Brigitta Muntendorf und Michael Höppner über kollektives Arbeiten.

Text · Fotos © Martin C. Welker · Datum 2.10.2019

Während in Hongkong Millionen Menschen auf die Straße gehen und Fridays for Future weltweit zum Protest aufruft, setzen sich die Komponistin Brigitta Muntendorf und der Regisseur Michael Höppner in ihrer aktuellen Produktion Songs of Rebellion performativ mit der teils ambivalenten Beziehung zwischen Protest und Song auseinander. Entwickelt wurde die Performance innerhalb einer von ihnen zusammengestellten »Community of Practice«. Die Premiere zur Eröffnung des Festivals BAM! im Ballhaus Ost polarisiert. Das Kostüm fährt mit aufgemalten Penissen und Antifa-Anleihen kunstvoll und mythisch an der Grenze zum Pubertären entlang, manches ist infantil überladen. Musik und Performance jedoch überzeugen in einer Kraft, die nicht ohne den Blick auf die besondere, kollektive Entstehung des Projektes erklärbar scheint. Die beteiligte Klarinettistin und Performerin Carola Schaal spricht im Anschluss von einem »Aha-Erlebnis« und erzählt: »Seit ein paar Jahren bin ich auf der Suche, weil da eine komische Unzufriedenheit ist. Das hat mit der Szene zu tun, mit der Arbeitsweise. Sowas wie diese Produktion habe ich noch nie erlebt. Wir waren unsere größten Kritiker. Und wir waren richtig gut zueinander.«Das Innenleben der Performance scheint nach dem Erlebten nicht weniger interessant als ihre äußere Erscheinung. Im Interview sprechen Brigitta Muntendorf und Michael Höppner über die hierarchiefreie Arbeitsweise der »Community of Practice«, über Ängste und üben Systemkritik.

VAN: Die Songs sind angekündigt als ›intermediales Songspiel, das Schaltstellen von Widerstand zwischen Weltflucht und Agitation untersucht‹. Klingt nach dramaturgischer Fallhöhe …

Brigitta Muntendorf: Ja, das Thema ist schwierig und reizvoll zugleich. Was uns von Anfang an ganz klar war: Wir wollen keine Rebellion spielen oder vorführen, ich wollte auch keine existierenden Protestsongs verwenden. Dass sie aber umgedeutet und sogar ins Gegenteil verkehrt werden können, zeigt uns auch die Geschichte des letzten Sommerhits Bella Ciao. Rebellion heißt erstmal nur ›empört sein‹. Dieses Empört-Sein verändert aber in den meisten Fällen noch gar nichts – und auch ein Song kann wahrscheinlich niemals eine Revolution auslösen, sondern immer nur ein Begleiter sein. Diese Frage – was ist überhaupt das Rebellische und was kann das heute sein? – hat den Prozess durchzogen. Welche Nostalgien gibt es da und welche Sehnsüchte, aber auch: Wie kann man in unserer Gesellschaft heute protestieren, wenn die Rebellion immer wieder kommerziell einverleibt wird?

Michael Höppner: Genau um diese Selbstbefragung geht es. Wir verhandeln verschiedene Verhältnisse und Zugänge zu Protest. Das pendelt dann zwischen Enthusiasmus und Depression über das Scheitern. Bei dem ganzen Thema schwebt natürlich eine sehr romantische oder utopische Vorstellung vom Aufbegehren mit, mit der wir uns auch auseinandersetzen. Das Barrikaden-Erklimmen, das Anzünden, die scheinbar selbstverständliche Identifikation mit dem Rebell.

Und die entsprechenden Songs dazu wecken noch romantische Gefühle, wenn sie weit vom eigentlichen, historischen Kontext entfernt sind. Wenn die Antifa heute das einstige chilenische Widerstandslied El Pueblo Unido anstimmt in den Straßen Hamburgs, oder wenn auf Hongkongs Straßen der Song Do you hear the people sing aus Les Misérables gesungen wird, entstehen neue Referenzen. Manchmal ist die Verbindung kaum noch herzustellen…

Brigitta Muntendorf: Es gibt viele Widerstandslieder, die etwas in mir auslösen, etwas sehr Starkes sogar. Aber ich kann sie als Komponistin nicht verwenden, nicht aus ihrem Umfeld und ihrer Entstehungsgeschichte herauslösen, bearbeiten und auf die Bühne bringen. Ich empfinde bei dem Gedanken einen großen inneren Widerstand, der etwas mit Anmaßung zu tun hat.

