Birte Müller wünscht sich Konzerte, in denen auch Menschen willkommen sind, die den Klassik-Benimmregeln nicht immer folgen können oder wollen.

Text · Fotos © Matthias Wittkuhn, Willis Vater und Birtes Mann · Datum 9.1.2019

Willi ist elf Jahre alt und liebt Bach, Tschaikowsky, Dvořák, Saint-Saëns, Brahms und Strauss, obwohl seine Eltern nie darauf hingearbeitet haben. Willi liebt diese Musik besonders, wenn er sie live erleben kann. Das zeigt er, indem er sich in Konzerten ab und zu zur Musik bewegt oder jauchzt – sprechen kann Willi nicht, denn er wurde mit einer Trisomie 21 geboren. Was er sehr wohl kann, ist, einem ganzen klassischen Konzert gebannt zu folgen – wenn man ihn lässt. Oft fühlen sich Publikum oder Musizierende gestört – nicht aus dem Saal gebeten zu werden, ist für Willis Familie die absolute Ausnahme. In der taz schrieb Birte Müller, Willis Mutter, jüngst einen Artikel über ihre Schwierigkeiten, eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums (das Willi besonders liebt) zu finden, in der das Publikum offen mit Menschen umgeht, denen eher nach Jauchzen und körperlich sichtbarem Frohlocken ist, als nach Stillsitzen.Mit mir spricht sie drei Tage nach Erscheinen des Artikels. Mein Anruf unterbricht sie beim Beantworten von Rückmeldungen auf den taz-Text.

VAN: Wie fallen denn die Reaktionen auf den Artikel aus?

Birte Müller: Ich habe nur positive Rückmeldungen bekommen – ganz differenzierte Nachrichten, im Unterschied zum Feedback auf den Spiegel-Artikel [in dem Birte Müller einen Monat nach der Eröffnungsfeier der Elbphilharmonie die Frage aufwarf, ob das »Konzerthaus für alle« auch ein Konzerthaus für Willi sei. Man beachte die Kommentare zum Artikel!]. Diesmal gab es sogar konkrete Angebote. Zwei Kirchen haben geschrieben: ›Wenn wir das Weihnachtsoratorium aufführen, ist Willi immer willkommen, wir sind eine ganz tolerante Gemeinde, bei uns gibt es das nicht, dass Menschen nicht ins Konzert kommen dürfen.‹ Sie wünschen sich eigentlich, dass viel mehr gejauchzt wird in den Konzerten. Das schreibe ich mir natürlich auf, damit wir ein paar Orte haben, an denen wir ins Konzert gehen können. Ich würde mir wünschen, dass es im Konzertbusiness auch mal sowas gäbe, dass explizit Menschen eingeladen sind, die sich nicht an diesen Klassik-Kodex halten können oder wollen.

Für seine Verhältnisse ist Willi in Konzerten total leise, aber es kann eben auch mal sein, dass er, wenn die Musik ganz leise ist, mir sagt, dass er möchte, dass es wieder lauter wird. Er macht dann eine bestimmte Gebärde und ein Geräusch, oder er zeigt auf Instrumente und macht Geräusche. Für andere Leute klingt das dann nicht, als würde er etwas kommunizieren. Ich denke, die Menschen hätten mehr Verständnis, wenn dort ein Kind sitzen würde, das ›Kontrabass! Kontrabass!‹ sagt und auf das Instrument zeigt. Das wäre besser einzusehen, als wenn Willi irgendwohin zeigt und sagt ›Fass! Fass!‹ Ich kann das dann ja auch im Konzert nicht erklären.

In der taz hat du geschrieben, dass der Normalfall ist, dass ihr, wenn ihr auf Konzerte geht, irgendwann rausgeworfen werdet. Wer beschwert sich denn da? Das Publikum, die Leute auf der Bühne oder der Veranstalter?

Wir hatten alles schon. Wenn Musiker in der Pause sagen: ›Das finde ich total irritierend und ich muss mich beim nächsten Stück ganz doll konzentrieren, kann der nicht vielleicht hinten sitzen?‹, ist das der Moment, wo wir aussteigen müssen. Wenn Willi vorne gesessen hat und wir dann nach hinten gehen müssen, besonders, wenn vorne noch ganz viele Plätze frei sind – da weiß er gar nicht, was das soll, warum er sich nicht da hinsetzen kann, wo er das Orchester sieht. Das würde er nicht wollen. Das würde er mir dann zeigen, er würde laut werden, schreien, weil er ja nicht sprechen kann. Das sind Momente, wo wir lieber rausgehen, als wirklich richtig zu stören. Ich will ja den anderen ihr Konzert nicht versauen.

