Am 30. November 2019 starb der lettische Dirigent Mariss Jansons in Sankt Petersburg im Alter von 76 Jahren. Viel wird in diesen Tagen über ihn zu lesen sein. Doch was war das Geheimnis von Jansons? Wann dirigiert man eigentlich gut? Und wie kann man das hören?

Mariss Jansons wurde am 14. Januar 1943 in Riga geboren – als Sohn des Dirigenten Arvīds Jansons. Nach dem Studium in Sankt Petersburg zog es ihn 1969 nach Wien, wo er bei Hans Swarowsky und Herbert von Karajan studierte. Ab 1979 war er Chefdirigent der Osloer Philharmoniker. Schon ab Mitte der Neunziger Jahre hatte Jansons mit Herzproblemen zu kämpfen und musste, damals und im Folgenden – auch ganz zuletzt, in den Herbstwochen 2019 – immer wieder Konzerte absagen. Für viele Jahre war er Chefdirigent der – zumindest für den Autor dieses Textes – zwei besten Orchester der Welt: von 2003 bis zu seinem Tod beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und von 2004 bis 2015 beim Concertgebouw-Orchester Amsterdam. Immer wieder dirigierte er auch die Berliner Philharmoniker – und wir Berliner*innen pilgerten jedes Mal voller Hoffnung in die Philharmonie; alle, die nicht Rattle huldigen wollten, versammelten sich zu einem musikökumenischen Gottesdienst – und beteten jemanden an, der nicht angebetet werden wollte: Mariss Jansons. Ab 20:00 Uhr folgte das Abendmahl. Jansons – in dankbar lächelnder Demut vor der Musik. Und die Philharmoniker*innen folgten ihm, wie niemand anderem seit Karajan. Unsere Hoffnungen wurden nie enttäuscht.

Bei vielen Dirigent*innen fragt man sich: Wofür steht eigentlich sein oder ihr Dirigat, was zeichnet es aus? Kann man beispielsweise das Dirigieren von Zubin Mehta in der Blindverkostung gut erkennen? Die Schlankheit, die Forschheit, die orchestrale Begeisterung eines Carlos Kleiber: Ja, die hört man sofort. Die brütend-wütende Langsamkeit von Celibidache: Klar, die sticht heraus. Doch befragen wir einmal im aufrichtig trauernden, doch dankbaren Rückblick die Kunst von Mariss Jansons. Was war sein Geheimnis – oder allgemeiner gefragt: Wie geht gutes Dirigieren?

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Sparen

Hören wir nur den Beginn von Anton Bruckners Symphonie No. 7 E-Dur! Ein Live-Mitschnitt vom 4. November 2007 in Wien. Jansons dirigiert sein Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Jansons spart! Die An- und Abschweller des Beginns von tief tremolierenden Geigen und motivisch heranrückenden Bratschen und Celli werden nicht übermusiziert. Die ausgeführten Themenphrasen geraten in Hörweite – gewinnen ein wenig an Gewicht, ziehen sich zurück. Aber nicht durch einen irgendwie deutlich wahrnehmbaren Effekt der hörvirulenten »Abphrasierung« (eh ein furchtbares Wort). Die immerwährenden, Brucknerschen Crescendo-Heranpirschungen im Zusammen-Werden und -Wirken: Sie klingen mittels der Gabe der Jansonschen Handbewegungen nie aufdringlich. Der sexlose Bruckner: Er konnte fraglos erotische Musik komponieren! Und nirgendwo sonst ist er so erotisch wie in seiner Siebten. Doch zu der Sehnsucht nach körperlicher Aufgenommenheit kommt das Leuchten göttlicher Liebe. Und Jansons? Jansons sieht das bereitliegende Material – und macht zuallererst eine weitere Sache richtig.

Spielen lassen

Alle Musiker*innen aller Orchester liebten Jansons. Seine Proben waren keine Forschungsorgien, in denen motivische Reagenzgläser in ellenlangen Analysen zentrifugiert geschwenkt wurden. Jansons ließ spielen, sagte wenig – und wenn: dann das Richtige. Der Fluss der Musik, diesen zu spüren… Was ergibt sich, was gibt mir mein kolophonierter Bogen im Zusammenwirken mit meinem Bogendruck an der Saite, zusammen mit meinen Fingern, mit meiner Laune, mit meiner Stimmung, mit meinen Gefühlen, die ich – als Orchestermusiker*in – jeden Tag behaupten muss? Musik ist doch ein emotionaler Akt – und wir sind irgendwie auch alle Beamte. Liebe und Beamtentum?  Ach, Jansons steht am Pult. Dann ist alles gut.

