Vom 6. bis 21. Mai 1920 dirigierte Willem Mengelberg im Amsterdamer Concertgebouw alle Sinfonien Gustav Mahlers. Die freundschaftliche Nähe zum Komponisten hatte Mengelberg schon zu Mahlers Lebzeiten zum Experten für seine Musik gemacht, das Amsterdamer »Mahler-Feest« von 1920 gilt mit als Initialzündung für Mahlers internationalen Erfolg. Das Concertgebouw ist seit jeher ein Sehnsuchtsort für Mahler-Begeisterte. Und auch das erste Mahlerfest litt – historische Parallele – unter den Folgen einer Pandemie: Aufgrund der Spanischen Grippe von 1919 hätte das Festival fast abgesagt werden müssen, sogar Willem Mengelberg hatte sich infiziert, war aber rechtzeitig wieder auf den Beinen.
100 Jahre später. Vom 8. bis 17. Mai 2020 hätte eine Wiederholung dieses Mammutprojekts angestanden. Innerhalb von zehn Tagen hätten sich die Klangkörper aus Berlin, Wien, Budapest, New York und das Gustav Mahler Jugendorchester die Klinke in die Hand gegeben. Jaap van Zweden, Kirill Petrenko, Myung-Whun Chung, Daniel Barenboim, Daniel Harding, Iván Fischer und mehr als 800 Minuten Mahler.
Nun alles abgesagt. Natürlich, und richtig. Was aber tun mit jenem Jubiläum, der verpuffenden Kraft des Festivals? 100 Jahre Salzburg stehen vor derselben Frage. Ebenso Bayreuth, Luzern, Bregenz, Verona, Musikfest Berlin. Das Concertgebouw hat nun einen Weg gefunden, das Festival in den digitalen Raum zu transferieren, ohne hierbei an der Erhabenheit des Projekts einzubüßen. Der Clou heißt Teilhabe.

Nach den ersten Schockstarren aufgrund der Auftrittsverbote infolge der Corona-Pandemie schossen die digitalen Reaktionen der Konzertsäle, Opernhäuser und freien Musiker*innen aus dem Boden des Internets. Streams aus der Konserve, einige wenige Livekonzerte im Sicherheitsabstand der Kammermusik und vor leeren Rängen, Igor Levits allabendliche, inzwischen internationale beachtete Twitterkonzerte, auch wenn sein Beethoven auf Socken nicht unumstritten ist. Ebenso wurde in einigen Opernhäusern hektisch in den Beständen der Archive und VHS-Kassetten gewühlt, um auch am neuen kulturellen Home-Angebot teilzunehmen – der ästhetische Benefit oder gar das Vermittlungspotenzial so manch abgefilmter Opernproduktion in Bärenfell oder Pluderhose sei dahingestellt.
Zugleich hob etwa das dramaturgische Konzept des Europakonzerts der Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko die Idee eines kammermusikalischen Distanzkonzerts auf eine neue künstlerische Ebene – nicht zuletzt dank Petrenkos intelligenter Werkauswahl und behutsamem Dirigat zwischen Ligeti und Mahler. Und auch die ersten zusammengeschnittenen Konzerte aus diversen Homeoffices von Musiker*innen öffneten einen Raum für das Erleben dieser neuen Gattung. So fiel es schwer, von der isoliert-empfindsamen Interpretation des Chorals Befiehl du deine Wege des Bachfests Malaysia nicht berührt zu sein, als diese jene neue Form begründeten. Die bis heute folgenden, unzähligen Facebookkonzerte und so manch wahllos in den digitalen Raum geworfene Produktion nährten aber später eine gewisse Abstumpfung und unweigerlich die gesteigerte Sehnsucht nach allem, was ein Livekonzert ausmacht.
