Heiße Herbstsonne brennt auf das Gewerbegebiet, nebenan rauscht der Verkehr auf der A96. Äußerster Westrand von München, trostloser geht es kaum. Der Taxifahrer rollt am Parkplatz eines Supermarkts vorbei, laut Navi ist das Ziel erreicht. Da, die Nummer 6! Ich steige aus. An der Glastür des grauen Kastens klebt nur ein Zettel: »ECM Büro im Experthaus«. Das ist gegenüber, auch nicht schöner. Ein Schildchen weist zur ersten Etage, aus der rätselhafte Chorklänge tönen. Das muss es sein! Besser kann man das Zentrum eines Plattenlabels, das die Musikwelt verändert hat, zu dessen Künstler*innen Pianisten wie Keith Jarrett und András Schiff gehören, mit dem die Komponisten Steve Reich und Arvo Pärt berühmt wurden und der Jazz sich grunderneuerte, kaum tarnen.

Wurde in diesem Schuppen also The Köln Concert konzipiert, Jarretts legendäres Livealbum, seit 1975 dreieinhalb Millionen Mal verkauft? Und Arvo Pärts Tabula Rasa? Und noch rund 1500 weitere Projekte, von denen viele inzwischen Kultstatus genießen? Ja, das ist wohl so. Der Mann, der all das angeschoben und ermöglicht hat, steht bei offener Tür in seinem Büro und lauscht – wie sich herausstellt – dem Rohschnitt seiner neuesten Produktion. Ich habe über Manfred Eicher gelesen, er sei streng bis unnahbar und lächele so gut wie nie. Aber als der 76-jährige – schlank, schulterlange weiße Haare – in den Korridor kommt, erweisen sich Teile der von mir gelesenen Artikel als Schnee von gestern. Der ECM-Gründer ist bestens gelaunt.

Besonders beglückt Eicher gerade ein Album mit der Performerin Meredith Monk, das jüngst fertig wurde, das vierzehnte seit ihrer Dolmen Music von 1981. »Ich finde die Aufnahme sogar noch dichter als frühere und bin dankbar dafür. Meredith ist eine Schwester im Geiste, jetzt genauso vital wie am Anfang. Wenn wir miteinander einverstanden sind, nachdem wir wieder einmal gerungen haben – dann ist die Musik einfach da.« Die amerikanische Pionierin der vokalen Performance gehört zu den Künstler*innen, die Eicher als Kurator eines kleinen ECM-Festivals in die Elbphilharmonie einlädt. Frühe Weggefährten werden dabei sein, aber auch der israelische Trompeter Avishai Cohen, mit dem Eicher seit fünf Jahren arbeitet. »Ich halte immer Ausschau, meint er. Wie schon 1969, als er die »Edition of Contemporary Music« gründete – mit 16.000 Mark.
Bis dahin arbeitete der junge Mann drei Kilometer nördlich von hier im HiFi-Laden Elektro-Egger in Pasing. »Vorbei an Elektrogeräten in Regalen, dann im ruckelnden Aufzug nach oben und schließlich in Schlangenlinien an Waschmaschinen vorbei, zu einer Stahltür, dem Sesam-öffne-dich des Jazz«, erinnert sich Konrad Heidkamp, Autor der ZEIT, ans Plattenparadies seiner Jugend. »Dort arbeitete, meist unfreundlich und muffig, ein junger, schnauzbärtiger Mann, Jazzbassist, wie ich erfuhr, was die Abwesenheit jeglicher verbindlicher Verkäufermentalität erklärte – Manfred Eicher.« Nun, es gab da zwar mehrere Schnauzbärte, die den Münchner Grant schoben, und Eicher war kein Verkäufer, aber tatsächlich Jazzbassist. Und der von ihm geliebte Jazz galt zu dieser Zeit als tot. Man sprach von den Stones und von Led Zeppelin, am anderen Ufer von Karajan und Callas, aber die improvisierte Musik, derentwegen der gebürtige Lindauer mit vierzehn Jahren zum Kontrabass gewechselt war, verkümmerte.

