Camilla Nylund, im finnischen Vaasa geboren, ist eine der herausragenden Interpretinnen lyrisch-dramatischer Sopranpartien. Sie teilt sich ihren Geburtstag mit dem von ihr viel gesungenen Richard Strauss, im Abstand von 104 Jahren, und gibt am 5. März in Zürich ihr Debüt als Brünnhilde in Richard Wagners Siegfried. Ein ganz anderes Debüt galt vor wenigen Wochen der Katerina in Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk an der Oper Hamburg. Zwischen zwei Auftritten dort sprachen wir über die Aktualität dieser beiden Rollen, den Weg von Vaasa in die Welt und fragwürdige Trends bei Sängerbesetzungen.    

VAN: Sie bewegen sich zur Zeit zwischen zwei extremen und sehr unterschiedlichen Rollendebüts, Katerina in Hamburg und Brünnhilde in Zürich. Zwischen den Premieren liegen nur sechs Wochen. Ist das nicht Wahnsinn?

Camilla Nylund: Das war natürlich ein Wahnsinn, gleich nach der Premiere in Hamburg mit Brünnhilde in Zürich anzufangen, und deren Partie habe ich gelernt, während ich Proben mit Katerina hatte. Aber es ging halt nicht anders. Mein Mann fragte mich: ›Musst du das unbedingt machen?‹ Er ist selbst Sänger. Die Rolle der Katerina hat mich irrsinnig gereizt! Und Siegfried stand vorher fest, ich habe die Brünnhilde ja schon in der Walküre in Zürich gesungen. Beides passt auch stimmlich gut in meine Entwicklung. Und alle waren sehr geduldig mit mir…

Katerina, die Lady Macbeth, ist eine lebenshungrige Ehefrau, die zur Mörderin wird. Sie tötet ihren Schwiegervater mit Rattengift, sie unterstützt ihren Geliebten beim Mord an ihrem Ehemann und reißt eine Nebenbuhlerin mit in den Suizid. Aber in der Musik von Schostakowitsch scheint sie die einzige wahrhaftige Person zu sein, auch so, wie Sie sie darstellen.

Ja, sie ist die einzige mit wahren Gefühlen und kann die auch äußern. Sie ist überhaupt kein Monster. Es sind die Umstände, die sie zur Mörderin machen. Wenn man in so einer schrecklichen Umgebung lebt… Es ist ein total aktuelles Stück, denn die Situation, der Machtanspruch von Männern, hat sich für viele Frauen überhaupt nicht verändert. Wer weiß, wann das aufhört. Darum ist es für mich toll, dass es eine russische Regisseurin ist und eine Frau, die hat einen anderen Blick. Angelina Nikonova hat sicher auch Sachen in diese Produktion hineinbekommen, die jemand, der nicht Russe ist, nicht wissen kann.

Der grauenhafte Schwiegervater sitzt zuerst an einer Art Konferenztisch, einsam am Kopfende, wie ein autokratischer Regierungschef. Das kann einen auf Gedanken bringen.

Ich mache mir die ganze Zeit Gedanken… zum Beispiel, dass Katerina an ihrem vertikalen Bett steht wie eine Gekreuzigte. Jede Vorstellung ist anders! Aber die Musik ist sehr schwierig, mit diesen Taktwechseln, da muss man unglaublich aufpassen. Die Musik muss mit dem, was auf der Bühne passiert, immer Hand in Hand gehen. Und es muss stimmlich glaubhaft sein.

Die Katerina ist total glaubhaft. Ich habe mich vorher gefragt, wie das geht – eine Frau, die wohl eher unter dreißig ist, dargestellt von einer über vierzig…

Das kann man wohl sagen!

…und ich habe dann in keiner Sekunde mehr über das Alter nachgedacht.

Bei manchen Besetzungen frage ich mich: Ist das ein guter Sänger, oder ist nur wichtig, wie der aussieht? Ich habe in den letzten Jahren das Gefühl, man will lieber das perfekte Bild haben. Es gibt sogar Häuser, die gucken bei jungen Sängern, wieviele Follower die in den sozialen Netzwerken haben, ehe sie sie engagieren. Was hat das zu tun mit dem, was auf der Bühne geschieht?

Wie kamen Sie selbst zum Singen und zur Bühne? In Finnland gibt es ja nicht so viele Opernhäuser.

Finnland hat gemessen an der Zahl der Einwohner die meisten Berufsorchester überhaupt. Das nächste Orchester war in meiner Kindheit nur zwölf Kilometer von unserem Dorf Kvevlax entfernt. Und Musikschulen wurden vom Staat unterstützt, jeder konnte sich das leisten, es gab auch eine im Dorf. Gesungen habe ich immer, auch als kleines Kind, auch weil bei uns zuhause viel gesungen wurde. Aber meine Eltern kamen nicht aus der klassischen Musik.