Umso brisanter nun, wie die internationalen Klassikfestivals mit ihrer Aufgabe umgehen. Im Falle des Amsterdamer Mahlerfestes war zumindest für die abgesagten Konzerte rasch eine Streaming-Alternative gefunden: 2010 und 2011 hatte das Concertgebouworkest den 150. Geburtstag und den 100. Todestag Mahlers (1860–1911) opulent gefeiert und konnte nun aus einem reichen Fundus an mitgeschnittenen Konzerten schöpfen. Doch ein Konzertstream ist kein Konzept. So entstand zum Ausgleich ein digitales Rahmenprogramm, das es in sich hat: Durch die Fokussierung auf eine Sinfonie pro Tag gelang im Sinne eines Thementags eine inhaltliche Zuspitzung. Jeder abendlichen Stream-Premiere standen über den Tag verteilt mindestens zwei weitere Premieren zur Seite: Zusätzlich zu den neun Sinfonien und dem Lied von der Erde gab es jeden Tag eine 20minütige neue Dokumentation und ein gesondertes Interview mit einer Person aus dem Orchester oder seinem Umfeld.
10 Dokus, 10 Interviews, 10 Sinfonien. So getaktet, als ob man einen echten Festivaltag begehen würde: um 15 Uhr die Interviews mit Musiker:innen oder auch mal dem Bühnenplaner der gigantischen 8. Sinfonie, unter dem gemeinsamen Obertitel »Mahler Memories». Um 20 Uhr die aktuelle Dokumentation zur jeweiligen Sinfonie als Teile von »Mahler’s Universe«. Kurze Getränkepause, dann um 20.30 Uhr die Sinfonie. Und nicht etwa »einfach so online gestellt«, sondern auch als Premiere und Konzertereignis – vorspulen war nicht möglich (erst hinterher, nach Ablauf des Konzerts). Die Chatfunktion bei Youtube während des Konzerts und der hieraus erfolgende Austausch unter den Gästen stärkten noch die Live-Illusion – als ob man sich leise flüsternd im Konzert untereinander austauschte.
Das Herzstück des Mahler Online Festivals sind jedoch die Dokumentationen. Patin und Gestalterin des Intros ist Marina Mahler, die 76jährige Enkelin des Komponisten, Mäzenin, Gründerin der Mahler Foundation. Sie gibt diesen Filmen nicht nur ihren individuellen, authentischen Anstrich, sie strukturiert sie zugleich mit historisch-biographischen Kontexten, die mit originalen Filmaufnahmen der Jahrhundertwende unterfüttert werden: Das lauschende Publikum in der Wiener Hofoper um 1900, der erste Flug der Gebrüder Wright, das Wuseln des Verkehrs im historischen New York. Ihr zur Seite stehen auf der einen Seite eine illustre Mischung von hochrangigen Musiker:innen, Dirigent:innen und Musikwissenschaftler:innen, die zusammen die Sinfonien in Gestaltung und Wirkung besprechen.
Auf der anderen Seite, nun kommt der Clou, finden diese Dokus in den öffentlichen Parks Amsterdams oder New Yorks statt, oder auch mal in den österreichischen Bergen. Wildfremden Menschen werden große Kopfhörer aufgesetzt und Ausschnitte aus Mahlers Musik vorgespielt. Kommentarlos. Und die Wirkung ist frappierend. Wir beobachten das faszinierte Lächeln des bärtigen jungen Mannes, das Grooven des Skateboardfahrers, die Ruhe der Frauen auf der Parkbank. Wir horchen mit ihnen, wie sie zum ersten Mal den elegischen Streicherklängen und skurrilen Scherzo-Tänzen lauschen. Wir hören das Mahler-hören. Es ist ein Caspar-David-Friedrich-Moment, der alle Sinne öffnet. Wie bei seiner »Frau vor der untergehenden Sonne« sehen wir nicht den Sonnenuntergang, sondern die Erhabenheit des Moments, wenn wir ihn durch ihre Augen betrachten.

Diese Spiegelung des individuellen Hörens, diese Rückbesinnung auf den ersten Kontakt mit Mahlers Musik macht das Amsterdamer Mahler Festival zu einem Vorzeigeprojekt kultureller Teilhabe im Internet. Die wenigen Sekunden versonnener Stille, in denen ein kleines Mädchen, ein aus der Arbeit herausgetretener Kellner und eine Frau mit ihren beiden Hunden der ungebrochenen Schönheit des dritten Satzes aus Mahlers 4. Sinfonie lauschen, bergen in sich das gesamte Spektrum dieses emotionalisierenden Konzepts.
