Sasha Waltz wollte sich beim Treffen in Venedig lieber ganz auf das Gespräch konzentrieren und währenddessen nicht professionell fotografiert werden. Um trotzdem ein bisschen Atmosphäre vom Ort des Geschehens einzufangen, stelle ich die Berliner Choreografin anhand einer venezianischen Fotoserie vor. Da die Idee dazu spontan kam, ist sie allerdings mit einem geerbten iPhone 4s aufgenommen.

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Hier ist der Treffpunkt zu sehen, ein Café mit Ausstellungsraum und Blumenladen auf dem Weg zwischen Arsenale und Giardini. Sasha Waltz hatte sich diesen Ort empfehlen lassen. Es stellt sich heraus, dass es eine gute Wahl war: Ganz im Sinn der Choreografin läuft keine Hintergrundmusik.

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Ist die Einladung von Sasha Waltz mit der Wiederaufnahme von Impromptus ein Zeichen dafür, dass der Goldene Löwe der Biennale Danza nicht mehr weit ist? Und wenn ja, welcher Löwe wird es? Diese Auswahl hier steht vor dem Arsenale, einem der Hauptaustragungsorte der Biennale, darunter auch das Raubkatzenexemplar, das die Venezianer einst aus dem Hafen von Piräus entführten. Gewöhnlich wird bei der Preisverleihung aber ein geflügelter Markuslöwe, das Wahrzeichen Venedigs, übergeben.

ngst gehört Sasha Waltz zur Rollkofferspezies dieser Welt. Für Venedig hat sie eineinhalb Tage, einschließlich Bühnenprobe. Trotzdem lässt sie sich für das Interview Zeit. Und auch die Kunst-Biennale lässt sie sich nicht entgehen. Partner und Kompanie-Manager Jochen Sandig sortiert sie während des Interviews für sie vor. Motto der diesjährigen Biennale Arte: »May You Live In Interesting Times«.

Damit auch die Zukunft spannend bleibt, beziehungsweise überhaupt eine Chance hat, kümmert sich Sasha Waltz in den letzten Jahren vermehrt um Education- und soziale Kunstprojekte. 2007 hat sie, mit Unterstützung von Hanna Hegenscheidt und Livia Patrizi, eine eigene Kindertanzcompany ins Leben gerufen. 2015 gründete sie u.a. das Format Zuhören, in dem Menschen mit Fluchterfahrungen sich zu Themen aus Kunst und Politik in Zeiten von Krieg, Terror, Flucht austauschen. Auch entstanden die inzwischen legendären Dabke-Community-Dance-Events unter der Leitung von Medhat Aldaabal & Ali Hasan. Auf dem Foto ein abendlicher Blick durch die Eisengirlanden vor einem kirchlichen »Atelier Pedagogico«, in dem zurzeit der Pavillon Andorras residiert.

Gelegentlich wurde Sasha Waltz schon als Mimose bezeichnet. Wurde in Berlin die Absicht laut, die Fördergelder für die Kompanie nicht in angefragter Höhe zur Verfügung zu stellen, drohte Sasha Waltz mit Auswanderung. Allerdings: Wer je an einem Mimosenbaum gerochen hat, muss den Vergleich als Kompliment einordnen. Hier die Mimose auf dem Weg zum Aufführungsort im Arsenale.

Wasser spielt im Werk von Sasha Waltz eine große Rolle, auch als Verlängerung des musikalischen Aspekts. Berühmt wurde das Menschenaquarium als Prélude zu ihrer choreografischen Oper Dido & Aeneas. Auch in Impromptus kommt Wasser vor. Zunächst in Gummistiefeln, später öffnet sich in den schrägen Bühnenplatten ein Bassin, in dem gebadet und Bodypaint abgewaschen wird. Erstaunlich ist, dass die Tänzer:innen und Co-Choreograf:innen inzwischen 15 Jahre älter sind als bei der Uraufführung und trotzdem noch wunderbar tanzen. 15 Jahre sind unter Umständen ein ganzes Tänzerleben. Auf der Bühne: Maria Marta Colusi, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Luc Dunberry, Michal Mualem, Claudia de Serpa Soares, Xuan Shi sowie Sasa Queliz, die Clémentine Deluy ersetzt.

Blick auf das Gelände des Arsenale beim Verlassen des Theaters, im Hintergrund Skulpturen von Anthony Quinns Sohn Lorenzo mit dem Titel Building Bridges.
Blick auf das Gelände des Arsenale beim Verlassen des Theaters, im Hintergrund Skulpturen von Anthony Quinns Sohn Lorenzo mit dem Titel Building Bridges.