Am 1. Januar 1970 bringt Eicher seine erste LP heraus, ECM 1001: das Mal Waldron Trio mit Free At Last. Der Saxophonist Jan Garbarek, der Jazzpianist Paul Bley gehören zu den nächsten, die er ins Studio holt, als Tonmeister, Produzent, Inspirator in einer Person, der eine neue Aufnahmeregie entwirft. Es genügt Eicher nicht, »dokumentarisch mit dem Mikrofon irgendwie Töne wahrzunehmen«, akustische »Informationen über Noten« zu liefern, er will den »Klang hörbar machen« und »das Weiße zwischen den Tönen«, wie er damals erklärt. »Das Auratische war mir wichtig«, sagt Eicher heute: Man sollte mehr hören als nur das, was Technik vermitteln kann. Dazu kam eine ungewöhnlich minimalistische Covergestaltung. »Gute Freunde haben die ersten Entwürfe gemacht, Burkhard und Barbara Wjorsch, die in Stuttgart Kunst studierten. Sie haben mir Künstler wie Cy Twombly und Agnes Martin nahegebracht.«

1971 nahm der 26jährige Pianist Keith Jarrett bei ECM ein Soloalbum auf, Facing you, und Eicher organisierte ihm eine Europatournee, die am 24. Januar 1975 auch ins Kölner Opernhaus führte. Aus vier Tönen entwickelte Jarrett an einem mangelhaften Instrument eine Improvisation, die Musikgeschichte machte. Denn Eicher riskierte es, den Mitschnitt auf zwei Vinyls herauszubringen. The Köln Concert fehlte bald in kaum einer bundesdeutschen Wohngemeinschaft, bis heute wurde das Album weltweit dreieinhalb Millionen Mal verkauft. Es war der größte, aber keineswegs letzte der Überraschungserfolge, mit denen die kleine Firma sogar in New York zum Geheimtipp wurde, ohne dass ihr Gründer auch nur im Geringsten an Marketing und Zielgruppenerforschung interessiert war.

Inzwischen äugten und lauschten auch die Majors zum Münchner Stadtrand hinüber. Die Deutsche Grammophon, bei der Eicher seine Vinyls pressen ließ, bot ihm eine Aufnahme an, die, schon produziert, dem großen Label zu riskant war: Steve Reichs Music für 18 Musicians von 1977, heute ein Schlüsselwerk der Minimal Music, ein Wunder sich wandelnder rhythmischer Muster, ein Strom der Farben über dem Metrum einer Metropole. »Wir waren unheimlich begeistert«, erinnert sich Eicher, »dann haben wir das gemacht, und das ist losgegangen.« Mit 100.000 verkauften Alben wurde etwa das Zehnfache dessen erreicht, was für komponierte Neue Musik als Maximum galt.
Mit Steve Reich ging ECM schon über den Jazz hinaus. Den Komponisten aber, der wirklich eine neue Epoche des Labels einläutete, entdeckte Manfred Eicher dann wieder selbst. »Das war auf einer Fahrt von Stuttgart nach Zürich«, erinnert er sich, »1981 oder 1982, eine einsame Nacht. Im Radio lief eine tolle Musik, und ich bin extra von der Autobahn runter, um das besser empfangen zu können. Aber ich habe nicht erfahren, von wem das war, und ein halbes Jahr lang nachgeforscht – es war Arvo Pärt. Ich habe ihn dann in Wien kennengelernt, er war gerade aus der Sowjetunion emigriert. Und wir sind auf die Idee gekommen, dass wir den Gidon Kremer mit dem Keith Jarrett zusammenbringen wollen. Das war dann Fratres, und es war Herzstillstandmusik! So einleuchtend klar! Die haben sich zum ersten Mal getroffen und gleich wirklich miteinander gespielt.«

Das Album Tabula Rasa wurde »ein so wesentliches Ereignis, dass wir anfingen, eine neue Serie zu starten. Das weitere kennt man ja…« ECM New Series begann 1984 und ist der »geschriebenen Musik« gewidmet, wie Eicher notierte Kompositionen gern nennt. Auch hier ging er nicht nach Mainstream und Marktlücke, sondern folgte seinem Ohr. »Der Ton, die Phrasierung, die ganze Auffassung von Musik«, das faszinierte Eicher, als er – wieder einmal im Radio – die 25jährige Bratschistin Kim Kashkashian mit Musik von Paul Hindemith hörte. »Ich habe sie dann in Lockenhaus getroffen, und sie wollte gar nichts aufnehmen! Aber ich habe insistiert und war hartnäckig – ich wollte sie für eine Aufnahme gewinnen!« Er lacht. Seitdem sind dreißig Jahre vergangen und zwei Dutzend Aufnahmen mit der armenischen Amerikanerin entstanden. Auf der jüngsten spielt sie Bachs Suiten für Cello solo auf der Bratsche. Nicht als erste – aber erst bei ihr klingt das, als hätte der Komponist dabei auch eine Viola gedacht.

