabens bringt sich im für lange Zeit vergeblichen Bemühen, die Hamburger Philharmoniker auf die ihm vorschwebende Betriebstemperatur zu bringen, halb um. Man hört schon in den Synkopen des Beginns: ein kompetentes Mozartdirigat mit einem Orchester, das Mozart offenbar entwöhnt ist (es kommt erst gegen Ende in Fahrt; erst im zweiten Finale tobt es sich elastisch scharfkantig und farbenfroh in Mozarts Mollvorhölle aus). Leporello mit der Auftrittsarie wartet in einem zeitlosen Torso von Trümmerbühnenbild auf seinen Herrn. In mürben Mauern öffnen und schließen sich Fenster im ersten Stock über ihm. Der Diener trägt etwas zu neue Allzwecksportklamotten. Sein Bariton (Kyle Ketelsen) beweglich und voll. Gesungen wird an diesem Abend von durchweg jungen Leuten durchweg großartig. Der Titelheld (Andrè Schuen) ein langhaarig durchtrainierter Bursche, dem man die Upperclass-Chuzpe des lasziven Edelmanns spielend abkauft. So weit so mehr als gut. Aber der Rest?

Die quasinackte Kletterfigur des Anfangs stellt sich als Zutat des Regisseurs heraus: Ein das Geschehen begleitender Amor oder Cupido (eine stumme Rolle, sehr sprechend und gelenkig: Anne Müller vom Schauspielhaus). Außer dass diese Figur mehrmals das Outfit wechselt, entwickelt sie sich nicht; sie tritt auch sonst in keiner Weise in erhellende Beziehung zu Handlung und Protagonisten. Eine vielleicht hübsche Idee. Wie aber eigentlich alles in dieser Inszenierung auf eine Weise nicht zu Ende gedacht, die an der Idee der Inszenierung erste Zweifel weckt.

Dass der nackte Amor am Anfang den Vorhang erklettern konnte: Resultat des in diesem Fall trickreichen Einsatzes von Videoprojektionen. Für ein seit gefühlt Jahrzehnten die Gedanken- und Herzensleere der marktradikalen Welt als Event inszenierendes Regietheater geht es offenbar nicht ohne Video. Schlimmer als die blanke Einfallslosigkeit solcher Gestaltungsmittel ist ihre die Musik tötende Wirkung. Die Sänger, im sperrig nichtssagenden Bühnenbild Stéphane Laimés ohnehin in die Enge gezwängt, haben sich die Aufmerksamkeit des Publikums mit naturalistisch platten Riesenprojektionen zu teilen, als gäbe es Bilder, Poesie und Atmosphäre nicht übergenug in Mozarts Musik. Kommt hinzu: die voyeuristische Aufdringlichkeit der Videokamera nimmt wiederholt Wänden und geschlossenen Türen die segensreiche Eigenschaft, das, was man hinter ihnen nicht mehr sieht, kreativ weiterzudenken oder in Form der dramaturgischen Spannung offener Fragen abzuspeichern.

Mehr als alles andere aber legen die Kostüme den Gedanken nahe, der Regisseur Bosse habe wie seine bildnerischen Helfer inszenierend nicht die Spur einer Idee von diesem Solitär musiktheatralischer Weltliteratur gehabt. Das Programmheft-Interview mit Bosse ist, kaum dass es nach drei Allerweltsantworten losgehen könnte, schon am Ende. Der einige Seiten weiter für die Musikanalyse zuständige Kollege nimmt allein die Introduktion ins Visier. Klar, er verortet dort die aus seiner Sicht »unmissverständlich« bis ins Finale durchgehaltenen »Kerngedanken« des Don Giovanni: »Himmel und Hölle, Lust und Frust, Eros und Tod«. Heilige Romantik! Seit E.T.A. Hoffmann und Kierkegaard weigert sich das Bürgertum, seine in Genies wie Mozart, Goethe, Goya gipfelnde, freilich nach ihnen zumindest im Bereich der Kultur nicht mehr übertroffene Geschichte zur Kenntnis zu nehmen.

Der Don Giovanni entstand zwei Jahre vor dem Sturm auf die Bastille. Die Luft, in der der Bürger Mozart am Don Giovanni schrieb, war voller revolutionärer, das heißt, auf Systemwechsel zielender Gedanken; der zu der Zeit siebzehnjährige Beethoven in Bonn wurde sie bis an sein Lebensende nicht mehr los. Anders als Beethoven konnte und mochte Mozart allerdings keine Gedanken komponieren. Wie viele Große seit Homer und Shakespeare bringt er sie in die künstlerische Form atemberaubender Stories. In seiner Musik geben sich, ohne an der Theaterwirkung individueller Dramatik, Süße oder Abgründigkeit zu verlieren, Himmel und Hölle, Lust und Frust, Eros und Tod als ins Geschichtliche geweitete Allegorien epochaler Veränderung zu erkennen. Im hedonistisch asozialen Schicksal des Titelhelden vollzieht sich der von Mozart selbst zeitlebens unmittelbar miterlebte Untergang der Aristokratie als der herrschenden Klasse seiner Zeit.

