Bettina Wackernagel und Laura Mello im Interview.
Die Microsoft Word Version aus dem Jahr 2008 markiert das Wort »Pionierinnen« als Rechtschreibfehler. Wer neue Wege beschreitet muss männlich sein, scheinen die Köpfe hinter dem Programm gedacht zu haben. Wie oft in der elektronischen Musik das Gegenteil der Fall ist oder war, zeigt das Festival Heroines of Sound, das vom 12.–14. Juli im Radialsystem in Berlin aktuelle und historische Held*innen der elektronischen Musik und Klangkunst (Künstlerinnen und non-binary-Komponierende) featured.
An einem viel zu heißen Vormittag treffe ich Bettina Wackernagel, die künstlerische Leiterin des Festivals und Laura Mello, die dieses Jahr als Komponistin, Performerin und in Gesprächsformaten bei Heroines of Sound zu erleben ist, im Strandbad Mitte (das leider nur heißt wie ein Freibad und ein ganz normales, wenn auch sehr gemütliches Café ist).

VAN: Wie erlebt ihr die Vernetzung unter Musikerinnen in Deutschland?
Bettina Wackernagel: Es gibt einige Organisationen, die Musikerinnen unterstützen, female pressure zum Beispiel, deren Ursprung in der elektronischen Clubmusik liegt, ebenso wie die Künstlergruppe MEETUP, mit beiden arbeiten wir zusammen. Neo Hülcker von GRINM [Gender Relations in New Music] hat ein Auftragswerk für uns komponiert, genau wie Evelyn Saylor von FEM*_MUSIC*_. Auch MUGI [Musik und Gender im Internet] war bei uns. Das Ganze ist wirklich eine Graswurzelbewegung, bottom up.
Laura Mello: Das Problem ist nicht, dass es keine komponierenden Frauen gäbe, sondern dass sie nicht sicht- und hörbar sind. Während meiner Ausbildung kamen nur männliche Komponisten zur Sprache, es gab fast keine weiblichen Vorbilder. female pressure und Sonora, ein Kollektiv aus Brasilien, suchen wirklich aktiv nach weiblichen Referenzen. In den letzten 5 Jahren sind dadurch und durch die Arbeit anderer viele aktuelle und historische Künstlerinnen bekannt geworden. Man braucht solche weiblichen Vorbilder – sonst muss man entweder ein Charakter sein, der alles durchbrechen will, oder man glaubt einfach, dass man keine Komponistin werden kann.
Wackernagel: Der Weg in der freien Kunst ist sowieso sehr hart. Da müssen sich alle überlegen: Ist das überhaupt ein realistischer Selbstentwurf? Clara Schumann zum Beispiel hat damals an ihren Vater geschrieben, sie hätte jetzt verstanden, dass sie zu viel wollte. Frau sein und komponieren ginge eben nicht.
Je mehr Künstlerinnen sichtbar sind, desto mehr Mut macht das, dass komponieren auch als Frau ein möglicher Weg ist. Im Moment ist es noch immer so: Wenn ich mit einem Freund auf eine Musikmesse gehe und mich dort für irgendwas interessiere, unterhalten die Leute von dem Stand sich immer nur mit ihm, bis ich eine Fachfrage stelle und die Leute merken, dass ich mich auch auskenne.
Mello: Auch der Kontakt untereinander ist wichtig, dass ich mich als Komponistin, vor allem in der Ausbildung, auch mal mit anderen Frauen austauschen kann, die eine ähnliche Laufbahn verfolgen oder verfolgt haben.
Wackernagel: Es ist auch inhaltlich spannend, dass Komponistinnen manchmal einen anderen Zugriff haben: Das gilt vor allem für die frühen Elektronikerinnen, die oft experimentell und unkonventionell mit der Elektronik gearbeitet haben. Damit will ich nicht sagen, dass Frauen grundsätzlich innovativer oder experimenteller sind. Eine mögliche Erklärung wäre, dass es in den 60er und 70er Jahren gerade in der Elektronik sehr starke Schulen gab, die auch ideologisch verankert waren. Und diese Schulen waren für die Komponistinnen nicht so bindend, weil sie zu ihnen keinen wirklichen Zugang hatten. Auch die akademische Karriere stieß schnell an Grenzen. Dadurch waren sie freier, mit andere Dingen zu experimentieren. Teresa Rampazzi hat bereits in den 70er Jahren Ambient Music geschrieben, lange vor Brian Eno.
Oder Laurie Spiegel, die in den Bell Laboratories in New Jersey gearbeitet hat und sehr in der amerikanischen Folk Music verhaftet war. Das Stück Appalachian Groove hat sie nach eigener Aussage geschrieben, um der Schwere und Traurigkeit der zeitgenössischen Musik etwas entgegenzusetzen. Mit so einer Ansage macht man sich im Studio nicht wahnsinnig viele Freunde.