Zugleich finde ich, wir sollten im Leben permanent in einer rebellischen, kritischen Haltung sein – so auch dem Protest selbst gegenüber, wenn er zu Mythos und Verklärung wird. Um diese persönlichen, ja sehr intimen Reaktionen auf die Thematik geht es uns. Das hat natürlich auch eine Fallhöhe.

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Trailer zu den Songs of Rebellion

Und mal unabhängig vom Protest – was reizt dich an der Gattung ›Song‹?

Brigitta Muntendorf: Ich schreibe schon seit einiger Zeit immer wieder Songs, oft in erschöpften Momenten, es ist wie eine Art Reinigungsprozess. Songs haben immer die Kraft, sehr direkt zu sein. Durch die Stimme, den Wiedererkennungswert, die Erzählung – ein Song erzählt uns etwas, mit dem wir uns identifizieren. In dem Projekt geht es eigentlich darum, den Song als Genre anders zu besetzen. Den Song einerseits Song sein zu lassen und gleichzeitig aus dem Nachdenken über Musik – und eben das bedeutet für mich der Begriff Neue Musik – andere Zugänge, Verläufe, Formen zu schaffen. Für mich persönlich spielt es dabei aber keine Rolle, ob ich mich damit in der sogenannten Neuen Musik oder in einer experimentellen Popkultur befinde. Wir brechen die Praxis des zeitgenössischen Musiktheaters ziemlich auf. Aber eben nicht aus dem banalen Wunsch heraus, etwas aufzubrechen, sondern aus dem banalen Wunsch heraus, genau die Dinge zu machen, auf die wir Lust haben.

Du verwendest für das dazugehörige Arbeitsmodell den von Jean Lave und Étienne Wenger geprägten Begriff der ›Community of Practice‹. Was heißt das für eine solche Produktion?

Brigitta Muntendorf: Michael und ich haben dieses Projekt initiiert, Gelder beantragt und arbeiten ausschließlich mit Performer*innen, die wir selber ausgesucht haben und alle sehr gut kennen, mit einem Team, das wir selbst zusammengestellt haben und zu dem neben den performenden Musiker*innen auch Warped Type als Videokünstler, die Kostüm- und Maskenbildnerin Jule Saworski und der Klangregisseur Maximiliano Estudies gehören. Es ist eine eigene Produktionszelle, in der jeder jedem mit großem Vertrauen begegnet. Wir wollten diese vier Wochen Zeit miteinander haben, um Dinge auszuprobieren. Grundsätzlich ist das eine Arbeitsweise, die sich nicht mit dem Standard von kurzen Proben, Generalprobe und Konzert realisieren lässt. Die Tür ist zu und im Raum entsteht etwas, was wir vorher nicht sehen können. Es ist extrem wichtig, wie wir zueinander stehen und miteinander arbeiten – das Kollektiv ist quasi die Rolle. Das wirkt sich radikal auf den künstlerischen Prozess aus.

Michael Höppner: Es gab im gesamten Entstehungsprozess der Songs keinerlei Hierarchie. Wer etwas anleitet und in welcher Szene, differenziert sich im gemeinsamen Prozess heraus. Ein ganz wichtiger Punkt ist außerdem, dass Brigitta und ich beide mit performen. Die Kraft entsteht aus dem Kollektiv. Mein Gefühl ist, dass wir aus einer Überforderung heraus kollektiv immer das gemacht haben, was richtig ist, ohne viel zu kontrollieren.

Mit dieser Art von Kontrollverlust arbeitet ihr wahrscheinlich selbst außerhalb eurer Comfortzone. Mit welchen Ängsten hattet ihr im Projektverlauf zu tun?

Michael Höppner: Ich glaube, als Komponistin oder Regisseur haben wir unterschiedliche Ängste. Mich hat die Tatsache, selber auf der Bühne zu stehen, auf eine Art auch von typischen Regie-Ängsten befreit. Die Anspannung wächst nicht bis zum Ende, sondern du merkst, dass du loslassen und der Intelligenz der Gruppe vertrauen kannst. Mit solchen Leuten merkst du: Wird schon, wird auf jeden Fall…

Brigitta Muntendorf: Kontrolle abzugeben ist niemals easy, vor allem dann nicht, wenn man Autorin oder Autor ist. Aber who knows, unser Horizont ist beschränkt. Immer. Das anzuerkennen ist für mich immer wieder die schönste Erfahrung. Kontrolle abzugeben ist aber nicht nur in einer gemeinsamen Produktion wichtig, es ist auch ohne die anderen ein wichtiges Moment im Schaffensprozess. Für mich ist das ein grundsätzliches, künstlerisches Prinzip, das ich auch an meine Studierenden weitergebe: Nur aus einer Überforderung, vielleicht sogar aus einer Erschöpfung heraus entsteht irgendwann eine Notwendigkeit, sich für A zu entscheiden und gegen B. Dieser Moment ist extrem notwendig, um dann zu sagen: Ich will nur noch das machen, was ich liebe.

