Jasper Parrott hat vor 50 Jahren die Künstleragentur HarrisonParrott mitgegründet. Ein Interview.
Bei der Künstleragentur HarrisonParrott arbeiten 72 Beschäftigte für über 200 klassische Musiker*innen – sie ist damit sowas wie ein Riese in ihrem kleinen, aber hart umkämpften Feld. Am 6. Oktober feierte das Unternehmen seinen 50. Geburtstag, kurze Zeit später verschlägt es einen der Gründer, Jasper Parrott, beruflich nach Berlin. Wir treffen uns in seinem Hotel nahe der Philharmonie zum Frühstück.
VAN: Wie entwickelt man als Agentur ein Gespür dafür, welche Künstler*innen gerne gebucht werden?
Jasper Parrott: Das ist ein ständiger Dialog auf allen möglichen Ebenen. Unsere Manager*innen tauschen sich die ganze Zeit untereinander aus, ich denke, das funktioniert sehr gut. Mehr oder weniger alle Gespräche mit Veranstaltern werden protokolliert und allen Mitarbeiter*innen zugänglich gemacht. So füttern wir uns gegenseitig mit Informationen.
Nehmen Sie auch Künstler*innen auf, die überhaupt keine Art von Management haben?
Immer. Gerade die jungen Künstler*innen sind, wenn Sie zu uns kommen, was das angeht ziemlich jungfräulich, wenn man das so ausdrücken will. [lacht]
Wie finden Sie denn solche Menschen? Wie entwickelt man ein Gespür dafür, wer erfolgreich wird und wer nicht?
Durch Netzwerke und indem man unglaublich viele Künstler*innen live erlebt. Meine Kinder sind alle erwachsen, deswegen bin ich quasi immer auf Reisen. Letztes Jahr habe ich 140 Performances gesehen. Ich höre ziemlich viele neue Künstler*innen. Wir haben auch ein Recherche-Team – das arbeitet nicht nach einer festen Struktur, kommt aber regelmäßig zusammen. Wir sprechen über neue Ideen; Dinge, die uns beeindruckt haben; Künstler*innen, die uns aufgefallen sind.
Dann versuchen wir, diese Künstler*innen anzuhören, sie zu treffen, sie persönlich kennenzulernen. Im Kern ist das, was wir machen, eine Mischung aus der Beobachtung von Karrierewegen, Empfehlungen von anderen und dem, was uns unsere Intuition zu jungen Künstler*innen sagt.
Wann sagt Ihre Intuition denn ja zu einer jungen Künstlerin oder einem jungen Künstler?
Als erstes ist da die Performance selbst: Ist sie, sowohl was die Qualität als auch die Vorbereitung angeht, vortrefflich? Außerdem gibt es dieses Individuelle, eine Stimme, der man anhört, dass aus ihr ein junger, aber sehr talentierter Geist spricht.
Der Berliner Agent Karsten Witt hat in einem VAN-Interview gesagt, er vertrete niemanden unter 25 Jahren. Gibt es bei Ihnen ein Mindestalter?
Nein.
Sie vertreten auch ›Wunderkinder‹?
Wir haben tatsächlich gerade eine der jüngsten Künstler*innen in unserer Geschichte unter Vertrag genommen. Sie ist Geigerin, nächsten Monat wird sie 13. Ich habe sie ganz zufällig kennengelernt über den Tipp einer Person, deren Ratschlägen ich traue. Bei einem gemeinsamen Abendessen erzählte sie plötzlich ganz aufgeregt von dieser jungen Geigerin, die sie gehört und dann auch kennengelernt hatte und von der sie sofort sehr beeindruckt war, sowohl wegen ihres musikalischen Talents als auch wegen ihres Charakters.
Dann lernte ich die Geigerin selbst kennen, traf sie und ihre Eltern, verbrachte etwas Zeit mit ihnen, begleitete sie zu einer Geigenstunde, traf sie weiterhin. Nach ein paar Monaten kam ich zu dem Schluss, dass dieses Mädchen wirklich für das Leben als Geigerin geboren ist. Sie genießt ihre eigene Begabung, dass sie anderen Menschen damit eine Freude machen kann, und ist trotzdem sehr auf dem Teppich geblieben, geerdet. Sie ist absolut kein Übe-Roboter, sondern sehr eigensinnig.

Denken Sie, es ist Ihre Aufgabe, diese Kinder vor der Welt da draußen zu beschützen? Oder müssen das die Eltern machen?
Manchmal muss man auf subtilem Wege den Eltern beibringen, ihre glühende Begeisterung für das Talent ihres Kindes kritisch zu reflektieren. Ich hoffe, Sie wissen, dass ich das Wort Wunderkind nicht gerne nutze. Ich mag es nicht. Ich suche nicht nach Wunderkindern, ich suche nach jungen Künstler*innen, das ist ein großer Unterschied.
Können Sie den genauer erklären?