Ebenso erstaunlich ist, wie aktuell Impromptus 15 Jahre nach der Premiere ist: die in Zeiten von Identitätspolitik zwischen Rechts und Links verhandelte Romantikerdebatte einschließlich Heimatfrage, das Motiv des Wanderers, und natürlich das überzeitliche Zweifeln an der Liebe. Wo Schubert volksliedhaft ist, wird Sasha Waltz albern, wo er Trauermarschakkorde setzt, lässt sie Liebende ohne Dramatik einander entgleiten.

VAN: Erinnern Sie sich noch, welche Musik Sie zu der Zeit hörten, als Sie Ihre Pippi-Langstrumpf-Perücke trugen?

Sasha Waltz: Pippi-Langstrumpf war es nicht, aber eine rote Perücke, ja. Ich erstand sie, als ich auch das Sofa für Allee der Kosmonauten auf dem Flohmarkt kaufte. Was habe ich damals gehört? Für Allee der Kosmonauten, das Stück, mit dem ich 1996 die [Berliner] Sophiensaele eröffnete, hatte ich die Band ›Ich schwitze nie‹ gefragt. Das waren zu der Zeit Nicholas Bussmann, Hanno Leichtmann und Lars Rudolph, der dann später mehr ins Schauspiel gegangen ist, lange Zeit bei Frank Castorf war. Damals hat er Trompete gespielt und gesungen. Für die Choreografie haben sie eine Musik gemacht, die auf fragmentierten Schlagern aus der DDR basierte.

Aber das haben Sie nicht privat gehört.

Eher nicht. Ich war nie jemand, der auf eine bestimmte Band stand, generell habe ich immer ein sehr breites Spektrum an Musik gehört – wenig Pop, dafür Jazz, Weltmusik und eigentlich immer Klassik, vor allem aus Renaissance und Barock. Die Barockopern waren damals noch sehr, sehr verstaubt, sehr, sehr statisch. Gleichzeitig habe ich viel Neue Musik gehört, auch Vieles aus der Improvisationsszene. Im Tacheles hat Rainer Robben damals eine sehr gute Programmation gemacht und ich habe viele tolle Konzerte aus der New Yorker Szene miterlebt.

Techno und die Clubszene Berlins haben Sie sich als Tänzerin in den frühen 90ern entgehen lassen?

Natürlich, den Anfang von Techno habe ich mitgemacht. Diese ersten, völlig vernebelten kleinen Clubs, die überall entstanden, die Techno-Ekstase-Nächte mit Dimitri Hegemann, die Ständige Vertretung. Oder die ersten Love-Parades. Das war ja alles noch viel kleiner, nicht so gigantisch, wie viele Leute waren das bei den ersten Umzügen? Vielleicht 100?

Ich war leider nicht dabei. Ich kenne Ihre Stücke aus jener Zeit ja auch nur aus späteren Aufführungen. Es scheint mir, dass Sie damals im Hinblick auf Musik und Tanz sehr tanztheaterorientiert waren. Die Musik war emotional unterstützend, teils lautmalerisch.

Ich habe mich nie als Tanztheaterchoreografin bezeichnet. Wahrscheinlich ist es mein Interesse am Narrativ, was andere dazu bringt. Ich komme aus einer ganz anderen Tradition. Einerseits spielt der moderne und expressionistische Tanz darin eine Rolle. Meine erste Lehrerin, Waltraud Kornhaas, von der ich auch die gesamte Bibliothek geerbt habe, war eine Schülerin Mary Wigmans. Andererseits studierte ich an der SNDO [Schule für neue Tanzentwicklung] in Amsterdam, wo Musik von Leuten wie Pauline Oliveros unterrichtet wurde, und in New York, wo ebenfalls die postmodernen Strömungen prägend waren. Auch mein wichtigster Lehrer zu Schulzeiten stand dieser Tradition sehr nah.

Dabei geht es mehr um Körper- als um Tanztechniken.

Der Umgang mit dem Körper ist ein komplett anderer. Es geht um ein Schärfen des Bewusstseins, um ein körperliches Nach-Innen-Hören. Dadurch ist auch der Bezug zur Musik anders. Es wird viel mehr in Stille gearbeitet. Hier fällt mir inzwischen immer mehr auf, dass zu wirklich jeder Situation Musik unterlegt wird, selbst im Yoga. Ich bin kein sehr großer Fan davon. Mich interessiert viel mehr die Musikalität des Körpers, des Atems. Ich war schon immer an Improvisation und Austausch in der Begegnung mit Musikern und Musikerinnen interessiert. Für Twenty To Eight, dem ersten Stück der Travelogue-Serie (1993–1995) zum Beispiel hat [Jazz-Cellist] Tristan Honsinger die Musik geschrieben, die dann zusammen mit einem Team aus der freien Musikszene Amsterdams aufgeführt wurde. Körper (2000), wofür Hans Peter Kuhn die Musik komponierte, war dann mein erstes Stück, mit dem ich elektronische Musik entdeckt habe.

