Als wir zum Videotelefonieren verabredet sind, ist in Malaysia schon später Abend. David Chin ist das egal. Gerade hat er noch mit der BBC gesprochen, er ist also schon aufgewärmt. Chin, Dirigent, Jahrgang 1985, sitzt zuhause in Kuala Lumpur vor dem Computer. Wie jeder gute Bachianer vermisst er Leipzig. Auf Bachs Spuren war Chin schon für einen Dokumentarfilm namens Encountering Bach unterwegs. In seinem Heimatland hat der Dirigent ein Bachfest ins Leben gerufen und viele von Johann Sebastian Bachs Werken uraufgeführt. Das Leipziger Bach-Archiv ernannte ihn wegen seiner Verdienste zum Senior Fellow ehrenhalber. Dabei war es gar nicht wahrscheinlich, dass ein Junge vom anderen Ende der Welt sein Leben einem Thomaskantor widmen würde. Wie kam es dazu?

VAN: Sie sind in Malaysia geboren und aufgewachsen. Wann haben Sie zum ersten Mal Bachs Wirkungsstätte, die Leipziger Thomaskirche gesehen?

David Chin: Das war im Jahr 2017. Ich verbrachte gerade einen Monat in Berlin und machte einen Kurs an der Uni, um mein Deutsch zu verbessern. Zufällig war gerade Bachfest. Also bin ich an einem Wochenende einfach in den Zug nach Leipzig gestiegen. Als ich das Bachdenkmal vor der Thomaskirche sah, fühlte sich alles völlig surreal an. Ich war sehr bewegt. ›Wow, ich bin endlich da‹, habe ich gedacht. Aber leider währte die Freude nicht lange.

Warum?

Ich traf einen Dirigenten, der mir viel bedeutete, dessen Aufnahmen ich sehr oft gehört habe. Wir standen voreinander, ich reichte ihm die Hand. Er schaute mich von oben bis unten an, abfällig. Er war gemein und unhöflich zu mir. Er schüttelte sie nicht. Ich bin kurz danach spontan abgereist. Es war so traurig. Nie wollte ich in diese Stadt zurückkehren.

Was hat Sie umgestimmt?

Ein Jahr später waren ein Freund und ich fertig mit unseren Doktorarbeiten. Wir wollten als Belohnung Deutschland und Österreich bereisen. Zufällig war schon wieder Bachfest! Wir sind also ohne Tickets nach Leipzig. Es war das Jahr des großen Kantatenzyklus. Im Kartenbüro sagte uns eine Dame: ›Gerade hat jemand zwei komplette Sets für den ganzen Zyklus zurückgegeben, wollen Sie die kaufen?‹ Ich bin raus, zum nächsten Geldautomaten gelaufen, habe alles Geld abgehoben und die Dinger gekauft. Zwei Tage später sitze ich in der Thomaskirche und höre Ton Koopman dirigieren. Und wiederum zufällig saß ich neben dem Intendanten des Bachfests, Michael Maul. Der hat mich einfach angesprochen. Noch am selben Abend wurde ich von ihm mit meinem Chor zum Bachfest 2020 eingeladen. Das war krass.

Wenn man von Kuala Lumpur nach Leipzig reisen will, wie lange dauert das?

Wenn man eine gute Verbindung erwischt, kann man es in 16 Stunden schaffen.

Haben Sie Bach gefunden oder hat er Sie gefunden?

Er hat mich gefunden. Wie viele andere Kinder auch habe ich Klavierunterricht bekommen. Dann bin ich zur Universität, um das Instrument zu studieren. Bach war der Komponist, den ich nie spielen wollte.

Warum nicht?

Sie erinnern sich an das Porträt von Haußmann? Er schaut so grimmig. Und dann die Perücke. Sein Auftreten hatte wenig mit meinem zu tun und ich sah auch ganz anders aus. Es gab keine Gemeinsamkeit. Er schien weit entfernt. Unser Verhältnis wurde noch schlechter, als ich seine Stücke üben sollte. Aus Angst wurde Hass. Ich fragte mich: ›Wie ist es möglich, dass ein Mensch so schwere Stücke schreibt? Sie sind so unfassbar schwer, es ist geradezu lächerlich! Nie wird man diese Stücke meistern.‹

Es klingt nach einer verfahrenen Situation mit Ihnen und Sebastian.

Dann machte ich meinen Master im Fach Dirigieren an der renommierten Eastman School of Music in Rochester in New York. Da wusste ich immer noch fast nichts. Mein Professor sagte: ›Mach doch mal ein Konzert – und spiel etwas von Bach, da brauchst du wenigstens nicht so viele Musiker für.‹ Nun, ich wollte die Gelegenheit nutzen.

Also schlugen Sie eine Partitur auf.

