Anthony Freud ist ein Veteran der Opernindustrie. Lange Jahre führte der gebürtige Brite die Geschäfte der Welsh National Opera, der Houston Grand Opera, und zuletzt der Lyric Opera of Chicago. Doch seine Tage als Direktor des zweitgrößten Opernhauses der USA neigen sich einem Ende zu. Schon im Sommer dieses Jahres geht Freud in den Ruhestand und kehrt in seine Londoner Heimat zurück. Für VAN lässt er seine Karriere in der Opernindustrie Revue passieren: Wortreich und routiniert erzählt er mir per Zoom-Call von den Herausforderungen des Fundraisings, seinen Lieblingssänger:innen und den Unterschieden zwischen Opernhäusern in Europa und den USA.

VAN: Am 7. April saßen Sie in der ersten Reihe, als die Derniere von Aida über die Bühne lief. Mit dieser Vorstellung fiel auch der Vorhang für Ihre 13-jährigen Amtszeit als Direktor der Lyric Opera of Chicago. Wie war dieser Moment für Sie?

Anthony Freud: Das ist wahrscheinlich nicht die Antwort, die Sie erwartet oder sich gewünscht haben, aber tatsächlich habe ich mich währenddessen auf die Aida-Aufführung konzentriert und auf meine Verantwortung für die Qualität der Aufführung. Ich muss sagen, dass ich nach all den Jahren, in denen ich in leitender Position an Opernhäusern gearbeitet habe, bei Aufführungen nicht unbedingt entspannter bin als vor 30 Jahren. Vielleicht sogar weniger entspannt. Und so saß ich auch während der Derniere in der ersten Reihe, denn in der Lyric sind diese Plätze traditionell für den Operndirektor reserviert und so erschien es mir nur folgerichtig, dass ich auch diesmal dort saß und meinen Job machte. Als die Aufführung zu Ende war, gingen meine Gedanken vielleicht eher in eine nachdenkliche Richtung. Das fühlt sich schon ein bisschen seltsam an, muss ich sagen.

Welche Produktionen in welchen Häusern stehen auf Ihrer Wunschliste, die Sie in der nächsten Spielzeit als Zuschauer sehen möchten?

Wissen Sie, seit ich in die USA gezogen bin, was jetzt 18 Jahre her ist, habe ich meine Sommer regelmäßig auf verschiedenen europäischen Opernfestivals verbracht. Wenn ich nach London ziehe, freue ich mich vor allem darauf, die außergewöhnliche Theaterszene und die Konzertszene zu genießen. 

Welches Opernhaus hätten Sie gerne geleitet, wenn das Schicksal Sie nicht nach Chicago geführt hätte?

Chicago war mein Traumjob. Ich habe in meinem Leben sehr, sehr viel Glück gehabt. Ich muss sagen, wenn man mich als sehr jungen Teenager gefragt hätte, was ich machen möchte, wenn ich erwachsen bin, hätte ich gesagt: Ich möchte ein Opernhaus leiten, und hier bin ich nun. Rückblickend kann ich mir keine drei unterschiedlicheren Unternehmen vorstellen als die Welsh National Opera, die Houston Grand Opera und die Lyric Opera of Chicago. Ich habe immer gesagt, dass ich nicht an die Idee eines generischen Opernhauses für eine generische Stadt glaube. Ich glaube, dass jedes Haus seine eigene Persönlichkeit hat, seinen eigenen Schwerpunkt, seine eigenen strategischen Prioritäten. Ich habe versucht, die Persönlichkeiten und das Potenzial jedes dieser drei Häuser wirklich zu verstehen. Als jemand, der in Europa geboren wurde, als jemand, der in London aufgewachsen ist, als jemand, der bis 2006, als ich nach Houston zog, beruflich nur eine europäische Perspektive hatte, hat mich der Gedanke, in eine so uneuropäische Stadt wie Houston in Texas zu ziehen und zu versuchen, zu verstehen, wie diese 400 Jahre alte Kunstform mit europäischen Wurzeln für diese Stadt relevant sein könnte, von Anfang an begeistert. Und als ich dann von Houston nach Chicago umzog, begann ich zu verstehen, wie das Leben im Bereich der Darstellenden Künste in den USA funktioniert. Und das war unglaublich spannend.

YouTube Video

Wie würden Sie den Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Herangehensweise an diese Kunstform beschreiben?