Kashkashians ECM-Debüt erschien 1988 parallel zum Vinyl schon auf Compact Disc. Anders als viele Klangfetischisten trauert Eicher dem analogen Zeitalter nicht nach. »Heute kann man raffiniertere Schnitte machen. Etwas ist aber gleich geblieben. Was zählt, ist der stimmige Klang und der Raum drumherum. Kirchen, Konzertsäle, alte Klöster – das ist immer noch der beste Klang, den man kriegen kann. Es geht darum, in akustischen Räumen nach etwas zu suchen, was man nicht kennt.« Wie spannend diese Suche ist, zeigt der Film Sounds and Silence von 2011. Peter Guyer und Norbert Wiedmer folgen darin Eicher und seinen Musikern nach Argentinien und Athen, Tunis und Tallin. Eicher ist da nie ein Macher in der Mitte, sondern ein Zuhörer am Rande, aber mit beträchtlicher Präsenz, meist stehend. Wenn er lauscht und irgendwann nickt, weiß man, dass es gut wird, und wenn es gerade sehr gut wird, sieht man ihn sogar mal mit Arvo Pärt in einer Kirche einen kurzen, verrückten Walzer neben dem Orchester tanzen, lächelnd.
Und wenn es schwierig wird? »Es fließt nicht«, sagt Dino Saluzzi, der argentinische Bandeonist, traurig, während die Kamera läuft. »Jeder spielt so. Ich will so nicht spielen.« Cellistin Anja Lechner, die mit ihm einen Tango aufnimmt, blickt nachdenklich. »Lass uns einen Weg finden, wie wir in das Stück finden«, sagt Eicher – es ist eher ein Musiker, der da spricht. Und wie Saluzzi und Lechner dann tatsächlich in die Musik geraten, wie sie in äußerster Sensibilität und Intimität entsteht – das ist einer der kostbarsten Momente in diesem Film. Andere Passagen vermitteln, wie endlos viele Kilometer gefahren und, ja doch, geflogen wurden, um Musiker*innen aufzusuchen und Orte, an denen es die Stille, die Atmosphäre, den Raum für ihre Klänge gibt. Und immer mal wieder blickt man auf die A 96.
Wie jetzt gerade der Labelgründer, der am gekippten Fenster steht und dem Dauerrauschen fossil betriebener Fahrzeuge lauscht. »Seit 1973 sind wir hier. Nie wieder rausgekommen! Wir haben uns nicht wohlgefühlt, weil es im Sommer viel zu heiß und im Winter viel zu kalt ist, aber die Räume waren billig und wir waren an der Peripherie…« Wo sich ECM ästhetisch ja ohnehin gern verortete, um doch immer wieder den Ton anzugeben. Officium von 1994 war noch so ein Kracher – 1,5 Millionen Mal wurde das Album verkauft, auf dem Saxophonist Jan Garbarek zu den Renaissancegesängen des Hilliard Ensemble improvisierte. Wie man auf so eine Idee kommt, das brauche ich Manfred Eicher nicht zu fragen, er hat es damals selbst aufgeschrieben.