Michael Höppner: Man muss sich, denke ich, auch zur eigenen Angst bekennen. Dass alles damit anfängt. Man könnte es auch auf die Spitze treiben und sagen, die gesamte künstlerische Praxis besteht aus Strategien zur Angstbewältigung. Oder Vermeidung: Man arbeitet, arbeitet, arbeitet, damit sie einen nicht einholt. Natürlich darf sie nicht Überhand gewinnen, aber sie ist auch ein Motor. Man muss sie fruchtbar machen, nicht vor ihr kapitulieren. Das ist der Rucksack und der steht hier. Du kannst dann auch so tun, als wäre der nicht da, aber er bleibt auf deinem Rücken. Und andere werden ihn noch voller packen und voller packen. Damit umzugehen ist ein Prozess, zu dem man sich bekennen muss.

Wie nimmst du das bei deinen Studierenden wahr, Brigitta?

Brigitta Muntendorf: Ich spüre immer wieder eine große Angst gegenüber dem Rucksack ›Neue Musik‹, als würde die ganze Musikgeschichte auf ihren Schultern lasten. Dieses Gefühl von: Bin ich jetzt Komponistin oder Komponist, wenn ich das mache, oder muss ich dafür komplexe Partituren mit diesen und jenen Spieltechniken schreiben? Ich sage dann oft: Es geht um die Haltung! Wie Miles Davis schon sagte: It’s 80% attitude. [›Anybody can play. The note is only 20 percent. The attitude of the motherfucker who plays it is 80 percent.‹] Und damit meinte er nicht, was wir heute unter Attitüde verstehen, sondern wirklich eine Haltung. Und wenn die schlüssig ist und überzeugt, kann man die abgefahrensten oder die konventionellsten Sachen machen und darüber eine Kultur mitgestalten. Natürlich kann es passieren, dass man mal in die eine oder andere Richtung ausrutscht, weil das immer ein schmaler Grad ist, aber das finde ich ja gerade das Experiment dabei.

Hast du nach sehr performativen Produktionen manchmal das Gefühl, nicht mehr zurückkehren zu können zur rein musikalischen Komposition? In eine Art Steigerungslogik zu geraten?  

Brigitta Muntendorf: Gar nicht. Ich begreife Musik ja immer als Material. Gestern wurde ein Orchesterstück von mir gespielt, im Raum verteilt, ganz ohne Elektronik, wo es um die pure Klangerfahrung geht. Mein Zugang zu Musik ist immer ebenso analytisch wie sinnlich. Wenn ich über Musik nachdenke, dann über ihre Bedeutung, ihre Referenzen, Dramaturgien. Und wenn ich hier eine Setzung gemacht habe, dann tauche ich ein. Es geht mir immer um den Zugriff auf die Musik, um den resultierenden Klang als Ausdruck von Kultur. Das ist für mich Neue Musik. Immer wieder experimentell denken zu wollen. Was bedeutet das für den Klang, zeitgenössisch zu sein? Aber man begegnet da auch einigen Widerständen.

Wie gehst du damit um?

Ach, ich blende sie aus. Wenn ich in Gespräche komme, wie sie mir im Kontext der Neuen Musik hier und da begegnen: ›Ach das klingt jetzt aber schon nach xy‹, dann entscheide ich kurzfristig, ob ich daran erinnere, dass das Geräusch seit 110 Jahren etabliert ist, oder ob ich lächle.

Noch einmal zurück zur ›Community of Practice‹. Was müsste sich strukturell verändern – mit Blick auf Förderung, Ausbildung, Spielstätten, um diese Öffnung des zeitgenössischen Musiktheaters zu stützen?