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Jetzt treffen wir uns in Venedig, wo Sie Impromptus von 2004 wieder aufnehmen. Sie sind längst mit Ihrer Company Sasha Waltz & Guest weltweit auf Tour, kümmern sich um Education- und soziale Projekte, außerdem sind Sie nun Staatsballett-Intendantin. Haben Sie eigentlich noch Zeit zum Musikhören oder arbeiten Sie mit dem, was an Sie herangetragen wird?

Musikhören ist immer Teil meines Lebens. Ja, ich gehe immer noch viel in Konzerte. Gerade zeitgenössische Musik muss man, glaube ich, live hören, weil sich die Klangerfahrung in den Aufnahmen, soweit sie überhaupt bestehen, nicht widerspiegelt. Ich brauche diese Erfahrung, diese Art der Begegnung mit Abstraktion. Was Pop-Musik angeht, ist mein Spektrum nach wie vor nicht so groß. Da bin ich nicht viel unterwegs. Außer wenn Patti Smith kommt.

Weil das Soundwalk-Collective, mit dem Sie jüngst in zwei Produktionen gearbeitet haben, und das gerade drei neue Releases mit Patti Smith angekündigt hat, Sie mitnimmt?

Nein, Patti Smith habe ich tatsächlich schon mit 14 gehört. Ich habe sie immer bewundert: für ihr Auftreten, ihre Texte, ihre politischen Auseinandersetzungen. Dafür, dass sie es sich nicht leicht macht.

Wenn Sie Musik hören wollen, setzen Sie sich nicht aufs Sofa sondern gehen ins Konzert?

Genau. Musik zum Kochen gibt es bei mir eher nicht. Außer wenn meine Tochter Musik hört. Das ist OK. Sie hat auch wirklich einen guten Geschmack: viel Musik von Frauen, viel Soul und afrikanischen Hip-Hop. Sie kennt sich außerdem sehr gut mit den dazugehörigen Bewegungsstilen aus und zeigt mir immer wieder neue Moves und die Tutorials dazu.

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Impromptus war damals Ihre erste Klassiker-Choreografie. Warum Schubert?

Es war eigentlich eine Studie zu meiner ersten choreografischen Oper Dido & Aeneas (2005). Ich habe nach etwas gesucht, an dem ich das Verhältnis zwischen Tanz und geschriebener Musik untersuchen kann, das mich aber trotzdem relativ freilässt, das heißt, einen großen Atem hat und nicht so viele formale Vorgaben. Und außerdem wollte ich auch etwas für eine kleinere Besetzung machen. Meine Tochter war damals gerade geboren, ich hatte die Körper-Trilogie (2000–2002) abgeschlossen, habe insideout (2003) kreiert – große, sehr aufwendige Stücke mit großen Besetzungen, Raumkonzepten, der Immersion der Publikumssituation… Es war mir also nach einem Kammerstück.

Zählen ist im Zeitgenössischen Tanz eher out. Auch Impromptus scheint mir nicht durchgezählt, manche Rhythmuswechsel scheinen gnadenlos ignoriert, trotzdem ist das Stück sehr nah an der Musik.

Die ersten drei Wochen habe ich tatsächlich eins zu eins zur Musik gearbeitet. Aber das fühlte sich mehr und mehr unlebendig an, eine reine Bebilderung. Ich habe also alles Material weggeschmissen und in der Stille gearbeitet. Erst danach konnten wir uns der Musik wieder sehr intensiv annähern. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Nicht der Musik hinterherrennen, sondern den Atem des Tanzes mit dem Atem der Musik verbinden. Für mich ist es ein Schwester-Bruder-Verhältnis: ein Nebeneinanderleben und Verbundensein.

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Sehr nah am musikalischen Gerüst ist dennoch auch der Pas de Deux aus Ihrer Choreografischen Oper Roméo et Juliette (2007).

Damals hatte ich mich schon so weit befreit, dass ich ganz anders mit einer konkreten Annäherung umgehen konnte. Das zeigt sich vor allem in der Art, wie ich die Pausen gegensetze. Bei Roméo et Juliette gab es in dieser Beziehung einen interessanten Fall. Ich habe den Sprung in der Musik bei Roméos letztem Solo nicht verstanden, darum habe ich in der Choreografie erst eine stille Sequenz gegengesetzt. Der Dirigent muss so etwas natürlich mittragen. Das hat [Valery] Gergiev auch getan. Bei der Recherche hat sich dann herausgestellt, dass Berlioz an dieser Stelle tatsächlich Musik herausgestrichen hatte.

