In welchen Umgebungen finden kreative Prozesse im 21. Jahrhundert statt? Wo treffen verschiedene Vorstellungen von »Kreativität», verschiedene Kunst-Begriffe und Selbstbilder aufeinander? In dieser Folge: Das »MoKS – Centre for Art and Practice« in Mooste, einem kleinen Dorf im Südosten Estlands.
Ankunft
Nach etwa drei Stunden Busfahrt von Tallinn erreiche ich das 500-Seelen-Dorf Mooste im Südosten Estlands. Von der Bushaltestelle aus laufe ich erst an einem Sowjet-Plattenbau, dann dem 1909 errichtetem Herrenhaus, inzwischen Schulgebäude, vorbei. Hinter dem Schulgebäude leben und arbeiten seit 2001 Künstler*innen aus der ganzen Welt in einem »non-profit artist-run project space«. Deswegen bin ich hier. Auf einem kleinen Holzschild neben der Eingangstür des alten Gutshauses steht »MoKS – Centre for Art and Practice«. Die Tür steht offen. Im Eingangsbereich fordert mich ein Schild auf, meine Schuhe auszuziehen. Da niemand kommt, klopfe ich an eine Tür. Keine Reaktion. Ich öffne die Tür ein wenig und sehe John, mit Kopfhörern auf einem selbstgebauten Instrument musizierend. Ich warte, bis er fertig ist. Schließlich bemerkt er mich und unterbricht sein Spiel. Er führt mich durchs Haus und zeigt mir die Küche, den Aufenthaltsraum, die artist studios und mein Zimmer, in dem ich die nächsten zehn Tage wohnen werde. An den Wänden hängen Zeichnungen und Fotos. Die Möbel sehen größtenteils nach Do-it-yourself oder Second-Hand aus. John entschuldigt sich und geht zurück an sein Instrument, er übt für ein Konzert in ein paar Tagen in Riga. Direkt vor meinem Fenster steht eine alte Eiche. Alles ist sehr ruhig.
MoKS – Centre for Art and Practice

Die Abkürzung steht für »Mooste KülalisStuudio« (estnisch für Gäste-Studio). In den Räumen eines ehemaligen Gutsverwalterhauses wurden große Atelierräume, Wohnapartments und ein Gemeinschaftsraum eingerichtet, der auch als Veranstaltungsraum genutzt werden kann. Im Keller gibt es eine Dunkelkammer, eine Werkstatt und eine Sauna. Das Künstlerhaus MoKS wird geführt von der Mixed-Media-Künstlerin Evelyn Grzinich und ihrem Mann, dem aus den USA stammenden Sound Artist John Grzinich. Durch die nicht vorhandene Trennung zwischen Administration und Kunst entstehen besondere Setzungen: Es gibt beispielsweise Artist-in-Residence-Programme für Künstler*innen mit Kindern, Workshops für Interessierte aus Mooste und dem Umland oder Environmental Interventions.
Als MoKS im Jahr 2001 gegründet wurde, war Mooste noch ein post-sowjetisches Dorf. In sechs Symposium zum Thema International Art (»PostsovkhoZ«, 2001-2006) setzten sich Künstler*innen in experimenteller Form mit der Geschichte des Dorfes und der Dorfbewohner*innen auseinander. Inzwischen – 16 Jahre nach der Gründung von MoKS, 13 Jahre nach dem EU-Beitritt Estlands – ist das Dorf eine kleine, aber lebendige Gemeinschaft. In den Gebäuden, die zu Guts-Zeiten als Pferdestall dienten, haben sich Holz-, Wolle- und Lehm-verarbeitende Kleinunternehmen niedergelassen. Das Dorf mit seinen knapp 500 Einwohner*innen hat zudem einen Konzertsaal, in dem jährlich ein Folkfestival stattfindet.
Mitten in Mooste und zugleich in ganz andere Sphären: das MoKS. Zeitgenössische Kunstpraxen, internationale Künstler*innen und Kooperationen mit Kulturinstitutionen aus der ganzen Welt scheinen den Dorfbewohner*innen größtenteils fremd zu sein. Ich möchte also wissen, was passiert: Zusammenarbeit oder Isolation? Dialog oder Rückzug? Und was Evelyn und John betrifft, die den Offspace am Laufen halten: glückliche Selbstbestimmung oder Ermüdungserscheinungen aufgrund finanzieller Sachzwänge?
