Modesta Cesárea Sanginés Uriarte. Was für ein Name, was für eine Künstlerin! Geboren am 26. Februar 1832 in der höchsten Hauptstadt der Welt, im bolivianischen La Paz. Ihre Eltern müssen gespürt haben, dass Sanginés hoch hinaus wollte. Sie förderten ihre Tochter früh in Sachen kulturelle Bildung und Sprachen,  ganz entgegen der in Südamerika im 19. Jahrhundert bestehenden Vorbehalte die Frage betreffend, ob nicht Frauen per se ihre Ziel- und »Zweckbestimmung« rein auf dem »Heiratsmarkt« zu suchen und zu finden hätten.

Sanginés‘ Eltern profitierten von dem Umstand, dass die argentinisch-chilenische Pädagogin Dámasa Cabezón (1792–1861) genau in den Kinder- und Jugendjahren ihrer Tochter in Santiago de Chile und La Paz reine Mädchenschulen gründete und damit einen wertvollen Beitrag zur pädagogischen Gleichbehandlung leistete. Sanginés trat in jene Schule in La Paz ein und konnte ihren Sprach-Interessen (sie erlernte neben Boliviens Landessprache Spanisch noch Französisch und Italienisch) sowie ihrem Talent in Bildender Kunst und Musik (sie spielte hervorragend Klavier) eindrücklich nachgehen.

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Auf das Klaviertalent von Sanginés wurde sogar der Militär und Politiker Adolfo Ballivián Coll (1831–1874) aufmerksam, der kurz vor seinem frühen Tod (er starb mit nur 42 Jahren an Magenkrebs) für einige Monate Präsident von Bolivien werden sollte. Ballivián und Sanginés trafen sich häufig, um gemeinsam vierhändig am Klavier zu musizieren. Hinweise auf eine Liebesbeziehung der fast Gleichaltrigen findet man nicht. Überhaupt blieb Modesta Sanginés Uriarte ihr Leben lang unverheiratet; freiwillig – aus freien Stücken blieb sie eine freie Frau, um es überzuformulieren. Als ihre beiden Eltern gestorben waren, zog sie zu ihrem Bruder.

Inzwischen hatte sie sich längst eine erfolgreiche Laufbahn als Sängerin und Pianistin aufgebaut. Zudem komponierte Uriarte regelmäßig; Werke, die sich an dem Kanon der etablierten Kompositionen von Mozart, Beethoven und Liszt orientierten, ergänzt durch patriotisch-religiöse Anklänge. Bei einem Pariser Verlag ließ sie einige ihrer Kompositionen im Druck veröffentlichen. Außerdem gab sie Unterricht in verschiedenen Sprachen, übersetzte Werke anderer Autorinnen und Autoren, schrieb eigene literarische Texte, veröffentlichte in Zeitungen, unterstütze die frühe Frauenbewegung in ihrem Heimatland und engagierte sich darüber hinaus in verschiedenen Kriegssituationen für Kriegsversehrte sowie für Arme und Kranke: So organisierte und finanzierte Uriarte eine eigene Krankenhausstation für ältere Menschen, Waisen und Frauen, arbeitete als Mitglied der Sociedad de Beneficencia an diversen anderen sozialen Projekten und veranstaltete nicht zuletzt unermüdlich Benefizkonzerte zur Finanzierung all dieser Organisationen.

Modesta Cesárea Sanginés Uriarte zog gen Ende ihres Lebens nach Frankreich und starb dort am 5. Februar 1887 im Alter von 54 Jahren. Ihr Erbe vermachte sie verschiedenen Frauenorganisationen. Diese sollten die finanziellen Mittel derart investieren, dass möglichst viele bolivianische Frauen unabhängig von (Ehe-)Männern leben und arbeiten können. »Cuando falleció Modesta Sanginés, el año 1887, aún no había nacido el feminismo en el mundo« (»Als Modesta Sanginés 1887 starb, war der weltweite Feminismus noch nicht geboren«), schreibt die Autorin Patricia Montaño Durán. Man könnte hinzufügen: noch nicht geboren, aber durch Frauen wie Modesta Cesárea Sanginés Uriarte in die Welt und auf den Weg gebracht …


Modesta Sanginés Uriarte (1832–1887)
Polka f-Moll für Klavier

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Die Polka f-Moll klingt überhaupt nicht nach einer Polka, sondern wie ein höchst sehnsuchtsvolles Stück nach Chopin. Stetig werden Gesten wiederholt: Echos längst vergangener Gefühle. Hier ein Ausbruch, dort ein Nachlauschen. Die kleinen Ausformulierungen amouröser Gedanken werden fein variiert, so dass das Stück keineswegs eintönig wird. Und zugleich entfaltet es in seiner demütigen Kürze die hypnotische Sentimentalität von späteren Klavierschöpfungen wie die Gnossienne No. 1 (ca. 1890) von Erik Satie. ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.