Ende einer Musik–Gruppenunterrichtsstunde. Eine Studentin fragt, ob es in Ordnung wäre, wenn sie in der nächsten Woche ausnahmsweise fehlt – sie muss zu einem Videodreh. Gegenfrage des Dozenten: »Ach, drehst du einen Porno?« Meine Reaktion: »Wie bitte?« Mehr nicht. Sonst hat niemand etwas gesagt.

Wir müssen im Musikhochschulkontext mehr über sexuelle Belästigung nachdenken und reden. Denn Musikhochschulen sind Orte mit ganz besonderen Strukturen, die sexuelle Belästigung begünstigen. Dabei stellt sich natürlich die Frage: Worüber genau reden wir denn da? Was kann »sexuelle Belästigung« im Musikhochschulkontext alles bedeuten? Und hier wird’s direkt schwierig: Was für die eine Studentin völlig in Ordnung ist, kann sich für den anderen Studenten übergriffig anfühlen. Oft würden die Opfer Erlebnisse, die unter diese Kategorie fallen können, wahrscheinlich selbst gar nicht als sexuelle Belästigung beschreiben, sondern als Situationen, die irgendwie komisch waren und ihnen ein ungutes Gefühl gegeben haben.

Im von Prof. Freia Hoffmann herausgegebenen Sammelband »Panische Gefühle. Sexuelle Übergriffe im Instrumentalunterricht« zählt ein Aufsatz zu sexuellen Übergriffen an Musikhochschulen verbale Belästigungen (anzügliche Witze und Bemerkungen, Bemerkungen über den Körper der oder des Studierenden), Bestechung und Zwang (Annäherungsversuche von Lehrenden, verbunden mit dem Versprechen von Vorteilen oder Androhung von Nachteilen), das Aufdrängen einer privaten Beziehung (unerwünschte Einladungen mit eindeutiger Absicht, Thematisierung von Privatem, was nichts mit Unterricht zu tun hat), unerwünschte Körperberührungen, sexuelle Aufforderungen oder Handlungen und Vergewaltigung (im selben Buch finden sich auch zahlreiche Erfahrungsberichte von betroffenen Musikstudentinnen). All diese Handlungen stellen einen Machtmissbrauch dar – und sie führen gleichzeitig dazu, dass das Machtgefälle zwischen Lehrenden und Studierenden sich noch weiter verstärkt. Auch wenn solche Erlebnisse von den Studierenden nicht als sexuelle Belästigung wahrgenommen werden, sorgen sie für ein Sich-unwohl-Fühlen und wirken sich auf unterschiedlichste Arten negativ auf den weiteren Studienverlauf aus.

So berichtet mir Musikstudentin Anna: »Ich hatte einen Professor, der auf mich stand, der das auch kommuniziert hat. Jetzt sind wir erwachsene Leute – aber wie reagierst du da? Du bist ja in einem ganz anderen Machtverhältnis, als wenn du jetzt zum Beispiel jemanden im Club triffst. Ich war in dem Konflikt, dass ich bei dem Professor auch Leistungspunkte erbringen muss, dass ich dort Arbeiten abzugeben habe. Und wie verhält man sich den anderen Studierenden im Raum gegenüber, weil man ja eine ganz andere Beziehung zu dem Lehrer hat? Was ich erst gemacht ist: ihm aus dem Weg zu gehen. Wenn man dann die Seminare deswegen nicht besucht, obwohl sie einen eigentlich interessieren, ist das natürlich schwierig. Ich hab dann nach sechs Monaten des Ignorierens mit ihm im Gespräch geklärt, dass ich kein Interesse habe. Und das hat tatsächlich einen Bruch gegeben mit dem Professor.« (In der englischsprachigen VAN erzählt Jeffrey Arlo Brown in einem sehr persönlichen Erinnerungsprotokoll von ganz ähnlichen belastenden Erlebnissen.)