Eine nicht unbegründete These. Wer sich statt der Musik der Introduktion der des ersten Finales zuwendet, erkennt das genaue Kalkül, mit dem Mozart die egoistisch schillernde Lebensfreude seines Titelhelden mit sozialem Inhalt füllt. Die drei Orchester, sie standen in Hamburg recht verloren auf der Bühne, spielen der Feudalgesellschaft ihre eigene Melodie vor: Als Menuett der Oberschicht; als »Teutscher« (mit Instrumentalminimum Geige und Kontrabass) des anwesenden Bauernvolks; als Kontertanz der Mesalliance aus Don Giovanni und Zerlina.

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Die in Bosses Inszenierung ab der Hälfte nur noch sich stetig bedeutungsleer um sich selbst drehende Bühne, unmotiviert und störend dekoriert per Lichteffekten, Trockeneisnebeln und Videobildern, dreht sich im Programmheft weiter. Dort nimmt »die Titelfigur […] den Glauben an eine umfassende Utopie und damit an das Ideal eines von seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreiten Menschen mit sich in die Hölle«. Au weia. Mozart und da Ponte waren Kinder Voltaires, der Enzyklopädisten, Rousseaus. Von Kant konnten sie noch nichts wissen; dessen Stunde schlug wenig später zu Beethovens Zeit. Und dass der lustbesessene Herrenmensch, das Feudalmonster Don Giovanni am Ende die originär und zutiefst bürgerliche Utopie der Aufklärung mit sich in die Adelshölle genommen hätte – einfach lächerlich. Mozart kannte die Dialektik, die er da beschwor persönlich. Der Kombination Despotie/Aufklärung war er im Auftraggeber des Figaro begegnet, in seinem Förderer, dem Kaiser Joseph II. Der ahnte, was seiner Klasse schwante. Nur kam sein Versuch einer proto-sozialdemokratischen Abfederung feudaler Ausbeutung zu spät.

So mag man zweihundert Jahre später Don Giovannis radikalen Subjektivismus als Vorwegnahme Nietzsches, des Existentialismus oder welcher Spätfolge Kants auch immer sehen, eine »moderne« Figur, keine Frage. In diesem Werk Mozarts aber ist er die Individualmarotte des Mitglieds einer Klasse, die, wie Don Giovanni in seiner ganzen Oper, komplett ausgespielt hat. Er lässt eine »Liberta« hochleben, die in der Wahrheit seiner Klasse persönlicher Libertinage gilt. Sie wird aber, weil das 1787 schwer in der Luft liegt, vom Bauernvolk auf seiner Party wie vom Publikum der Mozartzeit längst als »Liberté« verstanden und bejubelt, Teil der berühmten Parolen-Trias der kommenden Revolution, eine bis heute unerfüllte Utopie des Bürgertums.

»Der Don Giovanni entstand zwei Jahre vor dem Sturm auf die Bastille.« Das hört Stefan Siegert in der @staatsoperHH aber nicht. Was er noch vermisst in @vanmusik.

Nichts von alledem im Hamburger Don Giovanni. Da läuft die Unterklasse – in da Pontes Libretto wie in Mozarts Musik sozial scharf abgegrenzt – prollig gestylt herum, die Bauern wie in der Volksausgabe des Wiener Opernballs. Irgendwann ziehen sich alle Silberflitter über, das glitzert so schön. Der Plunder nimmt kein Ende. Ein Glück, dass die Musik, zumal Ádám Fischer sich gegen Ende immer besser durchsetzt, sogar so etwas aushält, ohne wirklich Schaden zu nehmen. Ah, dov’è il perfido? Die Scena ultima fehlt. Das wird heute meist anders gehalten. In Bosses Konzept macht es endlich einmal Sinn. Denn wie sich die Rest-Oberschicht in Gestalt der zwei Frauen und des unermüdlich angepassten Ottavio still verkrümelt statt hochdramatisch zur Hölle zu fahren; während Leporello – auch das sozialpsychologisch genau beobachtet – im Wirtshaus einen neuen Herren und damit die alte Knechtschaft sucht und das Bauernpaar erst einmal nach Haus geht, um es sich gemütlich zu machen, einzig Zerlina und Masetto haben Zukunft in dieser Oper – das alles interessiert Jan Bosse nicht. Es ging schließlich irgendwie am Ende doch unheimlich krass nur um Eros und Tod, Himmel und Hölle, Lust und Frust oder umgekehrt oder wie oder was? ¶