Genau – aber keine deutschsprachige, denn mein Deutsch war nicht gut. Latein ist einfacher, dachte ich, und entschied mich für das Magnificat. Oh boy! Danach begann es erst ganz langsam: Ich mochte den Typen irgendwie, das spürte ich.

Wie ging es dann weiter?

Nach dem Abschluss war ich auf Jobsuche. Neben meiner Wohnung in Rochester stand eine evangelische Kirche. Der Musikdirektor kam auf mich zu und meinte: ›David, wenn du einen Ort brauchst, um Konzerte auszurichten, kannst du meine Kirche haben und musst nichts zahlen.‹ Also hatte ich im Jahr 2012 meine erste Konzertreihe. Der dritte Abend war ein Bach-Abend. Ich wollte Kantaten machen. Tja, und so bin ich tief hineingefallen in diese Welt der Kantaten.

Sie haben sich in dieser Welt völlig verloren?

Nicht nur das. Ich liebte Bach ab da so sehr, es gab keine Möglichkeit mehr, jemals wieder aus seiner Welt herauszukommen oder zu wollen. Er ist so tiefgründig, tiefsinnig, reich und menschlich. Diese Liebe zu Bach führte dazu, dass ich im Jahr 2015 hier in Malaysia ein eigenes Bachfest gegründet habe.

Sie selbst sind Lutheraner. Sind Sie irgendwann Bachs wegen konvertiert?

Nein, meine Eltern sind in ihrer Jugend evangelisch geworden, ich bin als Kind sonntags auf eine kleine protestantische Schule gegangen. Malaysia ist ein multiethnisches, multireligiöses Land. Hier leben Malaien, Menschen indischer Herkunft und Chinesen wie ich. Meine Familie lebt in vierter Generation hier. Meine Muttersprache ist Chinesisch. Alle Volksgruppen bewahren sich ihre eigenen Sprachen.

Ist klassische Musik westlicher Prägung etwas, das im malaysischen Alltag vorkommt?

Vor 20 Jahren gab es noch kaum Konzerte. Jetzt gibt es junge Musiker, die, wie ich, anderswo studiert haben und hochqualifiziert sind. Aber: Selbst ich, mit meinen ganzen Abschlüssen, habe hier keinen festen Job. Vollzeitdirigenten gibt es quasi nicht. Wir haben einige wenige Sinfonieorchester.

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Wie gelingt es Ihnen dann überhaupt, Konzerte zu organisieren, wenn die Aufmerksamkeit und das Publikum noch nicht so groß sind?

Es ist hart. Manchmal finden wir keinen geeigneten Saal. Dann müssen wir eine Halle, die nicht für die Musik gebaut worden ist, umfunktionieren. Das kostet Geld: Man braucht Stühle, ein Soundsystem und so weiter. Es geht in meinem Alltag ständig um Geld. Darum, dass es nicht da ist, darum, dass ich irgendwo irgendwelche Spenden auftreiben muss. Es ist extrem nervenaufreibend. Malaysia ist auf einem guten Weg, aber alles geht so langsam voran.

Obwohl die Situation so schwierig ist, haben Sie in Ihrem Heimatland einige Werke Bachs uraufgeführt.

Fast alle Bach-Konzerte, die ich hier gegeben habe, waren Uraufführungen, darunter die Johannespassion 2015. Vier Jahre später haben wir hier eine Matthäuspassion gemacht. Zwei Passionskonzerte machten wir in Kuala Lumpur und eines in einer kleinen Stadt, zwei Autostunden entfernt. Dort war ein neuer Saal gebaut worden. Die Menschen da sind einfache Leute, sie arbeiten und sie gehen um 9 ins Bett. Ich dachte: ›Was wollen wir da mit der Matthäuspassion, um Himmels Willen? Die haben noch nie klassische Musik gehört!‹ Ich sollte mich täuschen. Wir haben 800 Plätze verkauft – den ganzen Saal. Das lag natürlich nicht an Bach, das lag an dem ungewöhnlichen Event. Um halb acht fingen wir an. Zu meinen Musikern sagte ich: In der Pause geht die Hälfte.

Klingt nach einer einleuchtenden Prognose.

Keiner verließ den Saal. Nach dem Schlusschor schaute ich auf die Uhr: halb elf, längst Schlafenszeit für die Kleinstädter. Fünf Mal musste ich wieder auf die Bühne! Alle standen.

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Wenn man bedenkt, dass Bachs Musik für säkularisierte Deutsche schon etwas ungewohnt klingt, ist das ein beeindruckendes Ergebnis, dass sich Ihr Publikum offenbar komplett auf Sie eingelassen hat.