Die meisten problematischen Situationen entstehen, so schätzt es auch Freia Hoffmann ein, zwischen männlichem Dozenten und weiblicher Studentin. Ich kenne allerdings auch den Studenten, dem die Gesangslehrerin einen Klapps auf den Po gegeben hat, oder den Instrumentalisten, dessen Dozent ihm im Unterricht körperlich immer näher kam – was für den Studenten sehr belastend war. Auch, weil an der Hochschule die Frauenbeauftragte die einzige Ansprechpartnerin für Fälle von sexuellen Übergriffen war und der Student nicht das Gefühl hatte, sich an sie wenden zu können.

Statistische Erhebungen, wie verbreitet sexuelle Belästigung an deutschen Musikhochschulen ist, gibt es leider nicht. Eine im Jahr 2000 veröffentlichte Studie aus der Schweiz vergleicht Musikhochschulen, beziehungsweise Konservatorien mit »normalen« Universitäten und zeigt zum Beispiel, dass von den nicht ganz 300 befragten Studierenden an zwei Konservatorien jede*r Zehnte schon einmal körperliche Annäherungsversuche (»aufgedrängte Umarmungen, Küsse und so weiter«) erlebt hat – an »normalen« Universitäten waren es nur 3% der Studierenden. Jede fünfte Musikhochschulstudentin gab außerdem an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein.

Warum sind also gerade Musikhochschulen Orte, an denen sexuelle Belästigung innerhalb der Ausbildung immer wieder zum Problem wird? Mir scheinen dabei die folgenden 5 Punkte entscheidend zu sein:

1. Intimität und Machtgefälle in der Zweier-Konstellation Student*in – Lehrer*in

In der künstlerischen Ausbildung findet ein Großteil des Studiums zu zweit hinter verschlossenen Türen statt. »Weil wir zu 80% im Einzelunterricht unterrichten, ist natürlich diese besondere Abgeschiedenheit, diese Intimität, die ja auch nötig ist, eine besondere Herausforderung. Das ist in einem Hörsaal oder Seminarraum anders«, erklärt mir Prof. Heinz Geuen, der Rektor der Hochschule für Musik und Tanz Köln am Telefon. Eine sehr enge Betreuung also – aber alles andere als auf Augenhöhe. So erlebt es auch Julius Giesler, der sich als Schulmusikstudent und vor allem ASTA-Mitglied der Musikhochschule in Köln ausführlich mit den Themen sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch auseinandergesetzt hat: »Wir Studierende sind notentechnisch oft vollkommen von dem einen Prof abhängig. Deswegen trauen sich auch nicht viele Studierende, auch mal ›Nein‹ zu sagen.« Der Lehrer*innen-Wechsel ist außerdem schwieriger als an anderen Hochschulen – oft gibt es für ein Instrument nur eine Lehrkraft, oder zumindest wenige. Zu einer anderen Dozentin oder einem anderen Dozenten zu gehen, ist sehr viel komplizierter, als sich an der Uni einfach in ein anderes Seminar zu setzen – und man will es sich in der oft kleinen jeweiligen Szene mit niemandem verscherzen.

2. Körper – allgegenwärtig und gleichzeitig tabuisiert

Der Körper der Studierenden steht im Musikstudium ständig im Mittelpunkt. »Der Unterricht kann kaum stattfinden ohne Körperarbeit, die Lehrkraft muss die Atmung, die Haltung, die Spielbewegungen schulen«, erklärt Freia Hoffmann (Professorin für Musikpädagogik, Leiterin des Sophie Drinker Instituts für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung und Herausgeberin des Sammelbandes »Panische Gefühle«). Die Hand der Lehrkraft, die im Gesangsunterricht auf die Flanken der Studentin oder des Studenten gelegt wird, um zu zeigen, wo diese sich beim Atmen dehnen müssen, kann für den einen sehr hilfreich und für die nächste sehr unangenehm sein. Trotzdem fragen nur wenige Lehrkräfte, welche Art von Berührung die Studierenden weiterbringen und welche ihnen nicht so lieb sind. Viele Lehrkräfte haben, so scheint es mir, mittlerweile Angst vor den Körpern der Studierenden und verkrampfen oder verstummen selbst völlig, statt das Gespräch zu suchen. Die Schweizer Studie bringt ein Paradox der Musikausbildung auf den Punkt: »Der Körper ist zentraler Bestandteil der Ausbildung, er wird in die Ausbildung integriert, ist Gegenstand der Bearbeitung […] Umso erstaunlicher ist der Befund, dass der Umgang mit Körperlichkeit, der Beziehung zum Körper kein offizielles Thema an den Musikhochschulen ist […]. Die Thematisierung von körperlicher Nähe und Distanz ist im offiziellen Angebot nicht vorhanden.«