Else Marie Pade, der erste Mensch, der in Dänemark überhaupt auf hohem Niveau elektronische Musik gemacht hat, hat in der Tradition von Stockhausens Elektronik gearbeitet, aber auch mit Musique concrète und field recordings. Boulez oder Stockhausen haben immer auch auf ihre Werke verwiesen, aber diese Mischung aus allem ging irgendwann nicht mehr. Sie wurde nach fünf Jahren einfach aus allen Diskursen gestrichen. Ein Grund dafür war vermutlich, dass sie sich zwischen alle Fronten gesetzt und mit allem, was es gab, gearbeitet und sich keiner Schule angeschlossen hat. Das hat die Rezeption versanden lassen.
Studios für elektronische Musik gab es in den 70ern nur in den Rundfunkanstalten und an Universitäten. Der Zugang dazu war auch sehr beschränkt. Aber es gab trotzdem Frauen wie Alice Shields oder Pril Smiley, die zumindest Co-Direktorinnen am Computer Music Center der Columbia University waren, das Studio eine Zeit auch interimistisch geleitet und sowieso einen großen Teil der Arbeit gemacht haben. Aber viele sind dann doch eher in Richtung Pädagogik gegangen, oder haben sich selbständig gemacht und ihr eigenes Studio gegründet wie Pauline Oliveros, Laurie Spiegel und Beatriz Ferreyra.
Auch bei der Popmusik sind die Regeln des Marktes beinhart. Aber in bestimmten Hinsichten ist man uns heute dort ein bisschen voraus, weil der Zugriff auf die Produktionstools, Soft- und Hardware einfacher ist. Das hat die Produktionsmöglichkeiten von jungen Künstler:innen revolutioniert. Max/MSP – wer ist schon an die Computerkurse gekommen? Es hatten einfach nur ganz wenig Leute Zugriff darauf. Die jungen Pop-Musikerinnen sind so heute einfach unabhängiger.
Mello: Seitdem ich in Europa bin, seit 16 Jahren, erlebe ich, dass es immer mehr kleine Locations gibt für experimentelle Musik, sowohl in Wien als auch hier. Darum haben jetzt viel mehr Leute die Chance aufzutreten. Der Bereich ist noch immer männlich dominiert. Aber es gibt auch Locations, die von Frauen geleitet werden. Ich finde es in Europa auch toll, dass neue und alte Technologie auf der Bühne zusammenleben.
In Brasilien ist Technik sehr stark besteuert, da hat man nicht so einfach Zugang zu den ganzen Geräten. Hier kriegt man ein super Aufnahmegerät für 80€. Man braucht nicht so viel Geld um eine tolle Idee zu verwirklichen, alles wird zugänglicher.
Beratet ihr auch andere Festivals, die sich mehr Frauen im Programm wünschen?
Wackernagel: Nein, bisher nicht, aber die dürfen sich sehr gerne melden! Das wäre schön! Was ich beobachte und worüber ich mich sehr freue, ist, dass einige Künstlerinnen, die wir in den letzten Jahren stärker und auch immer wieder gefeatured haben, jetzt auch bei anderen Festivals auftreten. Das liegt natürlich in erster Linie an der Qualität ihrer Arbeit. Aber es hat sicher auch nicht geschadet, diese Arbeiten etwas stärker ins Licht zu rücken und ihnen mehr Aufmerksamkeit zu geben.
Ich würde jetzt auch nicht sagen, dass wir alle Künstlerinnen, die wir einladen, entdecken. Komponistinnen wie Lisa Streich und Annesley Black zum Beispiel sind bereits in gewisser Weise etabliert. Aber man könnte sie noch mehr spielen. Und dafür sorgen wir dann eben. Wir wollen, dass irgendwann niemand mehr sagt: ›Ich kenne gar keine Komponistin.‹
Marta Forsberg von Konstmusiksystrar meinte neulich in VAN, dass sie in der Gender-Debatte in der Neuen Musik aktuell das Gefühl hat, dass viel gesprochen und wenig getan wird. Wie erlebt ihr das, hier in Berlin oder anderswo?
Wackernagel: In Österreich ist die Politik vor einigen Jahren an die Festival-Leitungen herangetreten und hat gesagt: ›Das geht so nicht, ihr braucht mehr Frauen auf den Programmen.‹ Und das hat auch funktioniert.
Mello: Österreich ist recht weit bei der Frauenförderung. An der Uni war ich vor 16 Jahren natürlich in der Minderheit, aber das ändert sich jetzt auch. Ich wurde damals auch sehr viel gefördert.
Wackernagel: Weil Du so gut bist!