Der Tänzer und Choreograph Sergiu Matis, der gerade wieder in Ihrem Sacre (2013) auftrat, sagte mir, wie sehr er den Aspekt schätzt, dass Sie mit Live-Musik arbeiten. Es sei, wie die Musik zusammen mit den Musiker:innen über eine gemeinsame Haut zu denken und zu fühlen.  

Zu Sacre muss ich erst einmal sagen: Das ist tatsächlich das einzige Stück, das wir durchzählen. Aber auch hier gilt: Erst entstehen die Struktur, das Narrativ, die Bilder, die Bewegungen, und dann brechen wir das Ganze sozusagen in Zählzeiten runter. Aber das ist nicht meine favorisierte Arbeitsweise. Es würde bei einem Stück wie Sacre nur wahnsinnig lang dauern, um es so gut zu kennen, dass es sich ganz exakt anders im Körper ablagert. Wenn man zählt, muss man ein Stück unter Umständen gar nicht so gut kennen. Der Aspekt, den Sergiu anspricht, der Live-Effekt, ist für mich wesentlich. Dabei ist auch wichtig, dass wir als Tanzende die Musik atmen lassen.

Wie koppeln die Musiker:innen diese Erfahrung zurück?

Das ist sehr unterschiedlich. Eigentlich mache ich immer positive Erfahrungen mit dem gegenseitigen Energie-Austausch. Auf diesem Prinzip beruht mein Konzept der choreografischen Oper. Ich gehe davon aus, dass Solisten, Chor, Tänzer und Orchester einen Körper bilden. Diesen Körper möchte ich organisieren und in einen Energiefluss bringen. Ich habe zum Beispiel zwei Stücke mit Barbara Hannigan gemacht. Irgendwann wusste ich, weil sie so mit den Bewegungen verflossen ist, selbst nicht mehr, wo sie auf der Bühne war.

Was zeitgenössische Musik angeht, haben Sie die Choreografie zu Wolfgang Rihms Jagden und Formen (2008/Zustand 2008) zur fertigen Komposition gemacht, mit Rebecca Saunders haben Sie parallel, aber unabhängig voneinander gearbeitet (insideout), mit Mark Andre haben Sie Musik und Tanz zusammen kreiert (gefaltet, 2012). Welche Arbeitsweise ist für Sie am spannendsten und welchen Prozess haben Sie mit Georg Friedrich Haas für die Uraufführung, die nächstes Jahr im Staatsballett erwartet wird, gewählt?

Für mich ist es am spannendsten, verschiedene Arbeitsweisen auszuprobieren. Mit Mark Andre so viel gemeinsame Zeit zu verbringen und zusammen durch eine Entwicklung zu gehen, war allerdings schon ein sehr, sehr spannender Prozess, eine einzigartige Situation! In letzter Zeit aber habe ich zum Beispiel eine Weile mit elektronischer Musik gearbeitet und es genossen, wie schnell auf unsere Bedürfnisse reagiert werden kann. Danach bin ich jetzt wieder bereit, mich einem großen musikalischen Werk zu widmen. Georg Friedrich Haas habe ich vor zwei Jahren beauftragt, wir haben uns viel ausgetauscht, auch über politische Aspekte, und ich habe einige Besetzungswünsche geäußert. Inzwischen ist das Werk, sein erstes Ballett, fertig und ich werde mit der Partitur arbeiten, in der es übrigens auch Kompositionsaufgaben für mich gibt.

Choreografien altern schneller als Kompositionen. Wie gehen Sie damit um bei Wiederaufnahmen? Ändern Sie Dinge, zum Beispiel genderneutrale Kleidung und Ähnliches?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein Stück nach etwa 20 Aufführungen fertig ist. Eine Choreografie ist dann ähnlich in die Körper eingeschrieben wie eine Partitur auf Papier. Danach berühre ich sie nicht mehr, auch wenn es noch Probleme oder Fehler gibt. Ich lasse sie stehen und muss sie dann im nächsten Stück lösen. ¶

... freie Journalistin und Publizistin, schreibt (über) Tanz, Performance, Poesie und Sozialpolitisches für Tageszeitungen, Magazine, Künstlerbücher und Live-Formate. Sie entwickelt dialogische und öffentliche Formate im Bereich Kreatives Schreiben, Kunst- und Gesellschaftskritik.