Ich kann das auch verstehen, wenn andere Leute sagen: ›Ich möchte nichts rundherum wahrnehmen. Ich möchte nur die Musik hören, kein Husten und kein Rascheln‹, aber es gibt doch so viele Konzerte, in denen das so gehandhabt wird! Da wäre es doch schön, wenn es ab und zu auch mal eins gäbe, wo auf Ansage alle hinkommen dürfen.

So eine Ansage braucht man schon. Ich habe mal als Argumentation gehört, dass eine solche Ansage bedeuten würde, dass bei den anderen Konzerten diese Menschen dann ja ausgeschlossen sind. Aber wenn man jemandem die Chance geben möchte, zu lernen, leise zu sitzen – dafür braucht man eine Möglichkeit. Das wird ja nicht aus dem Nichts geboren, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten das sofort können. Mit Willi haben wir immer Probleme an fremden Orten. Wenn er zu einer in jedem Sinne barrierefreien Veranstaltung – einem ›Toleranz-Konzert‹ oder so – schon mal in einem Konzertsaal gewesen wäre, hätte er vielleicht auch die Möglichkeit, später ein ›richtiges‹ Konzert zu besuchen, weil er dann den Ort kennen würde, die Toiletten, und sich da gar nicht erst orientieren müsste und man deswegen keine Anfangs-Unruhe hätte. Aber dafür brauchen wir ein Spezial-Angebot. Das würde uns auf jeden Fall helfen.

Die Elbphilharmonie hat uns nach der Veröffentlichung des Spiegel-Artikels mal zu einer Probe eingeladen. Das war ganz großartig. Aber auch da hat Willi gar nicht verstanden, warum er auf den Rängen sitzen soll, wenn auch alle Plätze vor der Bühne frei sind. Ich habe damals vorgeschlagen, dass man alle halbe Jahr oder so mal ein Konzert macht, zu dem dann auch explizit Wohngruppen oder über die Verbände eingeladen wird. Es traut sich ja kein Mensch, mit einer Wohngruppe in die Elbphilharmonie zu gehen, auf die Idee würde niemand kommen! Außer es steht drauf: speziell erwünscht, eingeladen, akzeptiert. Die Elbphilharmonie hat dann den Ball zu mir zurückgespielt: Da müsste man jetzt erstmal den Bedarf ermitteln. Ich würde eher sagen: ›Macht einfach mal das Angebot!‹ Die kriegen den Laden ja eh voll.

Was würdest Du Dir vom Publikum wünschen?

Ich kann schon empfehlen, ein Konzert einfach mal anders zu hören, lustvoller vielleicht. Überhaupt sich mal zu überlegen: Das war ja nicht immer so, dass die Leute da so stocksteif und stillgesessen haben, da wurde sogar getanzt. Aber von einem Publikum, das nicht darauf vorbereitet ist, kann man nicht erwarten, dass alle rufen: ›Ah, wunderbar, hier darf jeder mitmachen, da schränke ich mich heute auch mal ein.‹ Letztendlich funktioniert Inklusion nur, wenn sich alle auch mal einschränken, anders geht es nicht. An dem Tag, an dem Willi ins Konzert geht, funktioniert das nur, wenn andere Leute bereit sind, sich von ihren Gewohnheiten wegzubewegen. Ich würde nie so weit gehen, zu sagen: ›Alle dürfen jetzt in jedes Konzert gehen, da muss dann jeder durch.‹ Das meine ich gar nicht. Aber ich finde, dass für alle etwas dabei sein sollte. Auch ohne die ganz teuren Konzertkarten, die können die Menschen, die in Werkstätten arbeiten, sich ja gar nicht leisten. Jedem also irgendwie mal die Möglichkeit geben, auch denen, die diese Etikette nicht mitmachen können oder wollen, denn Konzerte machen ja einfach unglaublich glücklich – uns auf jeden Fall. Und es gibt auch Menschen, die es wirklich glücklich macht, zu sehen, wie glücklich die Musik Willi macht. Ich will ja auch nicht, dass es nur ein Nehmen ist.

