
Auf vielfältige Weise beschäftigen sich bei der Ruhrtriennale 2019 Künstler*innen mit der eigenen privilegierten europäischen Existenz. Dabei stellt sich die Frage: Wer darf wen in welchen Kontexten repräsentieren? »Die Krise der Repräsentation entsteht aus der Erkenntnis, dass die europäische Demokratie immer auch schon eine rassistische Konstruktion war, die auf Macht und Privilegien beruht«, so Festival-Intendantin Stefanie Carp. »Gleichzeitig ist es zwingend notwendig, die Idee der Demokratie zu verteidigen, sich mehr denn je für eine diverse, offene Gesellschaft und transnationale Öffentlichkeit einzusetzen und somit die Demokratie herzustellen, die es im Sinne von Gleichheit zu keiner Zeit gegeben hat.« Wir stellen hier in vier Texten Musiker*innen vor, die bei der diesjährigen Ruhrtriennale Möglichkeitsräume ausloten.
in vain von Georg Friedrich Haas ist am 14. September mit dem Klangforum Wien in der Kokerei Zollverein in Essen zu hören. Es gewinnt aus dem Neben- und Übereinander von normaler temperierter Stimmung und mikrotonalen Intonationen in reiner Oberton-basierter Stimmung klanglich ungemein reizvolle, ja seltsame perspektivische Verzerrungen des Hörbildes. Dieser Eindruck verstärkt sich durch sehr langsam verlaufende, ausgedehnte Verwandlungen absteigender Tonfolgen, die ein Trugbild endloser Spiralen erzeugen, oder, wie Haas es ausdrückt, das »Zurückkehren in überwunden geglaubte Situationen«.
In VAN sprach Georg Friedrich Haas zum ersten Mal offen über BDSM in seiner Ehe mit der Performerin Mollena Williams-Haas.
In Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend beschäftigen sich Christoph Marthaler, Uli Fussenegger und Stefanie Carp mit dem Verlust von Demokratie. Heute drohen in nicht wenigen Ländern Europas demokratische Strukturen einem neuen Totalitarismus zu weichen. Antidemokratische und aggressive Exklusion, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus sind wieder gesellschaftsfähig geworden. Hier finden sich gewisse Ähnlichkeiten zur Situation in den Jahren vor 1914, in denen sich ideologisch zusammenbraute, was sich dann in zwei Weltkriegen und im Holocaust entlud. Die Produktion ist bei der Ruhrtriennale 2019 an neun Abenden zwischen dem 21. August und dem 1. September zu erleben. Mit dabei ist unter anderem auch Tora Augestad, die in VAN erklärte, was das Besondere an der Zusammenarbeit mit Christoph Marthaler ist.
Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend ist den aus Prag und Wien vertriebenen Komponisten wie Pavel Haas, Viktor Ullmann, Alexandre Tansman, Józef Koffler, Erwin Schulhoff, Gideon Klein, Szymon Laks und Erich Wolfgang Korngold gewidmet. Sie wurden deportiert, ermordet oder gingen in die Emigration. Die Musik erklingt in einem imaginierten Parlament, in dem Abgeordnete dokumentierte Reden aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, der Gegenwart und der nahen Zukunft halten, die katastrophale Zivilisationsbrüche bezeugen. Die musikalische Leitung hat bei diesem Projekt Uli Fussenegger inne. In VAN sprach der Bassist sowie Leiter und Koordinator für Zeitgenössische Musik an der Hochschule für Musik in Basel über die wachsende Notwendigkeit der Selbstlegitimierung im Bereich der Neuen Musik.
Der berühmte Pianist Orlac verliert bei einem Zugunglück beide Hände. In der Folge werden ihm die Hände eines Mörders angenäht. Der in seiner künstlerischen Identität völlig verunsicherte Orlac steigert sich in Zustände von Panik und Angst. Die Vorstellung, dass in seinen Händen die Psyche eines Gewaltverbrechers stecken könnte, ruft bei ihm Grauen und Entsetzen hervor. Robert Wiene drehte Orlac’s Hände 1924, vier Jahre nach Das Cabinet des Dr. Caligari.
In der Filmmusik von Johannes Kalitzke (2017) für drei Pianist*innen und Streicher*innen wird der traumatisierte Orlac durch die Paraphrasierung einer bereits im Film verankerten Nocturne von Chopin porträtiert. Wie eine durchgehende idée fixe wird diese Musik je nach dramaturgischer Situation stetig verwandelt. Basis einer elektronischen Klangerweiterung sind perkussive Klänge aus dem Innenraum des Klaviers. Sie spiegeln klanglich die Schreckensbilder und Angstgefühle im Inneren von Orlacs Kopf. Bei der Ruhrtriennale ist dieser Trip am 22. September in der Lichtburg Essen zu erleben. Es spielen live Benjamin Kobler, Per Rundberg, Philipp Vandré und das Ensemble Resonanz, für das VAN den Umzugshelfer gespielt hat.