Zur Welt kam Henriette Gabrielle Marie Sophie Renié am 18. September 1875 in Paris. Ihr Vater war künstlerisch tätig, sang, malte und finanzierte den frühen Klavierunterricht seiner Tochter gewiss gerne; möglicherweise sogar mit der Hoffnung verbunden, dass Henriette berühmt – berühmter als er – werden könnte. In diesen Jahren kam auch Unterricht an der Harfe hinzu; vielleicht, weil sich die Möglichkeit auftat, beim mit Abstand berühmtesten Harfenlehrer dieser Zeit überhaupt zu studieren: beim Belgier Alphonse Hasselmans (1845–1912), der mit seinen vielen Konzertetüden für Harfe jeder Interpretin, jedem Interpreten dieses komplexen Instruments (mit ebenso komplexer Bau- und Entwicklungsgeschichte) weltweit bekannt ist; außerhalb dieser »Szene« aber eher nicht. Damit ist Hasselmans – liebevoll zupft einem Patrick Süskinds Ein-Mann-Stück-Bestseller Der Kontrabass (1981) am Ärmel – gewissermaßen »der Domenico Dragonetti (1763–1846) der Harfenwelt«.

Zum Zeitpunkt des Studienbeginns war Henriette Renié gerade einmal acht Jahre alt. Die Hochtalentierte interessierte sich auch fürs Komponieren und wurde als 13-Jährige am Pariser Konservatorium nun auch zum Studium von Komposition und Harmonielehre zugelassen. Der komponierende Organist Théodore Dubois (1837–1924) war dabei einer ihrer Lehrer. In den Folgejahren gewann Renié allerhand Kompositionspreise.

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Und natürlich komponierte sie für »ihr« Instrument und inspirierte Komponisten wie Debussy und Ravel, mehr und virtuoser für Harfe zu schreiben. Renié wurde zudem eine gefeierte Harfenlehrerin, nach der sogar ein in den 1920er Jahren ausgetragener Harfenwettbewerb benannt wurde. In den 1930er Jahren brachte sie das umfangreiche Lehrwerk Méthode complète de harpe heraus, erhielt viele hohe Ehrungen und hatte außerdem das Glück, bis wenige Monate vor ihrem Tod – am 1. März 1956 (Paris) – als Harfenistin in Konzerten auftreten zu können. Henriette Renié wurde 80 Jahre alt.


Henriette Renié (1875–1956)
Légende für Harfe solo (1904)

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Henriette Renié komponierte ein Harfenkonzert (1901), eine Cellosonate (1919) und ansonsten ausschließlich Solo-Harfenmusik oder Kammermusik mit Harfenbeteiligung. Besonders häufig wird das Solo-Harfen-Piece Légende aus dem Jahr 1904 gespielt. Das Stück bezieht sich auf das Gedicht Les elfes (1882) von Charles-Marie-René Leconte de Lisle (1818–1894).

Laut der Harfenistin Alexandra Guiraud ähnele die Musik von Henriette Renié der ihrer komponierenden Orgelkollegen Charles-Marie Widor (1844–1937), Léon Boëllmann (1862–1897), Charles Tournemire (1870–1939) und vor allem Louis Vierne (1870–1937). Auf tiefstem Oktavengrund erklingt eine legendenhafte Unisono-Linie. Und in tatsächlich »französischer Orgel-Manier« hören wir hehre, hermetische Akkorde im kathedralmäßigen Nebeneinander. Nach einer Kadenz wird es fast filmmusikalisch: Ein rhythmisiertes Motivfeld gründelt in der Mittellage thematisch interessant umher. Nach wieder kadenzartigen Ausritten in die Höhe bringt Renié »spanische« Akkordreihungs-»Floskeln«, an denen man sich zu dieser Zeit – im Zug exotistischer Musikmoden – feurig erfreute. Nun wundert man sich gar nicht mehr, dass dieses Stück im Repertoire so vieler Harfenistinnen und Harfenisten einen festen Platz hat! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.