3. Emotionen und Sinnlichkeit – und wo die Kunst sie (nicht) braucht

»Zur notwendigen Nähe zwischen Lehrenden und Studierenden kommt sicher auch die emotionale und sinnliche Wirkung der Musik. Der Unterricht kann nur gelingen, wenn Vertrautheit und Intimität in einem geschützten Raum erlebt werden. In diesen Raum, wenn es sich um Einzelunterricht handelt, haben aber Dritte, im wörtlichen und übertragenen Sinn, keinen Einblick. Das macht die Situation in der Musikausbildung anfällig«, erklärt Freia Hoffmann. In ihrem Buch »Panische Gefühle« erzählt eine Studentin von ihrem Geigendozenten, der es für nötig hielt, ihr gegenüber ausführlich mit Bildern wie »die Geige ist die Frau und der Bogen ist der Mann« und im vollen Bewusstsein der Doppeldeutigkeit mit Gedankenspielen über die hier entstehende »Reibung« zu arbeiten. Diese sexuell aufgeladenen Bilder haben mit dem Geigen nichts zu tun, sie sind völlig fehl am Platz. Andererseits: Wenn man Cherubino-Arien studiert, wird man nicht darum herumkommen, auch darüber zu reden, dass hier ein Heranwachsender nicht weiß wohin mit seiner sexuellen Energie. Aber auch, wenn es nicht konkret um Sex geht in einem Stück, werden oft Vergleiche aus diesem Feld herangezogen, um die Wirkung oder den Charakter der Musik zu erklären. Das kann auch völlig unproblematisch sein, zum Beispiel, wenn Dieter Schnebel in seiner Vorlesung vor einem vollen Hörsaal die Stimmung seiner Komposition mit dem »Gefühl von Haut an Haut« oder andere Stellen mit Orgasmen vergleicht. Wäre ich mit ihm alleine im Raum gewesen, hätte ich mich bei solchen Ausführungen wahrscheinlich aber auch unwohl gefühlt. Es hängt alles vom Rahmen und dem Verhältnis der beteiligten Personen ab. Und dieses Verhältnis kann die Lehrkraft völlig anders einschätzen als die Studentin oder der Student (das gleiche gilt natürlich auch andersrum, hier können auch für die Lehrkräfte Momente der sexuellen Belästigung entstehen).

4. Künstler*innen und ihr Selbstverständnis

»Bei Musikern hat man es manchmal –  nicht immer! – mit besonderen, erfolgsverwöhnten, selbstverliebten Menschen zu tun. Zum Nimbus des großen Künstlers gehört traditionell seine erotische Anziehungskraft, seine Wirkung auf Frauen, die Selbstverständlichkeit, mit der er bewundert und begehrt sein möchte. Und wo er Macht hat, gehört es unter Umständen dazu, dass er sie zur Durchsetzung seiner erotischen und sexuellen Bedürfnisse nutzt – und sei es nur mit anzüglichen Bemerkungen, Witzen, die andere in seiner Umgebung erniedrigen, verletzen, auf ihre Sexualität reduzieren« (Freia Hoffmann). Die Schweizer Studie zeigt außerdem, dass auch das Victim blaming, also die Darstellung und Beschuldigung der Opfer als Verführer*in an Konservatorien häufiger vorkommt, vielleicht, weil Künstler*innen mit ihrer Kunst eben auch verführen sollen, weil das von der Figur des Künstlers oder der Künstlerin so erwartet wird.