Diese Feinfühligkeit und Nähe zum Gegenstand hält sich sowohl in den Fachgesprächen der Dokumentationen, als auch in so manchen Momenten der Konzertstreams. Mit viel Raum für das Hören, für das Suchen nach den richtigen Worten ertasten sich die Beteiligten ihre Zugänge zu Mahler. So etwa Thomas Hampson, der sich in Anbetracht des Auferstehungs-Chorals aus der 2. Sinfonie lächelnd weigert, diesen irgendwie noch zu kommentieren.
Und Jessye Normans leises Mitsingen des Urlichts aus derselben Sinfonie gehört unweigerlich zu den großen Momenten des musikalischen Dokumentarfilms. Diese Dokumentationen vermitteln nicht didaktisch Wissen oder ergehen sich in biographischen Binsen – eigentlich sind sie Leerstellen, die dazu führen, dass wir mehr und mehr der Musik als den Worten lauschen, wie es auch die Protagonisten immer wieder praktizieren.
Derartige Momente prägen auch die einzelnen Interviews mit den Musiker:innen des Concertgebouworkest. Etwa die sympathische Englischhornistin, die Mahlers Soli beschreibt und analysiert, und ihr Instrument wie ein Cello umarmt. Der junge Posaunist, der sichtlich aufgeregt feststellt, dass »Mahler, in general for brass players, is a party!«. Währenddessen führt er vor, dass das Orchestermaterial, die Stimmen aus denen die Musiker*innen spielen, die historisch originalen Noten noch von 1920 sind, mit allen Einzeichnungen aus Generationen von Kolleg:innen. Über 100 Jahre Historizität und jugendlicher Elan auf dreieinhalb Minuten eingedampft.
Und nicht zuletzt gelingt es den beteiligten Konzeptionist:innen, Dramaturg:innen und Filmer:innen auch immer wieder, diese Ansprache und individuelle Gestaltung der Musik durch die Wahl der Blickwinkel in den Konzertmitschnitten festzuhalten. So zwinkert Mariss Jansons seinen donnernden Hörnern nach dem Hymnus am Schluss der 1. Sinfonie freundschaftlich zu, so stecken die beiden Trompeter innig ihre Köpfe zusammen, wenn sie im Schlusschoral der 3. Sinfonie ankommen. All diese Augenblicke aufmerksam einzufangen, sie zu kontextualisieren und musikalisch für sich stehen zu lassen, macht die Kraft dieses Online-Festivals aus.
Dass das alles gut ankommt, zeigen die Zugriffszahlen: Das Amsterdamer Mahlerfest verzeichnete über eine Million Klicks innerhalb jener 10 Tage. Ein Online-Festival, das die Wahrnehmung der analogen Welt verändert. Als ich draußen auf die Straße trete, schaue ich fremde Menschen an und denke nicht sofort ans Abstandhalten, sondern daran, wie sie wohl in diesem Moment Mahler hören würden. Das muss man erst mal schaffen.
Mit Pressemeldung vom heutigen 20. Mai 2020 kündigt das Concertgebouw an, dass das analoge Mahlerfest im kommenden Jahr in kleinerer Dimension nachgeholt werden soll. Vom 18. bis 23. Mai 2021 gibt es die Sinfonien 1 bis 6 sowie das Lied von der Erde, wenn auch in nicht-chronologischer Reihenfolge (warum?). Teilnehmer sind die großen Orchester aus Amsterdam, Hong Kong, München, London und Budapest, unter Fabio Luisi, Jaap van Zweden, Valery Gergiev, Simon Rattle, Jakub Hrůša und Iván Fischer. (Wobei sich schon fragen lässt, warum das so offene Amsterdam hier nach wie vor so starr an männlichen Dirigenten festhält. Die Mahler-Exegesen und Emphasen einer Marin Alsop oder einer Oksana Lyniv liegen zudem weit über den Mahlermöglichkeiten etwa eines Daniel Barenboim oder Daniel Harding. Aber das ist eine andere Baustelle.) ¶