Ich glaube, dass es auf beiden Seiten des Atlantiks wenig Verständnis für das Leben im Kulturbereich auf der jeweils anderen Seite gibt. Ich denke, das vereinfachende Klischee meiner europäischen Kollegen, die annehmen, dass amerikanische Opernleitungen von skrupellosen, reichen Geldgebern gnadenlos herumgeschubst werden, ist ebenso falsch wie die amerikanische Sichtweise, dass europäische Künstlerische Leiter im stillen Kämmerlein von der Kunst träumen und darauf warten, dass der nächste Scheck mit öffentlichen Geldern in den Briefkasten flattert. 

Mir hat das amerikanische System sehr gut gefallen. Es gibt ein einheitliches System, das auf der Annahme beruht, dass es keine öffentlichen Mittel in nennenswertem Umfang gibt. Man verlässt sich auf eine Kombination aus Einnahmen durch den Verkauf von Eintrittskarten und Spenden – ein System, das zu großen Teilen von denen finanziert wird, die das Glück haben, wohlhabend zu sein und sich Großzügigkeit leisten zu können. Ich verbringe natürlich einen Großteil meiner Zeit in den USA mit der Mittelbeschaffung und ich mag den Kontakt mit Geldgebern sehr, weil es eine wunderbare Art ist, jemanden kennenzulernen. Aber niemand sollte denken, dass es bei meiner Tätigkeit als Direktor der Welsh National Opera weniger um Fundraising gegangen wäre. Es ist nur so, dass die Menschen, mit denen ich dort in Kontakt war, ganz andere waren. Es waren Politiker,  Beamte oder Vertreter von einem der beiden Kunsträte, die die Welsh National Opera finanzieren. Der große Unterschied bei der Mittelbeschaffung besteht darin, dass ich in Großbritannien nur selten unmittelbar mit den Personen sprechen konnte, von denen die Finanzierungsentscheidungen letzten Endes getroffen werden.

Es ist weniger direkt.

Ja. In den USA habe ich das Glück, regelmäßig mit Leuten zu tun zu haben, die auf eigene Faust einen großen Unterschied machen können.

Und nur damit das klar ist: In den fast 20 Jahren, die ich in den USA verbracht habe, habe ich nie, nicht ein einziges Mal, einen Spender getroffen, der nicht außerordentlich verantwortungsbewusst und sehr gewissenhaft in seiner Rolle als Philanthrop war. Nur um mit dem europäischen Stereotyp aufzuräumen: Meiner Meinung nach könnte das nicht falscher sein.

Freud mit Lyric Opera of Chicago Chefdirigent Enrique Mazzola • Photo: Todd Rosenberg 

Sie meinen also, das System der privaten Finanzierung bietet mehr künstlerische Freiheit, mehr Flexibilität?

Ich denke, man kann das nicht verallgemeinern, aber in den Jahren, die ich in den USA verbracht habe, hatte ich nie das Gefühl, dass das System die künstlerische Freiheit untergräbt. Im Laufe der Jahre ist es sogar einfacher geworden, ungewöhnlichere, zum Beispiel zeitgenössische Werke in der Oper zu finanzieren. Was Europa betrifft, ist es von Land zu Land unterschiedlich: In Deutschland zum Beispiel gibt es ein beispielloses politisches und öffentliches Engagement für die Kultur, das sich auf Städte, Regionen und die Bundesregierung erstreckt. Das hat zu einer Kulturinfrastruktur geführt, um die Deutschland in der ganzen Welt beneidet wird. Im Vereinigten Königreich – und ich spreche in einer Zeit, in der die Finanzierung der Künste im Vereinigten Königreich meines Erachtens unter besonderem Druck steht – gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg und der Einführung des Prinzips der öffentlichen Unterstützung für die Künste durch unabhängige Agenturen, die als Arts Councils bezeichnet werden, ein Netzwerk hochqualifizierter, erstklassiger Opernhäuser, die nur aufgrund von öffentlichen Finanzierungen funktionieren können, deren Höhe aber nicht ausreicht, um auf dem richtigen Niveau zu arbeiten. Und so kann das Leben in Großbritannien für Kunstschaffende sehr schizophren sein, denn man muss natürlich das liefern, was die öffentlichen Geldgeber erwarten, sich gleichzeitig aber auch so positionieren, dass man in der Lage ist, private Geldgeber anzuziehen. Es ist ein komplexes Thema, und ich wünschte, es würde auf beiden Seiten besser verstanden werden.