5. Organisiert euch!

Die Kooperation und gegenseitige Unterstützung der Studierenden untereinander ist an Musikhochschulen geringer als an anderen Hochschulen. Die allermeiste Zeit verbringt man allein in der Übezelle – nicht der beste Ort, um sich zu vernetzen. Nur an wenigen Musikhochschulen bestehen aktive Fachschafts-Initiativen oder ASTAs. Auch schon vor dem Studium finden wegen des Übepensums nur wenige zukünftige Musikstudierende Zeit, sich politisch oder gesellschaftlich zu engagieren und fangen dann auch im zeitintensiven Musikstudium nicht damit an.

Und wie steuern die Musikhochschulen da gegen? Erstmal lange gar nicht. Vor zehn Jahren gab es außer den Frauenbeauftragten, die an den Musikhochschulen irgendwie auch für weibliche Opfer sexueller Belästigung zuständig waren, keine Anlaufstellen – geschweige denn Richtlinien gegen sexuelle Belästigung, Infoveranstaltungen oder Workshops. Das hat sich mittlerweile etwas verbessert, allerdings nur an einigen Hochschulen. Überhaupt keine Infos zu sexuellen Belästigungen, Übergriffen oder Machtmissbrauch findet man auf den Webseiten der Musikhochschulen in Karlsruhe, Stuttgart, Hamburg, Hannover, Detmold, Saarbrücken und Lübeck. Weibliche Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte sind in Berlin (an der UdK), Nürnberg und Mainz, zumindest laut Webseite, weiterhin die einzigen Ansprechpartnerinnen. Wie gut die dann psychologisch und juristisch für den Ernstfall geschult sind, ist die nächste Frage. Richtlinien zum Schutz vor sexueller Belästigung finden sich auf den Webseiten der Musikhochschulen in Freiburg, Mannheim, Frankfurt am Main, Rostock und Leipzig. Hier werden unter anderem meist mehrere mögliche Ansprechpartner*innen genannt.

Umfangreicher gehen die Musikhochschulen in München und Köln und die HfM Hanns Eisler das Problem an. Hier lassen sich neben Richtlinien im Internet ausführliche Informationen über sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch, oft auch auf Englisch finden – und zwar nicht nur für Studierende, sondern auch für Lehrende, die ihren Unterricht sensibel gestalten wollen. Die Musikhochschule in Köln bietet ein ausführliches eigenes Workshop-Programm an, ebenfalls für Studierende und Lehrende. In München wird bei einem ähnlichen Workshop-Programm mit der Universität kooperiert. Die UdK veranstaltet im November ebenfalls einen ersten Workshop – wie nachhaltig das Angebot angelegt ist, bleibt abzuwarten. Auch in Trossingen gab es bereits einen Workshop zu »Machtstrukturen«, der auch das Thema sexualisierte Gewalt beinhaltete. Freia Hoffmann berichtet mir außerdem von Präventionstagen in Düsseldorf und Weimar. Darüber hinaus gibt es seit 2016 eine Arbeitsgruppe der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen zu sexuellen Diskriminierungen, Belästigungen und Übergriffen.

Ich habe mir im vergangenen Monat die »Wir sagen nein«-Kampagne der HfMT Köln genauer angeschaut. »Wenn Fälle von sexueller Belästigung passieren, dann muss man natürlich tätig werden und die Betroffenen schützen. Aber da ist der Schaden dann ja eigentlich schon entstanden. Wir wollen das Thema eigentlich so platzieren, dass es auch für potentielle Täter schwierig wird, sich hinter so einer Anonymität zu verstecken. Prävention ist uns sehr wichtig«, erklärt Rektor Heinz Geuen. Der Anstoß, sich mit Fragen zu sexueller Belästigung und Machtmissbrauch zu beschäftigen, sei von den Studierenden gekommen. Darauf folgte die Gründung einer Arbeitsgruppe, in der Lehrende aus allen Fachbereichen, Studierende und Mitarbeiter*innen aus Verwaltung, Mittelbau, Rektorat, Öffentlichkeitsarbeit und Qualitätsmanagement vertreten sind und die die »Wir sagen nein«-Kampagne plant und umsetzt.

