Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


Verleih Uns Frieden Gnädiglich

Hille Perl, Anna Maria Friman, Lee Santana,
The Sirius Viols; Deutsche Harmonia Mundi, 2011

Es ist so weit. Alle Jahre wieder. Wer dem »Jingle-Bells-Terrorismus der Einkaufsstraßen« (Hille Perl) entfliehen möchte, dem sei diese innige und berührende Weihnachts-CD der anderen Art empfohlen. Statt auf Hochglanz glatt (und platt) polierte Trompetenvirtuosität und Jauchzet-Frohlocket-Chören hört man uralte Melodien, die uns an den Kern des Festes erinnern: Das Licht am Ende der dunkelsten Zeit des Jahres, die Geburt des (eines) Kindes als ewiges Symbol für Neubeginn und Hoffnung. Gesungen und gespielt von einer schwedischen Sängerin und einem weiblichen Gambenconsort um Hille Perl, eine der bekanntesten Alte-Musik-Spezialistinnen Deutschlands. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem aus Kalifornien stammenden Lautenisten und Komponisten Lee Santana, hat sie völlig unbekannte Versionen von Liedern wie Es ist ein Ros entsprungen oder Ich steh an deiner Krippen hier gefunden, zum Teil drei verschiedene des gleichen Liedes. Alle Kompositionen stammen aus der späten Renaissance und dem frühen Barock, einer Zeit, als die winterliche Sonnenwende zurück zum Licht und die Geburt des Jesuskindes noch eine völlig andere und tiefere Bedeutung hatten. Nicht zufällig spielt deshalb die friedensstiftende Botschaft der Weihnachtsgeschichte immer wieder eine zentrale Rolle. Was könnte aktueller sein.

Hille Perl schreibt in ihrem erstaunlich persönlich-politischen Booklet-Text über die ständige Beschleunigung und Überkomplexität unserer Welt, soziale Kälte, Bedrohungen und Unsicherheiten des Lebens. Und als Gegenpol dazu über unsere Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Freundschaften, Familie und Ritualen. Nach dem Hören dieser wunderbar friedlich-sehnsüchtigen Musik und der Lektüre ihres Textes ist man jedenfalls sehr gut auf Weihnachten vorbereitet – übrigens egal, ob und wie man in der christlichen Tradition verwurzelt ist. So ist die CD auch mit »unser aller Herzblut« jenen gewidmet, die ein »friedliches Weihnachten/Chanukka/Solstice/Zuckerfest oder was auch sonst feiern mögen«.

Sie stand ehrlich gesagt nicht seit Jahren in meinem CD-Regal. Auf der Suche nach einer ganz besonderen Weihnachts-CD (die ich nicht hatte) habe ich befreundete Musiker befragt – so auch Hille. Sie hat mir auf Nachfrage verraten, dass diese Aufnahme die einzige ist, die sie sich selber jedes Jahr wieder anhört. Als ich dann noch im Booklet gelesen habe, dass die CD in einer kleinen alten Kirche in Norddeutschland produziert wurde (der St. Georgs-Kirche in Sengwarden, Anm. d. Red.), in der ich meine ersten Konzerte (auch manchmal mit Hille) gespielt und veranstaltet habe, war es um mich geschehen. Diese alten friesischen Kirchen haben einen ganz besonderen Zauber. Neben dem Westportal haben alle ein inzwischen längst zugemauertes großes Tor, durch das in Notzeiten Menschen, Vieh und Wagen in die Kirche gebracht wurden. Notzeiten waren Angriffe von feindseligen Nachbarn, die Küstenorte plündernde Piraten oder regelmäßig lebensbedrohende Sturmfluten, gegen die diese Kirchen auf Warfen erbaut wurden – künstlich aufgeschüttete Hügel als einziger Schutz gegen die wilde See, lange bevor man anfing, Deiche zu bauen. »Unsere« Kirche wird bei Konzerten von den alten Messingleuchtern mit Kerzen illuminiert. Dazu jault im Winter der Sturm um die Kirche und der Dachstuhl ächzt gelegentlich im Wind. Eine Trutzburg der Menschen gegen alle Widrigkeiten des Lebens. Dieses Bild ist leider nur in meinem Kopf – aber es gehört für mich zu dieser Musik der Wärme und Friedenswünsche dazu. ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.