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Meine Mutter hat angefangen als Krankenschwester, später war sie Hebamme, mein Vater war Techniker, sein ganzes Berufsleben lang in Vaasa. Ich habe als Kind eine Blockflöte bekommen und mit zwölf ein Klavier, und habe in Chören gesungen. Ich wollte überall dabei sein! Mit vierzehn hatte ich Gesangsunterricht. Dann gab es am Gymnasium einen Musiklehrer, der sehr aktiv war. Er hat Jesus Christ Superstar auf die Beine gestellt, alles mit Kräften der Schulen, und ich durfte mit fünfzehn die Maria Magdalena singen. Ein unglaubliches Erlebnis mit Kostüm und Maske und Orchester. So ein Riesenerfolg, Schüler aus dem ganzen schwedisch sprechenden Teil von Finnland sind gekommen!

Sie haben Webbers Musical auf Schwedisch gesungen?

Ja. Ich bin mit Schwedisch aufgewachsen, ich bin ja Finnlandschwedin [eine sprachliche Minderheit am Küstenstreifen entlang des Österbotten, von Stockholm und Sankt Petersburg etwa je 500 Kilometer entfernt]. Die erste Fremdsprache war Finnisch, dann kam Englisch dazu, dann habe ich Deutsch gelernt, das wurde später meine zweite Muttersprache. Ich war schon als junges Mädchen im Ausland und habe da Gesangskurse gemacht und musste mich verständigen.

Wohin ging es zuerst?

Nach Rom! Von Vaasa ging es mit dem Zug nach Turku, dann mit der Fähre nach Stockholm und weiter mit dem Zug bis nach Rom. Ich war fünfzehn. Meine Gesangslehrerin ist auch mitgefahren und ein paar ältere Mädchen. Aber es gab keine Handys. Dass meine Eltern keine Angst hatten, mich da losziehen zu lassen! Meine Mutter hat dann in der Pension in Rom angerufen und wollte wissen, wie es mir geht, und die Wirtin hat abgenommen und pronto, pronto gesagt, und meine Mutter fragte sich, was sie damit meint, bråttom, bråttom? Das heißt auf Schwedisch ›schnell‹. [Sie lacht] Nun habe ich selbst Kinder, und wenn ich die losziehen lasse… Heute hat man ja Handys.

In Rom ist offenbar alles gutgegangen?

Es war unglaublich heiß und eine fantastische Woche. Das hat mich auch geprägt. Ich hatte danach nie mehr Angst vor etwas Neuem. Ich musste mich ja zurechtfinden in der Welt, und das hat mir in diesem Beruf viel geholfen. Ich habe immer gedacht: Ich muss es irgendwie schaffen.

Camilla Nylund in Kaija Saariahos Émilie an der Finnish National Opera (2015) • Foto © Stefan Bremer

Gab es auch glückliche Zufälle auf Ihrem Weg?

Ich bin nicht spirituell, aber ich denke, es gibt höhere Mächte, die wir nicht kennen und greifen und bestimmen können, die etwas für uns regeln. Das muss so gewesen sein, als ich mich in Salzburg um einen Studienplatz bewarb. Da hätte so viel schiefgehen können. Und da gab es eine Lehrerin, die an mich geglaubt hat. Ich wusste ja nicht, wie man einen Ton stützt und einen hohen Jubelton singt. Éva Illés hat zu mir gesagt: ›Sie kamen auf die Bühne und hatten eine Ausstrahlung.‹ Sie war die schwierigste Lehrerin im Mozarteum, aber ich habe großes Glück gehabt, dass ich genau zu ihr kam, wo ich wirklich das gelernt habe, was ich brauchte, um Fuß zu fassen.

Nach dem Studium in Salzburg kamen Sie ins Ensemble der Niedersächsischen Staatsoper Hannover, von da zur Dresdner Semperoper. Mit Mitte dreißig haben Sie in München Ihre erste große Wagnerpartie gesungen, Elisabeth im Tannhäuser, außerdem Ihre erste Salome in Köln, beides mit großem Erfolg. Nach Bayreuth kamen Sie 2011 mit der Elisabeth, 2017 mit Sieglinde. Haben Sie da schon von der Brünnhilde geträumt?

Ich habe nie daran gedacht, dass ich das singen werde. Als Andreas Homoki in Zürich mir Brünnhilde anbot, vor fünf Jahren, habe ich ihn zuerst für verrückt erklärt und dann gedacht: ›Ich habe doch oft verrückte Sachen gemacht und vieles gewagt.‹ Zürich ist nicht so ein riesengroßes Haus, und in eine Neuproduktion kann ich mich reinknieen. Durch meine Kontinuität, durch die Arbeit an so verschiedenen Partien kann meine Stimme das mitmachen. Im Ring habe ich alle Partien gesungen, die man singen kann. Woglinde, Freia, Gutrune, 2013 kam Sieglinde dazu, in Bayreuth. Ich habe ein Fundament, auf dem ich stehen kann. Das ist, wie wenn man ein Haus baut. Ich habe keine hochdramatische Stimme, sondern mache das mit meinen Mitteln.

