»La Morte della Ragione« von Il Giardino Armonico und Giovanni Antonini.
Ein Solo der Flöte am Anfang, a capella. Der Chef spielt persönlich. Giovanni Antonini, einst als Barock-Flötist italienischer Ziehsohn Nikolaus Harnoncourts, nun selbst ein außergewöhnlicher Dirigent und Impulsgeber. Mit seinen laufenden Neuaufnahmen der vermeintlich ausgedeuteten Sinfonien Haydns erregt Antonini seit Jahren Aufsehen. Die aktuelle Produktion bringt Abwechslung zwischendurch. La Morte della Ragione widmet sich der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts. Was Antonini aus deren vorwiegend italienischer Abteilung ausgegraben hat, darf mehrdeutig als Aufforderung zum Tanz gehört werden.
Eine Art Konzeptalbum. Titel und Motto verstehen sich nicht als platter Affront gegen die Ratio, dafür klingen die einleitenden Pavane und Gagliarda zu friedlich und fröhlich. Tod der Vernunft, das meint hier ironisch, den Kopf – zum Nutzen von Kopf, Musik und Tanzbein – abzuschalten durch die Musik. Leben ist weder Denken, noch Nichtdenken. Aber um jede Sekunde Lebens, die einer scheint’s unabschaltbaren Reflexion zum Opfer fällt, ist es schade. Bevor eins, im Blick einen Baum, ein blühendes Dickblattgebüsch, anfängt zu denken: »eine Birke, ein Rhododendron«, sieht eins die Birke, den Rhododendron. Was die Philosophen »Wahrnehmung« nennen, kommt in der alten Welt des transatlantischen Abendlands gegenüber dem, was philosophisch »Erkenntnis« ist, viel zu oft zu kurz, so könnte man La Morte della Ragione verstehen.
Nichts gegen die Ratio. Einem Botaniker fällt angesichts einer Birke vielleicht deren Windbestäubung ein, er denkt an Pollenflug und Allergiker; für den Friseur ist Birke Haarwasser. Der Florist vor einem Rhododendron bewundert dessen Fähigkeit, sowohl in 5500 tibetischen Höhenmetern, als auch im tropischen Regenwald zu blühen. Nicht anders der Rezensent. Beim Hören von Antonionis Sammlung rattert seine Ratio.
Wenn der Flötist eingangs das Lob aufgeklärter Kopfvermeidung anstimmt, meint er spontan zurückzuhören in die Musik nomadisierender Hirtenvölker, sein Ohr imaginiert die selbstgeschnitzte Holzflöte eines toskanischen Hirtenknaben im Trecento. Im Titel gebenden Eröffnungsstück umspielt und umschmeichelt die figurierende Flöte den cantusfirmushaft schweren Gang der Melodie, sie reißt sie mit in die einladend gute Laune der Soli alter Kornette, Posaunen, Violinen. In der Gagliarda übernimmt das Volk. Antonini auf der kleinen Sopranflöte, begleitet im scharfen Diskant nur vom in gleicher Höhe operierenden Hackbrett, leitet einen Tanz ein von einer Überlebenskraft, die so nur den im Geldbeutel Armen gegebenen ist. Wie der Kuckuck im deutschen Volkslied auf seinem Baum, totgeschossen vom adeligen Jägersmann, nach nur einem Jahr wieder da ist, legt da, des immer nur Überlebens müde, eine plebejische Lust am guten Leben los: Statt immer nur bitterer Klagen – rebellisch fetziger Treibstoff für den Kampf auch der Kunst gegen aufgezwungen schlechtes Leben.