Präsent sein. Einen Ruf haben

Im Orchester spielende Menschen wissen natürlich immer, wer vorne steht – und dirigiert. Die Frage ist: Schaue ich (gerne) zum Pult? Oder komme ich völlig aus dem Rhythmus, der mir die Musik auf eine Weise schon klar vorgibt, wenn ich von dort zum pinselnden Malermeister blicke, der – eingerahmt von einem Metallgestell – mit musiziert, ohne ein Instrument zu spielen? Wenn Orchester Dirigent*innen empfangen, unter denen schon oft gespielt wurde, dann ist der Klang von der ersten Sekunde der Probe am Anfang der Woche anders als in der Dienstwoche zuvor. Nicht nur hat ein Orchester eine Seele, die Tradition eines vielleicht besonders dunklen und warmen Streicherklangs. Dirigent*innen haben einen Ruf. Einen Ruf, der Musik wird. Und wenn Jansons kam, musizierte man scheinbar immer ein Stück weit lieber als sonst. Wenn Jansons – dieser kleingewachsene Mann, der gemeingefährlich spröde, in den Antworten ins religiös-familiäre tendierende, unspektakuläre Interviews gab – am Pult stand, dann immer zu Beginn leicht gebückt; als verneige er sich vor den Musiker*innen – und vor der Musik. Ich habe erlebt, wie Jansons in der Berliner Philharmonie empfangen wurde: Der Applaus schon vor dem ersten Ton war von einer inbrünstigen Wärme, Liebe und Freude, diesen Menschen zu sehen. Unvergessen. Das überträgt sich auf ein jedes Orchester. Die körperliche und seelische Präsenz dieses Mannes galt einzig und allein der Musik. Und mit seinen Fähigkeiten führte er jede Instrumentalistin und jeden Instrumentalisten zu der jeweilig eigentlichen Liebe zur Musik zurück; egal, wann der- oder diejenige aufgehört hatte, Musik aufrichtig zu lieben. Jansons war im Raum. Die Musik klang schöner als sonst immer. Präsenz und Ruf. Keine Skandale. Konservativ im besten aller Sinne.

Klänge lieben und zusammenführen

Jansons Stärke waren die großen Symphonien von Bruckner und Mahler. Bruckners Klänge führte er zusammen – mittels seiner (kleinen) Hände Kraft. Er formte, streichelte die Klänge, aber niemals plakativ. Heikle Übergänge waren fragil, aber sonor; sensibel, doch voller Leuchtkraft. Aus den Reihen der Hörner inmitten des Orchesters entstand eine unfassbare – menschliche – Wärme, die alles in Liebe miteinander verband. Die Klänge klangen stets länger als sonst. Sie waren Raum. Kamen von irgendwo her. Niemand weiß genau, von wo. Linien, große Bögen zogen sich über Minuten und gefühlte Stunden, die doch immer zu kurz waren, wenn Jansons uns freundlich besuchte. Klänge türmten sich langsam auf – doch niemals zu babylonischen Türmen der Hybris, sondern zu herrlichsten Alpensinfonie-Bergen: Erhabenheit, im Sinne Schopenhauers; ein gutes Ansinnen, eine humane Anmutung und Nicht-Bewertung alles Menschlichen. Der reine Klang, die bloße Linie: führend, suchend, verzweifelnd – und in Hoffnung mündend. Dazu muss man Klänge lieben, Akkorde, Harmonien: den plötzlich orgelartig hereintönenden Choral, der uns alle tröstet.

Innerlich authentisch glühen

Durch seine Bescheidenheit vermochte es Jansons, sein innerliches, authentisches Glühen zu teilen. Seine Eingedrungenheit in die Partitur wurde in der besten Allianz mit den Orchestern, die er dirigierte: Musik. Die Leuchtkraft des Jansons-Klangs erwuchs aus dem Sich-Orientieren an den reibenden Kontrabässen, an der Glut der Wagner-Tuben – und an dem warmen Staub von Posaune und Tuba. Der tragende, flächige Klang der x-fachen Violinen breitete sich aus bis zum letzten Pult, an dem die Tuttist*innen niemals an der Lehne saßen, sondern aufrecht und empfangsbereit.

Demut und Handwerk

Dazu gehörte das gelernte Handwerk, ohne das es nicht geht. Nicht, dass Jansons die deutlichste »Eins« aller Zeiten besaß. Die Weltklasse-Orchester, die er dirigierte, brauchen keine »Eins«, sondern einen demütigen Handwerker, der seine Demut nicht dann doch wieder tyrannenhaft vermittelt, sondern in der Dialektik von Erfahrung, Liebe und Gewähren-Lassen teilt. Und teilen konnte Jansons wie kein anderer.Wir alle werden ihn vermissen. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.