Was ist eigentlich das besonders Schwierige an der Brünnhilde?

Wagner benutzt viel Blech und das Orchester ist sehr groß. Man muss immer versuchen, hell zu bleiben und über dem Orchester, wenn die Partie dramatisch und hoch wird, und in der Mittellage nicht zu ›dick‹ zu singen. Schlank singen und in der Tiefe nicht auf die Bruststimme drücken! Jeder Ton muss eine Wohltat sein und eine große Freude. Der Text und die Verständlichkeit sind eine große Herausforderung. Nicht bei den Konsonanten stehen bleiben, im Fluss bleiben, dann ist Wagner sehr singbar!

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Das klingt wie das perfekte Rezept!

Es gibt verschiedene Techniken, wie man die Stimme über das Orchester projiziert, und ich habe bei Irmgard Boas in Dresden eine bombensichere Technik gelernt. Sie ist jetzt schon über 90, ich kenne sie seit 2003. Vor meiner ersten Elisabeth wollte ich die Rolle mit ihr erarbeiten, weil ich merkte: Das Lyrische gelingt, aber für Wagner braucht man mehr Durchschlagskraft. Das Lustige ist, dass der Klaus Florian Voigt auch zu ihr geht, der jetzt in Zürich mit mir seinen ersten Siegfried singt.

Brünnhilde und Siegfried, was ist das für ein Paar? Als mythische Figuren sind sie ja unendlich weit entfernt von der Kaufmannsfrau Katerina.

Brünnhilde hat ja in der Walküre schon eine Entwicklung durchgemacht. Sie ist als Göttin geboren und zum Menschen gemacht worden. Jetzt wacht sie auf, hat Siegfried vor sich und weiß gar nicht, was das Menschsein richtig bedeutet. Er spricht von Liebe, aber er kennt die Liebe auch nicht. Da ist die Verzweiflung von Brünnhilde, die versucht zu erklären, woher sie kommt, was sie für eine Frau ist, und er versteht überhaupt nichts. Das ist interessant, typisch Mann und Frau, die einander nicht verstehen. Spannend, auch wenn dieser Text so kompliziert ist. Und wie sie sagt: ›Hast du denn nicht Angst vor mir, ich bin eine Kriegerin! Wie ich dich anschaue, anfasse?‹ ›Nein, das ist ja genau, was mir gefällt an dir!‹ Liebe auf den ersten Blick, sozusagen. Endlich gibt sie sich hin.

Das klingt, als könnten Sie sich auch mit Brünnhilde identifizieren.

Es ist ganz wichtig, bei einem Rollenporträt zu wissen: Das bin ich, das kann ich ausfüllen. Es ist toll, wie der Andreas Homoki diese Figuren sieht. Er hat immer so einen Plan und ist unglaublich gut vorbereitet, aber wir probieren die Sachen aus. Wir kamen auch mal an einen Punkt, wo wir merkten: Nein, so kann die Person nicht sein. Wir entwickeln das dann zusammen. Was ich sage, was ich tue, da muss ich wirklich dahinterstehen.

Passen die psychischen Welten von Katerina und Brünnhilde überhaupt zugleich in einen Kopf? Da kann man doch durchdrehen!

Ich habe ja schon ein bisschen Erfahrung. Und ich ruhe in mir.

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Ihr Terminkalender jetzt ist das krasse Gegenteil zur Musikszene während der Lockdowns. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?  

In den ersten Monaten gab es  Verzweiflung, Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich lebe ja von meinem Beruf und ich ernähre meine Familie damit. Viele haben gesagt: Ah, wie toll, du darfst zuhause sein, du warst ja so viel unterwegs! Ich hatte keine Perspektive. Aber ich hatte Glück, jeden Monat war dann irgendetwas. Streamings, Aufführungen, die nur hundert Leute anschauen durften, noch vor einem Jahr! 

Hatten Sie jemals einen Plan B, neben dem Singen?

Plan B! [Sie lacht] Ich wollte eigentlich Tierärztin werden. Vor dem Abitur habe ich diesen Gedanken verlassen. Danach wollte ich in Helsinki an der Sibelius-Akademie Gesang studieren, da hat man nicht an mich geglaubt. ›Ja, eine gute Stimme, aber nicht gut genug.‹ Das ist witzig, ich habe da nie studiert, aber gestern hatte ich ein Gespräch mit dem Leiter der Opernausbildung dieser Akademie. Ich gebe im November den Meisterkurs. So kann´s gehen… ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.