Evelyns und Johns artist studio in MoKS

Es klopft an die Tür meines Zimmers in MoKS. Es ist John. »Magst du mitkommen zur Geburtstagsparty der Musikschule?« Die Musikschule wird fünf und fast das ganze Dorf trifft sich zum Feiern. Im Eingangsbereich des Musikschulhauses ziehen alle ihre Schuhe aus, »typisch estnisch«, sagt John und lacht. Viele Redebeiträge, estnische Musik, Kuchenbuffet. John hört zu, aufmerksam und irgendwie im Klang versunken. Als Künstler macht er viel Feldaufnahmen, nimmt Geräusche von sich im Wind bewegenden Bäumen oder von krachend durch das Eis fahrenden Eisbrechern auf. Am liebsten spricht er allerdings mittels seiner Kunst, nicht über sie. Wenn er dann doch etwas sagt, dann stets bedacht und leise. Wir verlassen das Musikschulgebäude und er führt mich ein wenig durchs Dorf. Es gibt eine Schule, ein »Fototourismus-Center«, das inzwischen als Hotel genutzt wird, einen Masseur, einen großen Konzertsaal, einen kleinen Supermarkt, ein Gästehaus und einige Werkstätten. »Weißt du«, sagt John, »manchmal fühlen wir uns alt. Fast alles hier ist in den letzten fünf bis zehn Jahren entstanden.« Ich frage mich, ob es den Prozess der Gentrifizierung auch in der Provinz gibt: Die Künstler*innen nehmen den Leerstand in Besitz, gestalten ihn, nach und nach siedeln sich kleine Läden an, die Attraktivität steigt … Vielleicht ist es auch nur der Verdienst einiger Lokalpolitiker, die wissen, wie man an EU-Fördergelder zur Entwicklung des ländlichen Raums kommt. Während meines 10-tägigen Aufenthalts in Mooste erlebe ich ein Dorfleben im vitalen Zustand, als dynamisches »Ökosystem«, alles wirkt sehr geerdet und persönlich. Ich frage John, inwiefern es Kooperationen mit den benachbarten Institutionen und Familienbetrieben gibt. »Hier und da haben wir es versucht. Haben ein paar Workshops gemacht oder so. Aber es ist nicht einfach, alle sind so busy.«
Portrait of a Sounding Object in Mooste, Estland. Performer: John Grzinich, Yannick Dauby und Wan-Shuen Tsai.
Von John kommt auch die Formulierung »Sie tolerieren uns, weil sie uns nicht herausgeworfen haben.« Der aphoristische Satz über die Beziehung zwischen Dorf und MoKS macht deutlich, dass das Verhältnis ein komplexes und nicht ohne Spannungen ist. »Zu Beginn«, erklärt mir Evelyn an einem anderen Abend, »haben wir ausprobiert, wer und wie wir in diesem Ort sein und wie wir hier mit zeitgenössischer Kunst umgehen können. Das Verständnis von Kunst war ein sehr enges- Ist es vielleicht immer noch – aber es ist offener geworden. Nimm’ eine bestimmte Art zu malen: Anfangs konnten viele nicht verstehen, warum wir das tun, manche wurden sogar richtig wütend. Aber dann hatten wir Künstler während diesen Art Symposia, die wirklich aktiv ins Dorf gegangen sind. Unsere Idee war nicht, hier in diesen vier Wänden zu bleiben, sondern es sollte wirklich etwas im Dorf passieren. Das bedurfte natürlich etwas Kommunikation im Vorfeld – sagen wir, über die unterschiedlichen Realitäten. Und deswegen, glaube ich, akzeptieren uns die Bewohner mittlerweile. Es sind nicht viele, die zu unseren Events kommen, aber wenn sie einen Künstler auf der Straße treffen, dann grüßen sie ihn und wissen ›Ah, der ist von MoKS.‹ Sie erkennen ihn als Fremden.«