Als passionierter Cineast hatte er sich entschlossen, selbst einen Film zu drehen, nach Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän, und bei den Dreharbeiten auf Island hörte er Sakralmusik von Christobál de Morales und die Soli von Jan Garbarek, den er schon so lange kannte. Er erlebte ihn plötzlich als »nordischen Zugvogel«, der über südlichem Festland, über Musik wie der von Morales, seine Kreise zieht. Es gibt also eine Vision hinter dem, was die vier britischen Sänger und der norwegische Saxophonist in der Probstei St. Gerold aufnahmen. Nun passten viel Hall und endzeitliche Weiten natürlich auch denen wieder gut, die, kritisch oder bewundernd, ECM als »New Age«-Label sahen. Wozu Eicher schon 1989 nur meinte: »Wir werden auch diesen Schwachsinn überleben.«
Carolin Widmann 2019 über ihre Aufnahmen mit Manfred Eicher
»Ja, Manfred ist nun wirklich mein Guru. Für mich ist er eines der ganz wenigen Genies, die ich kennenlernen durfte. Er ist bei allen meinen Aufnahmesitzungen dabeigewesen. Ganz lange sagt er gar nichts, oft stundenlang nichts. Und dann kommt ganz zart ein Kommentar, der alles löst und beschreibt und die Sache ganz plötzlich um Welten besser macht. Ich selbst habe durch ihn so viel Vertrauen erfahren, dass mir Flügel wuchsen. Manfred hat an mich geglaubt, bevor ich selbst an mich geglaubt habe. Das war wie ein Schlüssel zu meinem Allerbesten. Das ist ein sehr verschlossener, unzugänglicher Ort, dieses Allerbeste, und auch einer, vor dem ich selbst ein bißchen Angst hatte. Aber der Manfred hat mich da wirklich begleitet, bedingungslos nur diesen einen Ort gesucht, und wenn ich selbst manchmal nicht fassen konnte, wie schön etwas gelungen ist, war Manfred so ziemlich der einzige, der überhaupt nicht überrascht war.«
Inzwischen klingt er skeptischer. Zwar schreibt das Label nach wie vor schwarze Zahlen – anno 2013 machte man zehn Millionen Euro Umsatz –, »aber es wird immer schwieriger. Musik ist heute umsonst zu haben. Wir sind seit 2017 beim Streaming. Uns blieb nichts Anderes übrig, denn wir wurden beklaut, wir werden nach wie vor beklaut. Streaming ist für einzelne Popleute gut, die großes Geld damit verdienen, für uns nicht. Es ist ein Teufelszeug – keine Plattendramaturgie mehr, kein Vorne, Mitte, Ende, es ist einfach eine Playlist-Philosophie.« Was ist das jetzt für eine Zeit? Er denkt lange nach. »Eine nörgelnde Zeit, die keine Entwicklung mehr zulässt. Man lässt nichts geschehen. Vieles wird groß herausgepustet und verebbt sehr schnell wieder, es ist alles sehr kleinteilig. ECM könnte jetzt nicht noch mal entwickelt werden.«
Aber unverdrossen knüpft er an die »Phasen und Stränge« an, die sich in langen Jahren entwickelt haben, und dabei entstehen keine nostalgischen Souvenirs – im Gegenteil. Louis Sclavis etwa, der Jazzklarinettist aus Lyon, der 1991 bei ECM debütierte, hat kürzlich mit seinem Quartett ein Meisteralbum vorgelegt, Characters On A Wall, das in seiner Tiefe, Sensibilität und Klarheit der avanciertesten komponierten Kammermusik an die Seite gestellt werden kann und einem die Ohren öffnet für die Spannungen unserer Zeit. Denn Sclavis vertieft sich mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug in die Straßenkunst des Franzosen Ernest Pignon-Ernest. Der holt den palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish als lebensgroßes Schwarzweißbild an einer bunten Hauswand in Ramallah ebenso ins tägliche Leben zurück wie einen Pier Paolo Pasolini. Von seinen Fotos geht die Musik aus und öffnet dabei neue Räume zum Denken.
So verbindend sieht und hört ja auch Manfred Eicher, auf dessen Schreibtisch ein Szenenfoto aus Jean-Luc Godards Pierre le fou als Farbfleck im überwiegend weißen Büro leuchtet: Das erdbeerrote Kleid der jungen Anna Karina, die mit Belmondo vor Bäumen am Wasser tanzt. »Wer fotografiert Bäume so?«, fragt Eicher, der den Filmregisseur Godard auch für die Art liebt, wie er Klänge einsetzt. Dann stellt er den CD-Player wieder an (genau wie die Boxen weit unter den Ansprüchen jener High-End-Gurus, die Eicher sowieso für nicht sehr musikalisch hält), und wir hören in die jüngste Produktion hinein – die rätselhaften Chorklänge, irgendwo zwischen Renaissance und archaischer Moderne. Cyrillus Kreek hat sie komponiert, ein 1889 geborener Estländer. Eicher steht da und lauscht, und dann nickt er dazu und lächelt auf jene Weise, die schon so vielen Musikern signalisierte: »This will be very good.« ¶