Was können beide Seiten voneinander lernen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir für unser Publikum da sein müssen und deshalb muss die Beziehung zwischen einem Opernhaus und seinem Publikum, seinen Stakeholdern, sehr dynamisch sein. Diese Beziehung wird noch intensiver, wenn ein Haus vollständig von der finanziellen Unterstützung seiner Stakeholder abhängig ist. Ein Haus, das mehr auf öffentliche Gelder als auf Einnahmen durch Unterstützer angewiesen ist, schafft eine andere Dynamik in der Beziehung zwischen einem Opernhaus und seinem Publikum.

ANZEIGE

Matthew Epstein, ein ehemaliger künstlerischer Leiter des Lyric Ensembles, sagte kürzlich: ›Das Problem ist, dass die Art und Weise, Geldmittel zu beschaffen, so wie es Ardis Krainik es getan hat, nicht mehr funktioniert.‹ Ist es schwieriger geworden, Geld für Oper zu beschaffen,

Ich denke, es ist immer schwierig, Geld für Oper aufzutreiben. Ich denke, man muss den Geldgeber verstehen, mit dem man es zu tun hat und einen Weg finden, die Strategien des Hauses mit den Prioritäten des potenziellen Spenders in Einklang zu bringen. 

Die Welt hat sich verändert. Die Erwartungen, der Geschmack, die Interessen der Menschen haben sich geändert. Wenn wir erfolgreich sein wollen, können wir es uns nicht leisten, in einer Art Blase zu leben, unabhängig von der Welt um uns herum. Ich glaube, ich stimme dem zu, was Matthew Epstein gesagt hat, aber ich beschwere mich nicht über diese Unterschiede. Ich feiere sie.

Bevor Sie den Weg des Kulturmanagers eingeschlagen haben, haben Sie ein Jurastudium absolviert und hatten eine Zulassung als Anwalt. Hat Ihnen dieser Hintergrund bei Ihrer Karriere in der Opernindustrie geholfen?

Jeden Tag. Ich habe nie aufgehört, für meine juristische Ausbildung dankbar zu sein. Man lernt, zu analysieren, zu denken und Argumente für beide Seiten einer Angelegenheit zu präsentieren. Ich denke, es liegt auf der Hand, dass eine juristische Ausbildung in einem Beruf wie dem meinen, mit seiner wirklich außergewöhnlichen Mischung aus objektiven und subjektiven Fragen, unglaublich wertvoll ist. 

YouTube Video

Einer der Gründe, warum manche Leute Vorbehalte gegen die Oper als Kunstform haben, ist vielleicht, dass viele Strömungen der gegenwärtigen Popkultur das Klangideal der untrainierten Stimme in den Vordergrund stellen. Sänger:innen flüstern leise in ihr Mikrofon und vermeiden Vibrato oder extreme Tonhöhen. Was würden Sie sagen, wenn Sie jemanden von der Schönheit einer großen Opernstimme überzeugen müssten?

Ich würde sagen: Lass mich dich zu einer Opernaufführung einladen. Du musst dir im Voraus nichts darüber anlesen, du musst dich nur hinsetzen und einen offenen Geist, offene Augen und offene Ohren mitbringen. Dann wird dich die Begeisterung garantiert packen, so wie sie mich als jungen Teenager in London in den frühen 70er Jahren gepackt hat. Ich denke, was Oper ausmacht, ist die transformative Kraft der Live-Erfahrung, die extrem körperlich ist. Sie ist nicht intellektuell. Es ist fast unmöglich, sie zu definieren. Man muss sie selbst spüren. Wenn die Opernaufführung  gut genug ist, wird sie ihren Zauber entfalten. Aber sie muss eben gut sein. Denn meiner Meinung nach gibt es zwar nichts, was so großartig ist wie eine gute Oper, aber es gibt auch nicht viel, was so schlecht ist wie eine schlechte Oper. Aber wenn es gut genug ist, wird es auch funktionieren. Und ja, die derzeitige Mainstream-Unterhaltung unterscheidet sich sehr, sehr stark vom Unterhaltungswert der Oper. Aber genau das müssen wir zelebrieren. Wir müssen den Leuten klarmachen, dass das, was sie da erleben, völlig unelektronisch ist. Es ist der unverstärkte Klang von 150 Menschen, die gemeinsam Musiktheater machen. Und ja, eine große Opernstimme klingt anders als die Stimmen der großen Vertreterinnen und Vertreter der populären Musik. Aber das eine ist nicht wertvoller als das andere. 