Evelyn bezeichnet sich als »keeper of MoKS«, zusammen mit John hält sie MoKS am Laufen. Sie kommuniziert mit den Künstler*innen, die kommen und schreibt Calls für artists-in-residence. Sie akquiriert Fördergelder, da MoKS keine dauerhafte staatliche Förderung bekommt, muss sie jedes Jahr neue Anträge schreiben. Zudem managt sie die alltäglichen Dinge, wie etwa Reparaturen am Gebäude oder die finanzielle Abwicklung. Evelyn nimmt sich als »keeper of MoKS« sehr viel Zeit für ihr Gegenüber, ist interessiert und auch sehr bescheiden. Sie lädt ein und heißt willkommen, ohne aufdringlich zu sein. Sie moderiert, macht Vorschläge und ist in der Diskussion gleichberechtigte Gesprächsteilnehmerin – nie Über-den-Kopf-anderer-hinweg-Entscheiderin. Zusammen mit John kuratiert sie MoKS, gemeinsam entwickeln sie Schwerpunktthemen und konzipieren neue Programme, die auf Förderausschreibungen passen. Gleichzeitig ist auch sie künstlerisch tätig: Sehr detailliert und fein gearbeitete, großflächige Zeichnung von ihr hängen an den Wänden, an einem Abend zeigt sie mir Videomitschnitte ihrer performativen oder zur environmental art zählenden Arbeiten.

Ist das nicht alles sehr viel? Sehr viel Arbeit, sehr viel Verantwortung? Um diese Frage zu beantworten, muss Evelyn weit ausholen. Als sie 1998 ihr Kunststudium abschloss, fragte sie sich, wie sie ihr Einkommen mit künstlerischer Arbeit bestreiten solle. Wie so viele Künstler*innen suchte sie sich einen Brotjob und verlegte die Kunst aufs Wochenende. Befriedigend war das nicht. Als sie dann ein dreimonatiges Aufenthaltsstipendium in einem Künstlerhaus in Finnland bekam, kündigte sie den Job. Ermutigt und inspiriert vom Leiter des Künstlerhauses gründete sie ein eigenes Künstlerhaus mit zwei Freundinnen in Mooste, unweit des Dorfes, in dem sie selbst aufwuchs – auf die städtischere Kunstszene in Tallinn hatte sie keine Lust. Einerseits also Freiheit, Selbstverwirklichung, ihr eigenes Ding machen. Anderseits sagt Evelyn: »Wir haben dieses riesige Haus renoviert. Und die Unterhaltskosten sind sehr teuer, außerdem ist es nicht besonders gut renoviert, daher gehen Dinge kaputt … Diese verwaltungstechnische Belastung – ja, ich würde sagen, an einem bestimmten Punkt hat sie begonnen meine künstlerische Arbeit zu stören. Aber vielleicht ist ›stören‹ auch nicht der richtige Begriff. Die Struktur ist nur so viel größer geworden und es braucht so viel mehr Arbeit sie aufrechtzuerhalten. John und ich wollten das Haus durch die Renovierung vergrößern, so dass wir hier unsere eigenen Atelierräume haben. Und jetzt suchen wir nach einer guten Balance zwischen administrativer Tätigkeit und künstlerischem Freiraum. Aber was die Lage des Ortes betrifft: Abgeschnitten fühle ich mich ganz und gar nicht – Menschen kommen aus der ganzen Welt hierher und bringen ihre Welt mit.«
Unser Gespräch wird unterbrochen, es ist Marius Salynas, ein Komponist aus Litauens Hauptstadt Vilnius. Er ist im Rahmen eines litauisch-estnischen Austauschprogramms in MoKS.