Es geht darum, eine künstlerische Persönlichkeit zu entwickeln und das kann schon sehr früh passieren. Eine außergewöhnliche Begabung reicht nicht. Junge Musiker*innen verfügen über eine unglaubliche Feinmotorik, sie lernen schnell und vergessen wenig. Ich persönlich glaube, dass das Leben als Musikerin viele Kapitel hat – das gilt natürlich nicht nur für die jungen. Künstler*innen müssen in der Lage sein, immer wieder Neues zu entdecken und sich selbst zu schützen vor Burnouts, körperlichen Leiden oder der Ausbeutung durch das Management oder andere.
Kann man wirklich eine ›erwachsene‹ Schubert-Interpretation liefern, wenn man nie etwas wie ernsthaften Liebeskummer oder das Gefühl völliger Einsamkeit erlebt hat? Ohne solche Erfahrungen versteht man doch gar nicht wirklich, worum es in der Kunst geht.
Ich glaube nicht, dass das unbedingt so sein muss. Das kann eine Hilfe sein, aber im Endeffekt ist die Kunst auch für die Künstler*innen da, und Künstler*innen scheinen viele Lebensbedingungen und ihre Beziehung zur Welt um sie herum auf übernatürliche Weise zu verstehen, ohne sie unbedingt selbst durchlebt zu haben. Sonst müssten Künstler*innen ja eine bestimmte Palette von Erfahrungen durchgemacht haben…
Die meisten Leute haben solche Erfahrungen aber mit, sagen wir mal, 25 Jahren schon irgendwie gemacht. Aber nicht mit 13.
Ich weiß nicht, ob ich diese Einstellung teile. Gerade heute gibt es viele, die stark isoliert leben und von gerade solchen Erfahrungen ferngehalten werden – es hängt natürlich vom Hintergrund ab und woher sie kommen. Im Großen und Ganzen ist es wahrscheinlich unklug, zu denken, dass eine 13-Jährige ein besonders ausgeprägtes Gespür für die Tiefen einiger der sehr großen Werke hat, aber man muss irgendwo anfangen. Das ist wie bei Dirigent*innen. Es gibt diese Theorie, dass man alt sein muss, um Bruckner zu dirigieren. Ich halte das für kompletten Blödsinn.
Die Beziehung zwischen Künstler*in und Agent*in kann schwierig sein. Es gibt eine Tendenz, sich dabei sehr nahe zu kommen, immer wieder hört man von Agent*innen, die Künstler*innen heiraten. Wie managt man diese Beziehung? Haben Sie Richtlinien für die Agent*innen zum Umgang mit den Künstler*innen und umgekehrt?
Wir geben das nicht so stark vor. Natürlich gibt es auf Seiten des Managements gewisse Richtlinien und wir haben einen Verhaltenskodex. Es geht darum, dass sich die Künstler*innen, insbesondere die jungen, vor allem junge Frauen, sicher fühlen, damit sie verstehen, was sie von uns erwarten können und sich auch sicher sein können, was sie nicht erleben werden. Das hat für uns, denke ich, bisher sehr gut funktioniert.
Was sind das für Sachen, die sie nicht erleben sollen?
In unserem Geschäft geht es viel um Vertrauen, Ehrlichkeit, Transparenz. Es hat auch viel damit zu tun, die Künstler*innen zu schützen, innerhalb ihrer Arbeitsumgebung: sie im Auge zu behalten und sicherzustellen, dass Dritte sie angemessen behandeln. Aber man kann nicht für alles Richtlinien erlassen. Wir gehen davon aus, dass sich vieles mit einem flexibleren Ansatz besser regeln lässt als mit strikten Verboten.
Gibt es Dinge, um die Künstler*innen das Management nicht bitten dürfen? Olivia Giovetti hat in VAN beschrieben, wie ein Künstler seine Agentin darum bat, ein anderes Hotel zu buchen, damit seine Frau nicht erfährt, dass er die Nacht mit seiner Freundin verbringt.
Dazu kann ich nur soviel sagen: Meine Kolleg*innen und ich legen sehr großen Wert auf einen ethisch korrekten Umgang. Andererseits sind wir, wann immer wir es vertreten können, auf der Seite unserer Künstler*innen. Wenn jemand etwas, hinter dem wir nicht stehen, von uns will, würden wir es aber nicht tun.
Auf Ihrer Website findet man unter den Referenzen eine Orchestertour nach Südafrika, die von Avianca Airlines und BMW gesponsort wird. Was erwarten solche Partner von der Zusammenarbeit?
Ich kann Ihnen auch nicht genau sagen, welche internen Entscheidungsprozesse dafür ausschlaggebend waren. Die Idee kam von ganz oben und dann mussten Angestellte eben gute Gründe finden, um dieses Sponsoring zu rechtfertigen.
Es wird auch noch interessant werden mit Geldgebern wie zum Beispiel BP. Hier regt sich immer mehr öffentlicher Protest gegen die Finanzierung von Museen, Galerien, Orchestern …
Oder die Sackler-Familie und die Opioide …
Genau. Sollen wir von solche Unternehmen Unterstützung annehmen, die eigentlich nur ihr Image reinwaschen wollen?