Trotzdem sind die  Publikumszahlen zumindest in Deutschland rückläufig

An der Lyric sind die Zuschauerzahlen nicht rückläufig. In dieser Spielzeit haben wir unsere Zuschauerzahlen um 15 Prozent gesteigert. Zwischen dieser Spielzeit und der letzten Spielzeit ist unser Publikum um mehr als 20 Prozent gewachsen. Ich denke, dass es für die Kunstform sehr wichtig ist, sich darauf zu konzentrieren, das Publikum nicht nur in seiner Größe, sondern auch seiner Vielfalt zu vergrößern. Ich glaube, dass die Bandbreite der Geschichten, die man erzählt, unglaublich wichtig ist. Deshalb wählen wir, wenn wir ein zeitgenössisches Werk präsentieren, absichtlich Werke aus, die sich mit Dingen befassen, die für die Menschen, die im Jahr 2024 in Chicago leben, von Bedeutung sind. Und das kann sich stark von dem unterscheiden, was in Berlin im Jahr 2020 aktuell war. 

Gleichzeitig glaube ich aber auch sehr stark an den Wert und die Kraft der klassischen Werke, solange man sie durch eine zeitgenössische Linse präsentiert. Diese großen Werke müssen hinterfragt werden. Es ist unsere Aufgabe, ein Bewusstsein für ihre Relevanz zu schaffen, einen Diskurs anzuregen und das Publikum davon zu überzeugen, nicht einfach nur passive Beobachter zu sein, sondern sich aktiv zu beteiligen.

Und wie macht man das?

Durch die Art und Weise, wie man sie interpretiert und dem Publikum vorstellt. Als ich vor 50 Jahren anfing, in die Oper zu gehen, war es üblich, die Titelfigur des Don Giovanni als einen selbstgefälligen, charmanten, verführerischen Aristokraten darzustellen. Aber in Wirklichkeit ist er ein Vergewaltiger und ein Mörder. Und ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, niemals vor den Themen und den Subtexten der Werke, deren Hüter wir sind, zurückzuschrecken. Wir müssen die Menschen auf ihre Komplikationen, ihre Komplexität und ihre Subtexte aufmerksam machen. Wir dürfen keine Angst haben, die großen Werke  zu hinterfragen. Es handelt sich um starke, zähe Stücke, die bewiesen haben, dass sie die Zeiten überdauern. Sie können das aushalten.

Champion von Terence Blanchard in dieser Spielzeit war ein gutes Beispiel dafür, wie man Oper für ein modernes, lokales Publikum machen kann. Spiegeln die Zahlen wider, dass solche Stücke auch Menschen anziehen, die sich nicht unbedingt einen Don Giovanni ansehen würden?

Ich glaube schon. Etwa 27 oder 28 Prozent des Publikums für Champion waren zum ersten Mal in der Lyric Opera. Es war aber auch sehr ermutigend, dass der gleiche Prozentsatz an neuen Zuschauern auch zu Cenerentola kam, das zur gleichen Zeit wie Champion aufgeführt wurde. Das ist eine Statistik, die mich immer noch verblüfft. Und um ehrlich zu sein, widerlegt das Ihre vorherige Frage hinsichtlich der Annahme, dass das Opernpublikum ausstirbt.

YouTube Video

In der New York Times stand, dass in der Lyric Opera von Chicago die Zahl der Abonnent:innen zurückgegangen ist.

Es stimmt, dass vor 20 Jahren die gesamte Spielzeit allein durch Abonnentinnen und Abonnenten ausverkauft war. Das war damals eine echte Auszeichnung für die Lyric. Trotzdem begrüße ich die Tatsache, dass unsere Spielzeiten nicht mehr im Vorhinein ausverkauft sind, denn wenn sie es wären, könnten wir kein neues Publikum akquirieren. Wir  könnten keine neuen Zielgruppen ins Opernhaus locken. Wir schätzen unsere Abonnentinnen und Abonnenten immer noch sehr. Sie machen etwa 45-46% unseres Publikums aus, was immer noch ein unglaublich wichtiger Anteil ist, aber gleichzeitig haben wir die Möglichkeit, Neulinge in die Kunstform der Oper einzuführen.

Wer ist Ihre Lieblingssänger:in?

In meinen frühen Operntagen hatte ich eine Reihe von Lieblingssängerinnen und -sängern jener Ära, die mich absolut bezauberten und mich regelrecht süchtig nach mehr machen. Drei davon waren Joan Sutherland, Jon Vickers und Leontyne Price. Ich hatte das Glück, Vickers und Sutherland viele Male live zu erleben, sie traten in den 70ern und 80ern regelmäßig in Covent Garden auf. Also ging ich zu jeder Vorstellung, in der sie mitgesungen haben.