Die Gagliarda komponierte Giorgio Mainerio (1535 – 1582). Zwei weitere Stücke auf der CD aus seiner Hand sind Teil der Sammlung »Schiarazula Marazula«. Deren Lieder verdanken sich, so eine Anklageschrift der Inquisition, »einer heidnischen Prozession bestimmter abergläubischer Frauen gegen die Riten der Heiligen Kirche«. So nachzulesen im mit zeitgenössischen Bildern von Hieronymus Bosch bis Artemisia Gentileschis frühfeministischem Gemälde von der kühlen Schlachtung des Holofernes durch Judit, sowie mit klugen Texten und pointierten Zitaten von Erasmus bis Shakespeare ausgestatteten Schatzkästlein von Hardcover-Booklet.
Volksmusik in hochprozentiger Konzentration. Die dem mediterranen Handel mit Orient und Asien geschuldete Höherentwicklung von Technik und Vertrieb der Warenproduktion während der Renaissance in Norditalien sorgte allerdings auch für fortgeschrittene Indienstnahme der Künste durch die Herrschenden. Wie es geklungen hat, als die Musik noch allein dem Volk – in früher Arbeitsteilung auch seinen Spielleuten und Gauklern – gehörte, wissen wir nicht, sie wurde noch nicht aufgeschrieben. Der Renaissancemusik aber, das macht sie neben ihrer die Sinne erfrischenden Wirkung so interessant, kann man anhören, wie sich das auf auch musikalische Repräsentation bedachte feudal-bürgerliche Patriziat der oberitalienischen Stadtrepubliken, wie Kirche und Militär sich in wachsender Kenntlichkeit ihrer bedienen.
Stimme – sie war zuerst da in der Musik. Aus dem menschlichen Sprechorgan wird Gesang. Ihn ahmen Flöten, Hörner, Posaunen und alles andere nach, was sich seit Vor- und Frühgeschichte an Instrumenten entwickelte. Bis heute heißen die Instrumententypen eines Orchesters und ihre Noten »Stimmen«. Mehrere im Gleichklang ertönende Stimmen in unterschiedlicher Höhe sind wie in Josquins (1440–1521) Nymphes des bois in aller harmonischen Farbigkeit der in ihnen erklingenden Akkorde einstimmig. Verlaufen die Stimmen selbstständig und imitieren sie einander wie in Gesualdos (1566–1613) Canzon francese del principe und vielen anderen Stücken in La Morte della Ragione, entsteht Polyphonie oder ein Kanon, mit ihm die Neigung zur barocken Fuge. Giovanni Gabrielis (1557–1612) in punktiertem Dreierrhythmus voranschreitende, voran tanzende Sonate Nr. 8 ist embryonaler Barock. Die Formen Canzon, Chanson, Tarantella, Pavana verweisen auf Lied und Tanz als Urquellen aller Musik. Wie sie in La Morte della Ragione »instrumentalisiert« erklingen, hat seinen Reiz vor allem in den charakteristischen Farben der alten Instrumente, so des herrlich näselnden, schnarrenden Fagott-Urahnen oder der tiefen Flöten. Im Gesualdo-Canzon trennt sich der polyphone Stimmverlauf effektvoll in den je eigenen Klangfarben der verschiedenen gezupften Saiteninstrumente Clavicembalo, Laute, Theorbe. Hat sich bislang wohl irgend jemand um Antworten auf die Frage bemüht, warum die Instrumentation im Lauf der Jahrhunderte immer streicherlastiger verarmte und wie viel verloren ging, als sich die wunderbar vielgestaltigen Farben einer Continuogruppe im 16. Jahrhundert in den vergleichsweise langweiligen Klang der tiefen Streicher eines neuzeitlichen Sinfonieorchesters verwandelte? Warum verschwand, die in La Morte della Ragione so beflügelnde Improvisation?
Der Rausschmeißer: Samuel Scheids (1587–1654) Battaglia – naiv begeisterte Reklame fürs vorindustrielle Heer. Aber seltsam, Scheids Battaglia klingt nicht nach musikalischem Schlachtengemälde, sondern wie ein mitreißendes Plädoyer fürs pralle, dralle Barockleben. ¶