Wenn BP oder Sackler mit einem sehr guten Angebot für einen Künstler oder eine Künstlerin auf Sie zukommen würden – was würden Sie tun?
Wir würden das ganz sachlich analysieren: Was wären die Folgen für die Glaubwürdigkeit und die Reputation unserer Kund*innen, seien es jetzt Künstler*innen oder Institutionen?
Ich würde sagen, dass wir heute sehr wahrscheinlich stark davon abraten würden, mit Unternehmen aus solchen problematischen Branchen zu kooperieren. Ich erlebe da gerade einen ganz grundlegenden Wandel im Umgang der Öffentlichkeit mit solchen Fragen – ein Wandel zum Guten. Die Kunstwelt halte ich aktuell für viel zu zaghaft, wenn es darum geht, selbstbewusst für bestimmte Werte einzutreten.
Ich hege eine große Sympathie für die Menschen, die mit Extinction Rebellion auf die Straße gehen und ich wünschte, ich könnte auf dem Londoner Parliament Square einen riesigen Protest mit allen Londoner Orchestern initiieren. Wir würden dann für einen halben Tag den Verkehr lahmlegen, um darauf aufmerksam zu machen, dass Musik und Kunst unentbehrlich sind. Sie sind kein Luxus, sie sind absolut notwendig für eine funktionierende Gesellschaft.
Wäre es nicht sinnvoller, wenn einfach alle Londoner Orchester aufhören würden, durch die Welt zu touren?
Nein. Ich denke, das wäre genau die zu kurz gedachte, vereinfachte Sicht, der wir oft begegnen bei allem, was mit dem Klimawandel zu tun hat – der ein ernsthaftes, auf lange Sicht angelegtes Nachdenken erfordert. Ich gebe Ihnen ein einfaches Beispiel.
Wenn wir beschließen würden, keine Bohnen mehr aus Kenia zu kaufen, weil wir es falsch finden, dass es diese riesige Menge an Bohnen von Kenia aus bis Europa transportiert werden muss, wenn dadurch dann die kenianische Landwirtschaft zusammenbricht und das eine riesige Welle der Migration lostritt, dann haben Sie wirklich ein Problem. Das Gleiche gilt für reisende Orchester.
Inwiefern?
350 Jahre lang war die symphonische Musik und die Kunst im Allgemeinen darauf angewiesen, dass ihre besten Vertreter*innen sich austauschen. Sie können wegrationalisieren und reduzieren, aber wenn kein Orchester mehr reisen darf, würde die Kunst lokal in dem Sinne, als dass es nicht mehr darum gehen würde, durch gemeinsame weltweit geteilte Werte und Ziele das Beste zu erreichen. Am Ende würde das unsere gesamte Branche zum Stillstand bringen, darüber besteht kein Zweifel.

Ich weiß, dass Übertragungen im Internet nicht der perfekte Weg sind, um großartige Kunst zugänglich zu machen. Aber man könnte argumentieren, dass der Austausch auch so schon funktionieren würde. Berlin hat so viele sehr gute Orchester. Würden wir da wirklich viel verlieren, wenn die Londoner Orchester nicht mehr herkämen?
Naja, was meinen Sie mit ›wirklich viel verlieren‹?
Als Teil des Berliner Publikums bin ich nicht sicher, ob uns wirklich etwas fehlen würde. Wenn kein lokales Orchester uns das geben kann, was wir vom London Symphony erwarten, hör ich dessen Konzerte eben online.
Das Live-Erlebnis ist online viel ärmer, weniger inspirierend. Ich selbst höre Musik sehr selten im Internet oder auf Tonträgern, weil für mich die Essenz der Erfahrung, der eigentliche Wert künstlerischer Tätigkeit, im Live-Erlebnis liegt. Je leichter dieses zugänglich ist, je nachhaltiger es gestaltet ist und je mehr die Gesellschaft an dieses Prinzip glaubt, desto besser ist sie. Davon bin ich überzeugt.
Sie sagten, es hätte schwerwiegende Folgen für die klassische Musikindustrie, wenn wir aufhörten zu touren. Welche genau?
Ein ganz aktuelles Beispiel ist der Brexit. Wenn der so schlecht läuft, wie viele von uns befürchten, wird sich das auch sehr negativ auf die britischen Orchester auswirken, wegen der Art und Weise, wie sich das Business im Laufe der Jahre entwickelt hat, und wegen des enormen Anstiegs des internationalen, durch die Freiheiten innerhalb der EU beförderten Austauschs.
Die Londoner Orchester haben ihre Reichweite und Präsenz enorm vergrößert, indem sie auf Tour gehen und ihre Musik für anderes Publikum, andere Märkte spielen. Wenn man auch nur etwas stärkere Kontrollen, Einschränkungen, bürokratische Hürden, Quoten und dergleichen einführt, geht es für die Londoner Orchester sofort ums Überleben. Wenn es mit dem Brexit so schlecht läuft, wie ich denke, werden sie ernsthafte Probleme bekommen. ¶