In diesem Semester werden in allen Unterrichtsräumen Plakate aufgehängt:

Die ursprüngliche Idee, Glasfenster in die Türen einzubauen, ließ sich wegen des  Denkmal- und Schallschutzes und der Kosten nicht umsetzen. Schon im letzten Jahr gab es eine Podiumsdiskussion und jeweils drei Workshops für Studierende und Lehrende. In diesem Semester wird das wiederholt.

Weil ich mir nicht wirklich vorstellen kann, was in so einem Workshop passiert, spreche ich mit Angelo Bard, der einen Tag mit Studierenden zum Thema »Kommunizierst du schon oder schweigst du noch?« gearbeitet hat – der für die Lehrenden geplante Workshop fand wegen zu weniger Anmeldungen nicht statt. Bard ist Geiger bei den Essener Philharmonikern, dort im Vorstand und außerdem ausgebildeter Mediator. Im Workshop in Köln hat er einen Tag lang mit zwölf Studierenden überlegt: Wo sind überhaupt meine körperlichen und seelischen Grenzen? Was ist mir wichtig, was sind meine Grundsätze? Und dann: »Was hindert mich daran, in einer Situation, in der mich was stört, was zu sagen? Welche Ressourcen fehlen mir da? Um dann zu schauen: In welchen Situationen habe ich solche Ressourcen schon gehabt? Zum Beispiel: Wann war ich mal richtig mutig? Was waren da die Bedingungen, was hat da gestimmt, als ich mutig war? Was ist eigentlich meine Rolle als Student? Ist es wirklich dieser eine Professor, von dem alles abhängt? Dieses Gefühl hat man als Student total, gerade als Musikstudent, weil es eine Eins-zu-eins-Betreuung ist. Nur: Macht es so viel Sinn, bei einem Prof zu studieren, mit dem man sich eigentlich gar nicht wohlfühlt? Und dann zu schauen: Was brauche ich, um da rauszukommen?«

Studierende zu unterstützen und zu ermutigen ist absolut wichtig und wird auch an anderen Musikhochschulen so gemacht. Die große Stärke der  Kölner Kampagne sehe ich darin, dass gezielt auch die Lehrpersonen zum Nachdenken gebracht werden sollen – jetzt müssen sie nur noch hingehen.  Gerade von Seiten der Lehrenden wünsche ich mir oft eine andere Art der Kommunikation, genau wie der Kölner Student Julius Giesler, besonders, wenn es um die Frage geht: Anfassen oder nicht? »Ich finde es immer wichtig, dass man so was ganz transparent macht und dass man als Lehrer auch immer andere Möglichkeiten parat hat. Ein Posaunenlehrer hier am Haus sagt zum Beispiel: ›Ich kann Atmung auch mit Bildern zeigen. Das nicht ganz so gut, geht aber.‹ Dann hat er die Möglichkeit, zu fragen: ›Möchtest du das oder nicht?‹ Und kann, wenn er merkt, dass es keine gute Situation ist, einen anderen Weg wählen, die Sachen zu vermitteln. Das würde ich schon als die Aufgabe der Lehrenden sehen, sich Gedanken zu machen, wie man so was anders vermitteln kann.« Und dann auch zu erfragen, ob das für die Studierenden so passt. »Ich bin der Meinung, jeder gute Lehrende muss sich Feedback von seinen Schülern holen und sich dann auch kritisch hinterfragen. Diese Kultur ist bei uns noch sehr zurückhaltend, um es vorsichtig auszudrücken.«

Ich habe mit einer solchen Offenheit sehr gute Erfahrungen gemacht. Mein Geigenprofessor hat auch nach drei Jahren jedes Mal gefragt, ob er mir zum Beispiel mit der Hand etwas Gewicht auf die rechte Schulter geben darf, wenn ich die mal wieder zu hoch gezogen habe. Ich fand das nicht anstrengend, sondern sehr rücksichtsvoll und angenehm.