Das Beste kommt noch: Tags drauf schickt mir ein Kollege einen Facebook-Post eines Besuchers. Der Mann  – ein Buddhist, der sicher nie zuvor klassische Musik gehört hatte – schrieb: ›Habe die Matthäuspassion zum ersten Mal gehört. Ich habe mein ganzes Leben lang das Leiden Christi unterschätzt. Wie Christus betrogen wurde, das geht mir so nahe, das erinnert mich an mein eigenes Leben.‹ Und das von einem Buddhisten! 300 Jahre nach Bach! In einer Kleinstadt in Malaysia!

Einige würden argumentieren, dass Bach so eine Art Vertreter des Kolonialismus ist und es schwierig ist, ihn in Ländern aufzuführen, für die der westliche Kolonialismus verheerend war.

Für mich ist Bach kein white guy oder Kolonialist. Wenn ich als Asiate ohne einen Tropfen deutsches Blut in mir seine Werke studiere, dann sprechen sie direkt zu mir. Zu David Chin. Das geht mir vor allem so, wenn ich schlecht drauf bin. Manchmal weine ich, wenn ich eine Bachkantate lese. Leipzig ist jetzt zu einem Wallfahrtsort für Bachfans geworden, aber er selbst war dort nicht glücklich. Seine Arbeitgeber nervten ihn, die Umstände, er hat so viele Kinder verloren. Leipzig wollte er entfliehen.

Die Schwierigkeiten, die Bach in seiner Lebensgestaltung hatte, inspirieren Sie?

Wenn er, obwohl es ihm schlecht ging, Kantaten schreiben konnte, kann ich ja wohl auch weitermachen. 300 Jahre nach Bach sitze ich hier in einem muslimischen Land und versuche, den Leuten seine Musik näher zu bringen. Das ist eine fast unmögliche Mission. Aber ich weiß, es ist gut und nützlich, dass ich es tue. Verglichen mit Bach bin ich ein Nichts. Säße er hier, würde er sagen: ›David, was betrübst du dich, du hast eine Klimaanlage, du hast Google. Ich hatte nur Kerzen.‹

Für mich ist die höchste Qualität Bachscher Musik ihre Fähigkeit, Menschen zu trösten. Ich frage mich immer, wie diese Musik das schafft. Liegt es daran, dass sie am schönsten klingt, wenn Bach menschliches Elend darstellt?

Ganz sicher ist das so. Social Media gaukelt uns vor, dass das Wichtigste im Leben sei, dass man glücklich ist. Ich stelle das infrage. Glück ist schön. Aber ist das unser eigentliches Ziel? Ich selbst stehe an einer Wegkreuzung. Mache ich weiter hier? Viele Menschen können das tun, was sie sich wünschen. Aber manche sind auch irgendwie berufen, etwas zu tun, das sie vielleicht nicht so sehr wollen, das aber für sie vorgesehen ist. So eine Art Berufung habe ich gespürt, als ich das Bachfest Malaysia gegründet habe. Aber es ist verdammt hart.

Haben Sie mal daran gedacht, die Sache hier in Malaysia hinzuschmeißen?

Freunde von mir posten Fotos, wie sie in Singapur oder Deutschland Konzerte geben – dann werden sie bezahlt und gut ist. Du singst und dann bist du fertig. Und ich sitze hier und überlege, wo ich noch den letzten Euro herkriegen kann, um wieder ein Bachfest zelebrieren zu können. Aber ich will doch Musik machen! Als ich in Rochester studierte, waren meine Eltern schon bankrott. Ich habe, was ultra selten ist, ein komplettes Stipendium für Eastman bekommen. Das war Zufall oder eine Gnade Gottes. Und irgendwie endete ich auch in der Thomaskirche und traf auf Michael Maul. Mittlerweile habe ich sein Bach-Buch ins Chinesische übersetzt. Diese Gelegenheiten begreife ich als Verpflichtung, weiterzumachen. Aber sie sind auch alle einfach so vom Himmel gefallen.

Daniel Barenboim hat einmal gesagt: ›Das Wunder geschieht nicht, ohne dass man es sucht‹, und Sie haben ja gesucht.

Ich versuche zu akzeptieren, dass ich im Moment eben hier lebe und eine Mission habe. Ich bin ein Brückenbauer zwischen Ost und West. Wo sollte ich auch hin. China? Sicher nicht. Ich liebe chinesische Kultur, aber nicht die Kommunisten. Neulich bekam ich eine Einladung aus China. In China will man jetzt sogar ein eigenes Bachfest machen. Kann man sich das vorstellen? Meine letzten Honorare habe ich im November bekommen. Seitdem: nichts. Bei einem Konzert im März haben wir Miese gemacht. Und für das nächste Konzert muss ich gerade irgendwo 20.000 Euro herkriegen.

