Im Herbst 2021 und zeitgleich mit ihrem neuen Album Amata dalle Tenebre veröffentlichte Anna Netrebko ihr erstes (Koch-)Buch: Der Geschmack meines Lebens. Rezensiert haben das Buch schon einige, aber beurteilen, wie gut ein Kochbuch wirklich ist, kann man nur in der Küche. Kevin Ng und Aksel Tollåli haben jeweils eine kleine Anna-Netrebko-Dinnerparty geschmissen und berichten von Vorbereitung und Verzehr. Den Anfang macht der erste Eindruck.

Foto © Martin Krachler, Styria Books

Kevin Ng (KN): Fangen wir mit dem Titel an. Der Geschmack meines Lebens, das klingt wie ein zweiter Teil von Franz Léhars Schön ist die Welt. Oder wie die mit Spannung erwartete Fortsetzung von Paul Abrahams Fußball-Operette Roxy und ihr Wunderteam, in der Roxy und Konsorten sich nach dem Match mit Blini, Kaviar und Wodka vollstopfen.

Aksel Tollåli (AT): Mit Anna Netrebko, die das Maskottchen der ungarischen Fußballnationalmannschaft spielt – was würde ich geben um das zu sehen!

KN: Das Ganze wirkt mit diesen großformatigen opulenten Hochglanzfotos der Diva ein bisschen, als wäre es gerne ein Coffee Table Book vom Taschen Verlag. Ich spreche kein Deutsch, aber den ›Geschmack‹ im Titel würde ich eher infrage stellen. 

Foto © Martin Krachler, Styria Books

AT: Es geht eigentlich viel mehr um biografische Anekdoten als um Rezepte. Jedes Kapitel ist einer Stadt gewidmet, in der Netrebko viel aufgetreten ist, mit einem kurzen Essay und einem Foto einer Produktion, flankiert von Kritiken, die sie in den Himmel loben. Insgesamt sind es nur 29 Rezepte auf 159 Seiten – sie gehen ein bisschen unter in Selbstbeweihräucherung. Das Kapitel über Salzburg trägt den Titel ›Primadonna assoluta‹.

KN: Äthiopische Rezepte gibt es allerdings nicht. 

AT: Nein, aber auf diese Episode ihrer Bühnenkarriere kommen wir bestimmt später nochmal zu sprechen. Die Rezepte sind ziemlich bunt zusammengewürfelt, wohlwollend ausgedrückt. Da ist von Porridge aus St. Petersburg über einen Bananen-Ei-Smoothie aus San Francisco bis zu einer Blinitorte mit Lachs und Forellenkaviar aus Netrebkos Geburtsstadt Krasnodar alles dabei. Und außerdem gibt es noch das Party Pork aus New York, dessen Name nichts Gutes verheißt. 

KN:Annas Fleischbällchen‹ wird mein neuer Dragqueen-Name. Erinnerst du dich noch an ihr Album Souvenirs von 2008? Das ging in eine ganz ähnliche Richtung, das wurde ja auch angepriesen als CD mit ›schönem Booklet, drei Postkarten und einem Poster von Netrebko‹. Und einer pinken Straußenfeder. Denn was könnte luxuriöser sein, als sich Fleischbällchen essend auf einem Diwan zu räkeln, sich Luft zuzufächeln und dabei Netrebko in völlig unverständlichem Französisch Depuis le jour singen zu hören?

AT: Das Bild von ihr mit Knutschmund und der Gabel Spaghetti hätte auch auf eine Postkarte gemusst. Die Chance haben sie echt verpasst.

Aber zurück zum Cover. So sehr ich auch extravagante Blumenmuster liebe – am besten gleich mehrere auf einmal –, dieses Bild hat etwas merkwürdig Kulthaftes an sich. Nicht zuletzt wegen der Schale mit Erdbeeren, die einfach im Kleid verschwindet. Eine beerige Lady Macbeth von Mzensk.

KN: Hier haben sie die Chance für ein schönes Pilzrezept vertan. 

AT: In einigen Rezepten kommen Pfifferlinge vor. Die Chance haben also tatsächlich wir beide verpasst. 


Wir wählen jeweils vier Rezepte aus dem Kochbuch für unsere Anna-Netrebko-Dinnerpartys. An manchen Gerichten gibt es kein Vorbeikommen.


KN: Eine Kaviar-Blini-Torte. Die muss einfach sein. 

AT: Der Name Party Pork macht mir Angst, aber neugierig bin ich schon. Auch ein Muss.

KN: Ich bin auch sehr gespannt auf den Chicorée mit Gorgonzola und Himbeeren. Das wird entweder großartig oder grauenvoll, wir werden sehen. Am besten gefällt mir die Aufforderung – oder eher der Befehl –, dieses Gericht mit Kaviar und Wodka zu servieren.

AT: Das ist einfach die Grundlage für eine ausgewogene Ernährung.

Kevins Chicorée mit Gorgonzola und Himbeeren
Aksels Wareniki mit Kartoffel- und Sauerkrautfüllung

Weil wir beide die kompliziertesten Rezepte auswählen, brauchen wir einen ganzen Tag für die Zubereitung. 


KN: Dass ich kein Deutsch spreche, war eine extra-Herausforderung. 