Brigitta Muntendorf: Was das Praktische angeht: Es bräuchte viel mehr Räume mit Ausstattung, in denen mit Gruppen über ein paar Wochen gearbeitet werden kann, ohne jede Kostümprobe zu bezahlen. Musiktheater ist noch ein sehr alter Begriff für das, was da gerade passiert. Ich glaube, dass Ensembles wie unseres immer mehr die Rolle von Produktionszellen übernehmen – und dass es sehr spannend wäre, wenn das noch viel flächendeckender passiert. In diversen Teams mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen – von der Komposition über Kostüm zu Dramaturgie und Regie. Songs of Rebellion denken wir als eine solche Produktionszelle. Wir sind auf kein Haus angewiesen. Doch alles immer selbst zu beantragen, jede Struktur, alle Technik, das ist mühsam und eigentlich fast unmöglich. Da wäre ein Haus, ob Oper, Theater oder Konzerthaus, sehr sinnvoll, das sich für diese Arbeitsweisen öffnet.

Michael Höppner: So erlebe ich es auch mit Blick auf die Oper: Räume und Zeit für Entwicklungen sind noch viel wichtiger als projektweise Förderungen. Mir fallen in Deutschland kaum Orte ein, wo man die Möglichkeit hat, mit Zeit als Gruppe in der Arbeit zusammenzuwachsen. Hinzukommt, dass es keinerlei Performance-Ausbildung für klassische Musiker*innen gibt. Das muss ebenfalls in diesen Zellen passieren. Und wenn Musiker*innen zu Performer*innen werden, geht das nicht in einer Woche.

Man muss natürlich aufpassen, dass nicht genau das passiert, was ja auch mit Blick auf Protestformen Thema unseres Abends ist, dieses Einverleiben. Die gewünschte Verbindung zwischen staatlich subventionierten Häusern und der freien Szene auf der anderen Seite darf nicht dazu führen, dass die freie Szene das Modell dafür liefert, all die zu Recht errungenen Sicherheiten von Tarifverträgen und so weiter abzubauen. Wenn man diese oft übersubventionierten Häuser aber von ihrem Dasein als lebendige Museen befreien und verbinden würde mit anderen Ästhetiken, sie öffnen und flexibilisieren würde für andere Arbeitsweisen, dann wäre das cool. Uraufführungen müssten einen viel größeren Anteil stellen, dann würde sich das von ganz alleine ergeben, denn für die Entwicklung neuer Stücke braucht es die freie Szene in ihrer Flexibilität. Also eine Dynamisierung, eine Anpassung von Arbeitsabläufen, die aber nicht gleichzeitig eine soziale Prekarisierung bedeutet. Diesen Spagat müssen wir hinkriegen, wenn es für beide Seiten gut weitergehen soll.

»Es bräuchte viel mehr Räume mit Ausstattung, in denen mit Gruppen über ein paar Wochen gearbeitet werden kann, ohne jede Kostümprobe zu bezahlen.« Brigitta Muntendorf über kollektives Arbeiten in @vanmusik.

Geht das, ohne grundsätzlicher an der Struktur zu rütteln?

Brigitta Muntendorf: Natürlich bedeutet das auch, dass sich strukturell etwas ändern muss. Zuletzt ging ja eine Riesenwelle durch Deutschland, als es um die Orchesterfusion beim SWR ging. Dennoch muss man die Frage kritisch stellen: Deutschland hat die größte Orchesterszene in ganz Europa, vielleicht sogar weltweit. Brauchen wir diese Apparate alle? Und was fällt dadurch vielleicht an anderer Stelle weg? Diese Frage hört man leise hier und da atmen. Eine Politik, die zeitgenössische und experimentelle Kunstformen fördern will, muss Fragen stellen. Der Druck auf Intendant*innen, Erfolg nur nach Kartenverkäufen zu bewerten, muss aufhören. Auch hier spielen Ängste eine Rolle. Gleichzeitig glaube ich, dass wenn ein Geist dafür geschaffen wird, wenn eine Stadt oder ein Land sagt, ›wir brechen in eine neue Ära auf, Kunst der Gegenwart in all ihren Facetten gehört auf jeden Spielplan, wir behalten natürlich unsere Konzerthäuser und Opernhäuser, aber wir öffnen da die Türen‹, dann kann das extrem gut werden. ¶

... hat französische und deutsche Literatur sowie Kulturmanagement in Bonn, Paris und Hamburg studiert. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Kuratorin und Dramaturgin im Bereich klassischer Musik. Unter anderem ist sie für die Donaueschinger Musiktage oder die Elbphilharmonie tätig, kuratiert die Philosophiereihe »Bunkersalon« mit dem Ensemble Resonanz, entwickelt die globale Konzertreihe »Outernational« und schreibt für das VAN Magazin.