Gibt es eine Qualität, die beide gemeinsam haben?

Außergewöhnliche Individualität. Wenn man an die Kunst von Joan Sutherland denkt und sie mit der Kunst von Jon Vickers vergleicht, könnten beide in ihrem Singen und Auftreten nicht unterschiedlicher sein. Aber jeder von ihnen war absolut unverwechselbar. Und jeder von ihnen präsentierte etwas, das das Gegenteil von generisch war. Sutherland in der Oper zu erleben, war ein außergewöhnliches Erlebnis, obwohl sie im herkömmlichen Sinne keine großartige Theaterdarstellerin war. Dennoch war ihre Bühnenpräsenz außerordentlich theatralisch, aber es war eine Theatralik, die eben aus ihrem Stimmklang heraus entstand. Und eine der wirklich lebensverändernden Erfahrungen, die in mir den Wunsch weckten, ein Missionar für Oper zu werden, war der Besuch einer Prom-Aufführung von Peter Grimes im Jahr 1975. Ich kam extra früh und sobald die Türen öffneten, rannte ich die Treppen hinunter in die Arena und sicherte mir einen der besten Plätze ganz vorne am Geländer. Was ich nicht wusste, ist, dass ich so direkt vor Jon Vickers stand. Er war nicht mehr als zwei oder drei Meter von mir entfernt. Es gab nichts und niemanden zwischen mir und ihm und der schiere Schlag in den Solarplexus, den Vickers’ Gesang von Peter Grimes in mir ausgelöst hat, hat mich nie verlassen. Ich kam aus diesem Konzert heraus und dachte: ›Wenn Oper sowas mit mir machen kann, möchte ich so viele Menschen wie möglich überzeugen, das zu erleben, was ich gerade erlebt habe.‹

Glauben Sie, dass der Trend zu mehr zeitgenössischen Opern wie Champion in Amerika weitergehen wird?

Amerika ist ein unglaublich fruchtbarer Boden für neue Werke und das schon seit einiger Zeit. Wenn man an Dead Man Walking aus dem Jahr 2000 denkt und an die Anzahl neuer Werke, die in den ersten 24 Jahren des 21. Jahrhunderts geschaffen wurden, ist das eine erstaunliche Zahl. Die Tatsache, dass so viele Opernhäuser in den USA regelmäßig neue Werke in Auftrag geben und wiederaufnehmen, sollte uns in Bezug auf die Zukunft der Kunstform in den USA sehr optimistisch stimmen.

YouTube Video

Was war der schwierigste Moment Ihrer Amtszeit als Direktor der Lyric Opera of Chicago?

Covid. Der schwierigste Moment meiner Karriere war um 14:30 Uhr am Freitag, den 13. März 2020. Wir befanden uns zwei Wochen vor der Eröffnung einer neuen Produktion der Götterdämmerung und etwa vier Wochen vor einem vollständigen Ring. Glücklicherweise hatten wir in den drei Jahren zuvor bereits Aufführungen vom Rheingold und Siegfried gegeben. Aber wie Sie wissen, ist ein Ring das ambitionierteste Unterfangen, das ein Opernhaus in Betracht ziehen kann. Die Planung einer neuen Produktion des Rings ist ein zehnjähriger Prozess, und bis vielleicht drei Tage zuvor dachte ich noch: ›Irgendwie werden wir das schaffen. Irgendwie wird alles gut ausgehen.‹ Und dann wurde sehr, sehr schnell sehr, sehr klar, dass eine Absage die einzige Option war. Das gesamte Unternehmen auf der Bühne zu versammeln und zu sagen ›Wir müssen den Ring wegen der Pandemie absagen‹ –  das kommt einem beruflichen Trauma schon sehr nahe. Und natürlich wurde es viel schlimmer, denn wir mussten dann die gesamte folgende Saison absagen.

Wurde die ursprüngliche Produktion der Götterdämmerung jemals gezeigt?

Noch nicht. Sie existiert. Sie wurde geprobt, aber noch nicht aufgeführt. Die Planung eines Rings fühlte sich angesichts des unsicheren Klimas einfach zu ambitioniert an. Ich glaube, dass Lyric und der Ring sich wieder treffen werden. Und so wird hoffentlich diese Produktion der Götterdämmerung und dieser gesamte Ring irgendwann in Zukunft an der Lyric eine Bühne finden. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).