AT: Ich habe an der Uni ein Jahr lang Deutsch studiert, deswegen konnte ich die meisten Rezepte halbwegs verstehen. Schwieriger waren für mich eher die Fehler in einigen davon. Das Party Pork soll fünf Stunden lang bei 180 ℃ gebacken werden. Ich glaube, wenn man das wirklich macht, ist am Ende nicht mehr viel davon übrig. 

Aksels Party Pork und Grüner Hasensalat

KN: Mein erster Gedanke war: Mascarpone mit Minze? Und: Wie viel Crème fraîche?

AT: So. Viele. Kartoffeln. 

KN: Mich hat auch sehr gewundert, dass in den Kuchen keine Butter reinkommt. Ich vermute mal, damit soll die Blinitorte ausgeglichen werden, die mehr oder weniger auf jeweils einem Paket Butter, Crème fraîche und Mascarpone basiert. 

AT: Eine völlig angemessene Dosierung, wenn du mich fragst. Und der Brotpudding macht den schlanken Kuchen auch wieder wett. Zwei Becher Sahne und ordentlich Butter für ein paar Scheiben Brioche. Das ist schon eine ganze Menge.

Kevins Thunfischfilets in Sesammantel – Er fand zufällig Thunfisch in Sashimi-Qualität im Supermarkt, darum hat er sich bei diesem Gericht ein paar Freiheiten erlaubt.

KN: Ein einziger glänzender Exzess. Wie Anna selbst. 


Am nächsten Tag sprechen wir uns wieder und berichten von unseren jeweiligen Dinnerpartys.


KN: Ich bin mit der Erwartung angetreten, dass die Gerichte skandalös werden und da hat Anna sicherlich abgeliefert. Ich habe nicht unbedingt gedacht, dass es auch schmeckt, aber da wurde ich sehr positiv überrascht.

AT: Es war alles erstaunlich lecker. Sogar das Party Pork, bei dem man einen Schweinenacken in Wermut und Steakgewürz mariniert. Das konnte eigentlich gar nicht gutgehen – ist es aber.

KN: Die Blinitorte würde ich sofort wieder essen. Ich hatte etwas Angst vor der schieren Menge an Crème fraîche und Mascarpone, plus die ganzen Kohlenhydrate, zwischen die die Creme geschichtet war. Aber die Kombination aus Minze und Frühlingszwiebeln hat dem Ganzen eine schöne Frische verliehen.

AT: Es gibt nichts Besseres um in den Abend zu starten als so einen Haufen fetter Milchprodukte. Die größte Überraschung für mich war der Salat aus dem Wiener Kapitel. Wer hätte gedacht, dass Dill und Sesamöl so gut zusammenpassen?

KN: Von der Scharlotka bin ich kein großer Fan, die war etwas trocken. Von diesem Kuchen hab ich vorher noch nie gehört, habe dann aber recherchiert, dass das ein klassisches Sowjet-Rezept ist, was vielleicht erklärt, warum da keine Butter drin ist. Die Vanille aus Madagascar war aber ganz gut dazu.

Kevins Scharlotka. Am Tag nach dem Dinner hat sie besser geschmeckt.

KN: Wussten deine Gäste eigentlich, auf welche Art von Dinnerparty sie sich einlassen? 

AT: Sie kannten das Konzept, ja, aber wirklich Ahnung von Anna Netrebko hatte niemand. Die Gäste, die versierter im Opernbereich sind, konnten leider nicht kommen. 

KN: Meine hatten auch mal von ihr gehört, aber ich glaube, es ist schwierig zu erklären, welchen Status Netrebko unter schwulen Opernfans hat. Von ihrer polarisierenden Repertoirewahl über ihre ungeheuerlichen Social-Media-Posts bis hin zu ihrer Verteidigung von Blackface, die wirklich gar nicht geht – ›es ist kompliziert‹ trifft es nicht mal ansatzweise.

AT: Es war definitiv einfacher, sie zu mögen, bevor sie diese ›Black Face and Black Body for Ethiopien [sic] princess, for Verdi[‘s] greatest opera! YES!‹-Tirade auf Instagram losgelassen hat. Aber auch vorher schon war ihr Verhalten oft alles andere als unproblematisch. Sie pflegt schon lange den Kontakt zu russischen Oligarchen und Vladimir Putin und hat – neben Valery Gergiev – Putins Annexion der Krim öffentlich unterstützt. 

KN: Warum fasziniert sie dann immer noch so – besonders die, die es eigentlich besser wissen sollten? 

AT: Das muss an diesem Camp-Faktor liegen. Sie ist eine dieser Sänger:innen, die völlig unbeeindruckt sind von dem, was um sie herum passiert (auch wenn ihre Kommentare auf Instagram etwas anderes vermuten lassen) und stattdessen einfach weiter in immer bizarreren Outfits durch die Welt gondeln.

KN: Ja, das wird’s sein – diese Ausstrahlung, dass ihr alles scheißegal ist, macht sie so faszinierend, auch wenn das manchmal was von einem schlimmen Autounfall hat, bei dem man einfach nicht weggucken kann. Ich meine: Welche andere Opernsängerin würde heutzutage ein 150-seitiges Kochbuch rausbringen? ¶