Vor einigen Jahren hatte ich einen Termin bei einem Neurologen. Dort wurde ein EEG gemacht. Man sitzt dabei mit einem Elektroden tragenden Haarnetz auf dem Kopf vor einer starken Lampe, hält die Augen geschlossen und lässt sich anblitzen. Die Reaktion des Gehirns auf das in immer höherer Frequenz flimmernde Blitzlicht wird von einer Software aufgezeichnet. Ich weiß nicht mehr, bei wie vielen Hertz es war, dass ich plötzlich eine Spirale aus abwärtsfallenden Lebkuchenmännern sah. Ich sagte dies der Assistentin, die den Test durchführte. Ich glaube, ich sehe Lebkuchenmänner. Darauf meinte sie: Wir versuchen noch eine höhere Stufe, danach ist genug. Auch bei dem nun geringfügig schneller blitzenden Licht sah ich das unglaubliche Bild hinter meinen geschlossenen Augenlidern: abwärtsfallende Lebkuchenmänner, Millionen von ihnen, ein ganzer Kosmos voll. Ich musste die Augen aufmachen, da mir von dem Anblick schwindlig wurde. Eine solche visuelle Halluzination sei ganz normal, beruhigte mich die Assistentin, die meisten Menschen erleben etwas Ähnliches bei dieser Art von Stimulation. Aber warum Lebkuchenmänner?, fragte ich. Sie sagte, es sei für jeden etwas anderes, die Sehrinde werde eben dazu gebracht, irgendetwas zu tun. Und in meinem Fall bringe sie offenbar Lebkuchenmänner hervor. Millionen davon, sagte ich. Ja, sagte die Assistentin.

Aus diesem Erlebnis habe ich nicht besonders viel gelernt, abgesehen davon, dass ich nun, wenn ich bestimmte Musik höre und mir ihre Strukturen zu visualisieren versuche, ein Referenzgefühl besitze, mit dem ich deren Wirkung beschreiben kann. Klassische Beispiele für eine solche Musik sind die polyrhythmischen Klavierstücke von György Ligeti oder Conlon Nancarrow, die recht berühmt sind und über die viel geschrieben wurde. Auch Karlheinz Stockhausens letzte Komposition, Paradies, für Flöte und Elektronische Musik (die 21. Stunde aus KLANG) aus dem Jahr 2007, erzeugt dieses Gefühl, ein brüchiges, seltsames Licht erfüllt dieses Stück, das man kaum mit ruhiger Seele anhören kann. Ein anderes, weniger oft kommentiertes Beispiel, das bei mir das ungeheure Lebkuchenmännchengefühl hervorruft, ist die Musik der in Berlin lebenden Komponistin Unsuk Chin, vor allem ihre sechs Klavieretüden.

Es sind hochvirtuose Stücke, die man, so vermute ich, nicht langsam spielen darf, denn dann würde man nichts mehr hören und sehen, ähnlich wie wenn man zu langsam an einem Zaun vorbeigeht und so das hinter dem Zaun hervorblitzende Leben nicht als zusammenhängendes Bild, sondern nur als disparate Einzelaufnahmen wahrnimmt. Die erste Etüde, In C ist, wie der Name verrät, tatsächlich um diesen Grundton gebaut. Sie ergibt einen mysteriös-kontemplativen, aber zugleich sehr harmonischen Eindruck. In mehreren langsamen Atemzügen bauen sich immer wieder turmhoch flimmernde Strukturen auf. Im zweiten Teil werden die ineinander verschachtelten Rhythmen so dicht, dass sie das Lebkuchenmännchengefühl erzeugen. Die Etüde steuert einem Höhepunkt zu, aber dann, ohne dass es zu einem explosionsartigen Ausbruch kommt, reißen sich einzelne Melodielinien im hohen Register los und wehen einfach davon.

Unsuk Chin Piano Etude No.1 (in C)