Soll man also, wenn die Lehrkräfte nicht von selbst kommen, solche Workshops verpflichtend einführen? Julius Giesler fordert genau das: »Die meisten Professoren bei uns sind in erster Linie Künstler und weniger Pädagogen. Deswegen ist es total nachvollziehbar, wenn jemand über die Tücken dieser besonderen Lehrer-Schüler-Situation nicht Bescheid weiß. Deswegen sollten alle, die hier unterrichten, eine Schulung machen, um über diese Dinge nachzudenken.« Auch Freia Hoffmann meint: »Ich halte sehr viel davon. Solche Präventionsprogramme richten sich selbstverständlich nicht nur an potentielle ›Täter‹, sondern können ein Kollegium insgesamt sensibilisieren für den Umgang mit den Studierenden, für eine achtsame Sprache, für den respektvollen Umgang mit einem autonomen Gegenüber. Und sie können dazu beitragen, dass Lehrende auch untereinander aufmerksam sind, dass sie gemeinsam Verantwortung übernehmen für eine entsprechende Kultur ihrer Institution.« Ein Pflichtworkshop für alle Lehrenden ist allerdings laut Rektor Heinz Geuen juristisch nicht umsetzbar. Deswegen versucht die Kölner Musikhochschule, auf anderem Wege zu einer achtsameren Kultur zu kommen: Mit Leitfäden zur Vermeidung von sexueller Belästigung, die Neuberufenen zur Unterschrift vorgelegt werden, mit Plakaten, Podiumsdiskussionen und freiwilligen Workshops. Damit ist man in Köln schon Meilen weiter als an vielen anderen Musikhochschulen.

Zwei weitere wichtige Anregungen hat außerdem Studentin Anna: Sie stört sich völlig zu Recht an den nach wie vor gepflegten Frauen- und Männerbildern in der Klassik-Welt – auch die haben sicherlich Einfluss auf den Umgang mit Körpern und Sexualität und damit auch die Gefahr der sexuellen Belästigung. Diese Klischees werden als solche nie benannt und anders als zum Beispiel in der Bildenden Kunst auch so gut wie nie zum Gegenstand der Kunst gemacht. Darum fordert Anna, an Musikhochschulen mehr über die dort herrschenden Frauen- und Männerbilder nachzudenken, über sie zu reden und: besondere Persönlichkeiten sichtbar zu machen – zum Beispiel bewusst Konzerte mit Musik von Komponistinnen zu gestalten »Und dann nicht sagen: ›Die gucken wir uns jetzt an, weil sie eine ›starke Frau‹ ist‹, sondern: ›Wir spielen das, weil die Musik, die sie macht, gut ist.‹«

Und, zweiter Vorschlag: Das persönliche Im-Hochschulalltag-präsent-Sein der Ansprechpartner*innen für den Fall, dass man sie braucht. Mittlerweile studiert Anna in einer anderen Fachrichtung. Hier hat sie bei der Einführungsveranstaltung erlebt, dass sich die Frauenbeauftragte persönlich vorgestellt, den Studierenden ihre Handynummer gegeben und gesagt hat: »Wenn irgendwas ist, meldet euch bei mir, dann gehen wir einen Kaffee trinken und sprechen darüber.« An so jemanden würde ich mich auch viel eher wenden als an irgendwen, bei dem ich erstmal erfragen muss, wer Professorin Soundso denn eigentlich ist.

Ich halte auch und gerade die Sichtbarkeit im Hochschulalltag für besonders wichtig: Die Sichtbarkeit der Ansprechpartner*innen, die Sichtbarkeit des Problems statt seiner Tabuisierung – um das Thema und die eigene Position dazu im Blick zu behalten. Damit ich es, falls ich nochmal grenzüberschreitende Situationen wie die mit dem Porno-Spruch erleben sollte, nicht wieder verpasse, zu reagieren. Damit ich selbst, falls ich mal Opfer werden sollte, überhaupt verstehe, was da eigentlich gerade passiert mit mir und warum ich das Recht habe, mich zu beschweren. Oder, noch besser: Damit alle Beteiligten sich Gedanken machen und diese kommunizieren, bevor es überhaupt zu sexueller Belästigung kommt. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

Eine Antwort auf “Über Intimität und Machtgefälle, Kunst und Körper, Sinnlichkeit und Tabus.”

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