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Wir haben auch schon den Tipp bekommen, öfter zu Proben zu gehen. Das ersetzt aber ein richtiges Konzert nicht, das kann man einfach nicht vergleichen. Das ist fast schon schmerzhaft anzusehen, wenn man sieht, wie sich in Willi alles entfaltet – er kennt die Stücke ja – und dann ZACK! bricht die Musik ab: ›So, wir machen weiter bei Takt …‹ Das ist auch keine Lösung, auf Dauer nur in Proben zu gehen. Eine Generalprobe, bei der wirklich alles durchgespielt wird, wäre schon was Anderes, da würde es Willi auch nicht interessieren, wenn da zwischendurch ein paar Sätze gesprochen werden. Wenn uns jemand die Möglichkeit geben würde, eine Generalprobe zu besuchen, das würden wir sofort machen. Mir geht’s gar nicht darum, zu sagen: ›Ich will Gleichberechtigung, ich will mit Willi in jeden Konzertabend gehen können, und ich will da und da sitzen können …‹ Ich möchte nur für uns als Familie die Möglichkeit haben, seiner Leidenschaft nachzukommen und gemeinsam ein Konzert zu besuchen ohne diese ständige Angst und diesen Druck. Wir stehen da immer ganz ganz arg unter Druck.

Neulich hat mir jemand aus dem Publikum gesagt, wir wären eine Zumutung für das Orchester. Da war ich dann auch ein bisschen bockig, und habe ihr gesagt, dass sie mir gerne mitteilen kann, wenn sie das stört, aber dass sie doch bitte nicht für andere sprechen solle. In der Pause bin ich dann aber zu Musikern im Foyer gegangen und hab gefragt, ob sie sich gestört fühlen und die haben dann ein bisschen rumgedruckst, es sei schon sehr schwierig. Das war der Moment, in dem ich dachte: Wenn die jetzt nicht sagen: ›Da müssen wir heute mal durch‹, dann ziehen wir uns zurück.

Das könnte aber ja auch anders aussehen, wenn die Musikerinnen und Musiker sich in einem oder ein paar ›Toleranz-Konzerten‹ an Publikumsreaktionen gewöhnen könnten.

Mir haben auch schon Musiker gesagt, dass sie einen Moment brauchen, bis sie sehen, woher die Bewegungen oder Geräusche kommen und dass das dann auch völlig in Ordnung ist für sie, weil sie das dann einordnen können. Es sind auch schon Leute gekommen, zum Beispiel beim Weihnachtsoratorium, die meinten: ›Ich kann mich gar nicht dran sattsehen, ich singe nur noch für ihn im zweiten Teil!‹ Wir machen da schon auch ganz tolle Erfahrungen. Aber letztendlich genügt es für mich, dass einer sagt: ›Ne, jetzt kann ich mich nicht konzentrieren‹ – und wir gehen. Ich mache ja keine Abstimmung. Wenn dann niemand aufsteht und sagt: ›Moment mal!‹, dann gehen wir, das halte ich sonst nicht aus.

Im letzten Jahr wurde Willi für eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums, die Musiker nur aus Freude an der Musik organisiert hatten, richtig eingeladen. Die haben dann am Anfang gesagt: ›Willi liebt das Weihnachtsoratorium, aber er kann nicht ganz still sein. Und deswegen freuen wir uns, dass er heute hier ist, weil das hier in Ordnung ist.‹ Da war das für das ganze Publikum klar.

»Wir möchten ein Konzert besuchen ohne diese ständige Angst und diesen Druck.« Birte Müllers Sohn liebt klassische Musik und lebt mit einer komplexen geistigen Behinderung. Was sie sich von Veranstaltern, Musizierenden und Publikum wünscht:

Willi muss nicht in jedem Konzert persönlich begrüßt werden, aber wenn es Veranstaltungen gibt, wo es zum Konzept gehört, dass man da locker sein darf, dann hilft es uns sehr, wenn das am Anfang auch einmal gesagt wird. Dann ist es auch für alle klar, die das an dem Punkt noch nicht wussten: Heute ist es halt mal anders. ¶

Merle Krafeld

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com