Am klarsten stellt sich bei der Etüde Nr. 5, Toccata, das Lebkuchenmännchengefühl ein. Die schon durch den Titel suggerierten kurz und abgehackt gespielten Noten bauen sich mehrschichtig zu einem ungeheuren Gebilde zusammen, das man sich viele Male anhören kann, um stets neue und scheinbar unabhängige Muster zu erkennen. Die Etüde verwendet die dem westlichen Ohr recht vertraute Obertonreihe als wechselnden harmonischen Hintergrund für die sich ineinander schiebenden und schraubenden Teile. Manche Etüden von Unsuk Chins Lehrers György Ligeti sind hier recht deutlich als Einfluss herauszuhören, aber das Stück besitzt eine Leichtigkeit, die die Klavieretüden von Ligeti nicht besitzen. Der Eindruck ist vielmehr einer von etwas Funkelndem und Rundem. Die Rhythmik wird gegen Ende zu komplex, als dass mein Ohr sie noch in ihre Bestandteile zerlegen könnte. Selbst Mitlesen im Manuskript hilft nichts, denn es ist ja Zauberei, da bietet der Quelltext auch keinen Schlüssel. Bei Beethoven und Schumann, ja selbst bei Boulez kann ich mitlesen und auf diese Weise manches erkennen. Hier fällt mir nur der berühmte Vers von Rilke aus der achten Duineser Elegie ein:

Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

Herrlich, wenn Musik so etwas vermag. Und mir fällt auch eine Stelle in Peter Handkes 1975 erschienenem Roman Die Stunde der wahren Empfindung ein, welche das geradezu mehrstöckige Hörerlebnis von Unsuk Chins Etüden ein wenig zu beschreiben scheint. Der Protagonist des Romans, Gregor Keuschnig, ist Pressereferent der österreichischen Botschaft in Paris und erwacht eines Morgens aus einem unguten Traum, in dem er ein Mörder war, mit völlig veränderten Sinnen. An einer Stelle erinnert er sich an eine bestimmte Wahrnehmung:

Einmal war er mit der Métro der Linie 9 durch ganz Paris gefahren, nur um zu erkennen, was die Reklamewandbemalung für Dubonnet genau darstellt, an der man in den dunklen Schächten zwischen den Métrostationen in regelmäßigen Abständen vorbeifährt. Der Zug fuhr so schnell, daß er immer nur denselben kleinen Teil der Reklamefläche sah, nie das Ganze, und aus dem Teil nicht klug wurde. Eigentlich hatte er schon in der Stadtmitte aussteigen wollen, aber so fuhr er bis zur Porte de Charenton am Südostrand von Paris, wo der Zug an einer Baustelle langsamer fuhr, bis er endlich sah, daß die undefinierbaren Flecken bunte Wolken darstellten und die Kugel davor eine Art Sonnenglobus mit den Farben aller Länder, in denen Dubonnet getrunken wurde… Früher war manchmal alles zu schnell abgelaufen, und er lief mit, weil er es wiedererkennen wollte. Seit der letzten Nacht aber war etwas stehengeblieben.

Gerade dieser letzte, etwas unheimliche letzte Satz beschreibt den Eindruck, den die kurzen Codas in Unsuk Chins Klavieretüden hervorrufen, auf sehr präzise Weise. Ein Uhrwerk, das nicht einfach anhält, sondern irgendwie eingewirkt ist in das Bewusstsein, so als tauchte man etwas Lebendig-Zappelndes in dicke Milch. Man kann es kaum fassen, dass derartige Komplexität sich so schnell zusammenfalten und der Stille überantworten lässt.

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Unsuk Chin Piano Etude No.5 (Toccata)

Meine liebste Etüde ist die sechste, Grains. Rasch wiederholte Einzelnoten läuten immer wieder durch das Stück, wie Alarmklänge. Dazwischen gibt es aufsteigende und fallende Noten-Eruptionen, »Schwälle« nenne ich sie in meinem Kopf, obwohl das Wort nicht wie korrektes Deutsch aussieht. Wie an einer gespannten Wäscheleine hängen diese Schwälle jedenfalls an dem oft wiederholten Gis, jeder kurze Ausbruch muss sich am Ende fügen und wieder zusammenschrumpfen auf die Größe des einzelnen Tons. Der Titel bezieht sich übrigens auf die sogenannte »Granularsynthese«, eine Technik, mit der bestimmte Synthesizer Klänge erzeugen. Ich habe versucht, darüber zu lesen, und mir auch ein Youtube-Tutorial dazu angesehen, aber ganz verstanden habe ich es nicht. Ich werde also einfach mit meinem Gehör weitermachen, dann wird das Gehirn vielleicht mit der Zeit von selbst begreifen, was Granularsynthese ist und wie sie dieses außergewöhnliche, die sechs Etüden beschließende Stück inspiriert hat. Mögen noch viele Klavieretüden diesen ersten sechs folgen. ¶

Unsuk Chin Piano Etude No.6 (Grains) • Link zur Aufnahme

In englischer Übersetzung erscheint dieser Text in der achten Ausgabe der Zeitschrift Music & Literature.