Marius ist einer von vier jungen Musiker*innen, die an dem Austauschprogramm zwischen einem Künstlerhaus in Druskininkai und MoKS teilnehmen. Es ist der zweite Teil des Künstler*innenaustauschs, ein paar Monate zuvor haben sie bereits zwei Wochen zusammen in Litauen verbracht. Für Marius ist der Aufenthalt in MoKS »eine gute Möglichkeit, die Arbeitsumgebung zu ändern, aus der Stadt zu entkommen und eine ruhigere oder asketischere Umgebung zum Arbeiten zu finden.« Ein Tapetenwechsel. »Weißt du, letztes Jahr habe ich mir ein Studio eingerichtet. Aber es wird langweilig.« Er lacht. Während seiner Zeit in MoKS macht er viele Ausflüge mit den anderen, etwa in die nächstgrößere Stadt Tartu oder an die russische Grenze. Zwei Mal geht er angeln (ohne etwas zu fangen). »Mir fehlt mein Zuhause ein wenig«, sagt er nach einer Woche. »Wie soll ich sagen? Eine Art Nostalgie…«

Szenenwechsel: Ein Freitagmorgen in Moostes Schule. Wo früher der Baron seinen Gästen (den im Dorf gebrannten) Wodka anbot, sitzen nun etwa 70 Schüler*innen der Klassenstufe 1 bis 8 und lauschen Saxonphon-Multiphonics und einem mit Magneten präparierten Klavier. Es spielen die estnische Folk-Musikerin Katariin Raska und die litauische Komponistin Gailė Griciūtė, die beide auch gerade in MoKS wohnen und arbeiten. Organisiert wurde das Konzert von Evelyn, alles sehr spontan. Die Kinder sind etwas unruhig, aber besonders die kleineren Kinder in den vorderen Reihen lauschen sehr gespannt den improvisierenden Musikerinnen. Das Programm »artists to school« ist seit einigen Jahren fester Bestandteil von MoKS.

Im Gespräch mit Katariin fällt mir auf, wie unterschiedlich Künstler*innen und ihre Bedürfnisse sind. Es gibt eine Flexibilität in MoKS, eine Ungezwungenheit, ein organisches Entstehenlassen von Prozessen. Anders als Marius erzählt mir Katariin nicht von einer asketischen Arbeitsumgebung, sie hebt die Möglichkeit der Zusammenarbeit hervor. Sie sagt über die Erfahrung des gemeinsamen Improvisierens mit Gaelle in der Schule: »Ich komme von der traditionellen Musik. Daher war die Zusammenarbeit mit Gaelle, die einen Neue Musik-Background hat, wirklich gut, sehr lehrreich. Ich habe viele Dinge über experimentelle Improvisation gelernt und diese Art von wave – ich weiß nicht, ob man das so sagt, Gaelle hatte dafür ein spezielles Wort. Ich habe es schon vergessen, weil alles so neu für mich war.«
MoKS ist wirklich ein Ort der freien Kunst, mit allen Vor- und Nachteilen. Evelyn und John reflektieren im letzten Jahrbuch:
»2016 marks the 15th year of operation since MoKS was formally founded in 2001. That’s something of a landmark. Is there reason to celebrate? Yes and no. Did we celebrate? Quietly. What’s the problem? There is no specific problem per se, only that despite the lasting success of MoKS, fatigue is something we no longer can deny. You can only depend on yourself which has its risks and limitations. Looking around it feels like you’ve reached the clouds but you don’t quite know whether to go up or down and you’re not sure where is the horizon (it was there not too long ago). Despite growing wings and learning to fly, the existence of an ›independent‹ project or organization is still connected to your time/energy/will to sustain it. There eventually comes a time when you are faced with a challenge, either climb ever higher, take it down easy or shift directions. Despite the tone of this message, we are alive and well and looking forward to what 2017 will bring however uncertain it may be.«
Ein paar Seiten weiter im Jahrbuch finde ich eine Summe, die mich erstaunt: 44.016 € war das Gesamtbudget des Jahres 2016. Das ist ziemlich wenig Geld für 39 Künstlerresidenzen, 40 Stunden Schulworkshops, die Vorbereitung einer internationalen Kunstausstellung in Lettland und das Herrichten eines Workshop-Raums im Keller des Gebäudes. Der Idealismus, der lange Atem, die Unermüdlichkeit, der künstlerische Anspruch, die Flexibilität – all das, was dahintersteckt, lässt sich wohl nicht mit einer Summe angeben. ¶