Könnten Sie sich vorstellen, fest in Deutschland zu arbeiten?

Natürlich, das wäre wunderbar. Bach ist in der DNA der Deutschen. Also ja, klar würde ich in Deutschland arbeiten. Aber ich bin eben nicht Lang Lang. Bin nicht berühmt.

Wenn Sie in Malaysia eine Bachkantate dirigieren, spielen größtenteils Muslime oder Buddhisten die Instrumente. Wie erleben sie diese Musik?

Die Sänger sind meistens Christen. Bei den Instrumentalisten spielen viele Nichtchristen mit. Michael Maul hat uns letztes Jahr besucht. Er fasste zusammen: Die Menschen hier sind viel mehr mit der Musik verbunden, glauben an die Botschaft. Im Westen hingegen gehen die Leute halt nur ins Konzert. Ich übersetze immer ein paar Choräle für das Programmheft ins Chinesische.

Sind Muslime im Publikum?

Kaum. Sie leben sehr innerhalb ihrer Gemeinschaft. Da würde fast keiner kommen, weil Bach eben christliche Musik ist. Im Osten von Malaysia ist man offener. Dort singen Muslime Weihnachtslieder mit den Christen oder wir Christen kommen zum Fastenbrechen im Ramadan. Wir bewegen uns auf eine offenere Gesellschaft zu, aber sind doch stark muslimisch geprägt. Ich habe hier die lauteste Moschee Ostasiens gegenüber meiner Wohnung. Ich höre den Gebetsruf fünf Mal pro Tag. Letztes Jahr hatten wir bei einer Kantate eine muslimische Sängerin. Sie bedeckte ihr Haar auf muslimische Art, während sie sang. Sie wollte es so. Einmal ging ein Bassist mit uns auf Tour, Matthäuspassion. Er sagte: ›Klar spiele ich mit euch, aber bitte druckt meinen Namen nicht ins Programm.‹

Gibt es etwas, das Malaysia der langen Aufführungsgeschichte von Bachs Musik hinzufügt, das zuvor nicht da war?

Das multikulturelle Element. Darüber hinaus: Alles wird wörtlich genommen. Wir haben hier kein traditionelles Brauchtum à la: Oh, es ist Passionszeit, wir sollten mal wieder eine Bachpassion hören. Es gibt hier ja nicht mal Ostern!

Was sind Ihre drei Lieblingsstücke von Bach?

Matthäuspassion. H-Moll-Messe – weil alle Stile von Bach in ihr drin sind. Und drittens: die Goldberg-Variationen.

Was sind Ihre drei Lieblingsrestaurants in Leipzig?

Café Grundmann. Die besten Schnitzel der ganzen Welt. Auf Platz zwei: Café Maître. Und Platz drei: Corso. Sie haben den besten Stollen. 

Was Ihre Essensvorlieben angeht, so hören Sie sich manchmal ein klein wenig europäisiert an.

Ja, ich liebe westliches Essen. Aber den Westen an sich vergöttere ich sicher nicht. Ich habe aber andererseits auch nichts gegen westliche Komponisten.

Es gibt in Deutschland Bestrebungen, mehr Komponistinnen aufzuführen.

In den USA gilt es als kolonialistisch, tote weiße Komponisten aufzuführen. Das ist verrückt. Sicher, wir brauchen mehr Konzerte mit schwarzen, schwulen oder weiblichen Komponisten. Aber Bach wegen seiner Herkunft nicht mehr aufführen zu wollen, das ist rassistisch. Seine Musik ist historisch, ist das Resultat eines zivilisatorischen Prozesses. In der Geschichte gibt es keinen anderen Menschen, der so komplexe und mehrdimensionale Musik geschrieben hat. Wir feiern die menschliche Kultur in ihm. Nein, wir feiern keinen Deutschen oder Europäer, sondern einen Menschen. Wenn man seiner Musik gegenüber intolerant ist, benimmt man sich doch genauso wie diejenigen, gegen die man zu kämpfen vorgibt. Es ist wie eine neue Religion, nur ohne Christus. Das ist schlimm.

Gibt es einen anderen Komponisten, den Sie ähnlich lieben wie Bach?

Nicht ganz auf einer Stufe, aber: Mahler. Brahms. Nicht Wagner. Ich bin kein Wagner-Boy. Aber klar, ich dirigiere auch viele andere, nicht nur Johann Sebastian

Werden Sie jemals fertig sein mit Johann Sebastian?

Niemals. ¶

... arbeitet als Redakteurin bei der Religionsbeilage der ZEIT, Christ & Welt. Ausgebildet wurde sie an der Henri-Nannen-Schule. Falls es mit dem Geigenspiel nicht klappt, möchte sie auf Oboe umsteigen.