Mello: [lacht] Aber um Brasilien mache ich mir wirklich Sorgen. Dort ist die Kultur seit jeher sehr männlich dominiert. Dort spricht man über ›Gender-Ideologie‹, nicht über ›Gender-Studies‹, das ist eine allgemeine Verdummung und ein Augen-Verschließen vor ganz normalen Bürgerrechten.
Ich höre eigentlich gar nichts über Kultur in Brasilien. In den Zentren, São Paulo und Rio, passiert noch was, der Rest hat es sehr schwer. Sonora vernetzen Leute in São Paulo. Sie zeigen aber auch, welche brasilianischen Künstlerinnen im Ausland Residenzen haben und dort arbeiten. An der UdK wurde ich gefragt: ›Warum studieren hier so viele Brasilianer:innen?‹ Weil alle, die können, weggegangen sind. Meine ehemaligen Studierenden aus Brasilien sind fast alle in Europa. Das ist so krass.
Und wie sieht die Situation in Deutschland aus?
Mello: Es gibt noch viel zu tun!
Wackernagel: In Deutschland ist das Nadelöhr, durch das man muss, um nach der Ausbildung eine Karriere machen zu können, sehr schmal, das Zeitfenster ist sehr kurz. Es hilft sehr, bei Professor:innen studiert zu haben, die präsent sind, in vielen Jurys sitzen oder dafür bekannt sind, ihre Studierenden zu fördern. Oder man braucht Empfehlungen, um auf die großen Festivals zu kommen. Für eine Komponistin, die in Deutschland ihre Ausbildung macht, ist es sehr schwer, sich zu etablieren. Frauen fallen manchmal auch aus dem Raster, wenn sie neben dem Komponieren auch unterrichten, das ist bei Männern nicht so.
In Slowenien gab es vor 25 Jahren einen Beschluss der Regierung: Wir müssen etwas tun. Und dann wurde das Festival City of Women, mit Musik, Film, Performance, Theorie, gegründet. Da sind 3 oder 4 Leute fest angestellt. Die haben jetzt auch nicht unglaublich viel Geld, aber es gibt eine funktionierende Struktur und sie müssen nicht jedes Jahr neue Förderanträge stellen.
Als 2018 lediglich drei von zwanzig Arbeitsstipendien [des Berliner Senats] im Bereich Neue Musik an Künstlerinnen vergeben wurden, haben wir gemeinsam mit vielen Künstler:innen einen offenen Brief an Kultursenator Klaus Lederer geschrieben. Der meinte, wir sollten uns ein bisschen gedulden. Aber mit Geduld kommen wir hier nicht weiter, wir wollen eine Veränderung – jetzt! Und dafür braucht es eben auch mutige Entscheidungen aus der Politik, die es bei uns bisher nicht gibt.
Auch mit dem historischen Blick fällt auf: In England, Italien, Frankreich, USA, Polen, überall haben in den elektronischen Studios auch Frauen gearbeitet. Nur in Deutschland nicht, keine einzige. (Eine glaubte man entdeckt zu haben, Ursula Bogner, das ist aber ein Fake, eine fiktive Person, die Jan Jelinek erfunden hat.) Da muss man fragen: Woran liegt das? Vor allem an den Zugangsmöglichkeiten. In den Studios gab es in Deutschland eine noch starrere Hierarchie als anderswo.
Bei Heroines of Sound steht zeitgenössische klassische Musik neben Pop, Klangkunst und Performativem oder Installationen. Haben aber nicht einzelne Genres ihre eigenen Mechanismen der Benachteiligung von Frauen und non-binary-composers? Wäre eine stärkere Fokussierung nicht vielleicht sinnvoll, um dagegen vorzugehen?
Wackernagel: Die Künstlerinnen bewegen sich ja auch nicht nur in einem Genre. Cathy Beberian zum Beispiel hat Comics, Sound, Elektronik zusammengebracht. Das ist ein so innovativer und erfrischender Zugriff.
Vielleicht fühlen sich einige davon vor den Kopf gestoßen und finden das nicht richtig ernst zu nehmen. Suzanne Ciani hat den Plopp von Coca Cola erfunden, aber das schmälert ja ihren Verdienst als Künstlerin nicht, im Gegenteil. Sie hat eben unter anderem auch großartiges Sounddesign gemacht.
Mello: Für mich existieren nur konkrete Grenzen. Wenn ich diese Tasse runterschmeiße, zerbricht sie, das ist eine Grenze. Genregrenzen in der Kunst sind für die Wissenschaft und vielleicht das Marketing wichtig, aber für das künstlerische Schaffen zählen nur reale Grenzen: Was kann ich in diesem Raum überhaupt machen? Und als Publikum gehe ich besonders gerne dahin, wo ich nicht weiß, was passiert. Ich bin keine, die sich im Vorhinein total informiert, ich lasse mich gerne überraschen. ¶