Letzte Woche erreichte uns eine erboste Botschaft von Reinhard Goebel: Das Cembalo-Konzert, welches wir in ihrem Porträt Wilhelmine von Bayreuth zugeschrieben haben, sei überhaupt nicht von ihr. Und sie eigentlich gar keine Komponistin. Und zudem höchst unsympathisch. Letzteres ließ uns relativ kalt, den ersten beiden Punkten sind wir nachgegangen.

Bei einem wissenschaftlichen Symposium im Jahre 2008 erklärte Sabine Henze-Döhring, Professorin für Musikwissenschaft an der Marburger Universität und Spezialistin für Hofmusik des 18. und 19. Jahrhunderts (mittlerweile im Ruhestand), dass sie im Rahmen ihrer Recherchen für eine Monografie über die Hofmusik Wilhelmines von Bayreuth herausgefunden habe: Das bekannteste ihrer Werke, das Cembalokonzert in g-Moll, hat gar nicht die Markgräfin geschrieben. Stutzig gemacht hatte Henze-Döhring, dass das Konzert in seinem Fortspinnungsstil so ganz anders klingt als die vorklassischen Konzerte Johann Gottlieb Grauns, den die moderne Wilhelmine verehrte. »›Dieses frühbarocke Cembalokonzert soll von der Markgräfin Wilhelmine sein? Das glaube ich nie und nimmer!‹, habe ich gedacht«, erinnert sich Henze-Döhring am Telefon. Auch in den Briefen der Markgräfin sei das Cembalo-Konzert in keiner Weise erwähnt.

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Überliefert ist eine Abschrift des Konzerts, auf der ›di Wilhelmine‹ steht – oder vielmehr eine Teilabschrift: nur die Stimmen der Ritornelle, der Cembalo-Solo-Part fehlt vollständig. Diese Abschrift sei, so Henze-Döhring, erstmals im späten 19. Jahrhundert in Wolfenbüttel aufgetaucht, ein gewisser Willy Spilling habe sie dann in den 1950er Jahren wiederentdeckt, kurzerhand die fehlende Solostimme ergänzt und das Ganze bei einem kleinen Münchner Verlag veröffentlicht als Cembalokonzert von Markgräfin Wilhelmine. »Seitdem wurde bei jeder Führung im markgräflichen Opernhaus das Konzert gespielt, nach dem Motto ›Nun hören wir die Markgräfin sprechen‹, mit diesem Solo-Part von Willy Spilling«, erzählt Henze-Döhring.

In den 1990er Jahren fand die Pianistin Irene Hegen in Weimar eine vollständige Abschrift des Cembalokonzerts. »Da steht aber nichts von Wilhelmine drauf, sondern einmal ›Förster‹, das ist aber durchgestrichen, und dann ›Jaenichen‹«, so Sabine Henze-Döhring. »Irene Hegen hat diese Version gespielt, ediert und beim Furore-Verlag herausgegeben. Ich habe daraufhin viel recherchiert und herausgefunden: Jänichen war Geheimsekretär des Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt (dem Bach die Brandenburgischen Konzerte gewidmet hat), einem Halbbruder von Wilhelmines Großvaters – und begabter Cembalist, der komponiert hat und zu dem das Cembalokonzert vom Stil her viel besser passt als zu Wilhelmine. Dann habe ich noch im Breitkopf und Härtel-Katalog von 1763 nachgeschaut, in dem ebenfalls Jänichen, in der Schreibweise Jenichen, als Komponist dieses Cembalokonzerts angeben ist. Da hatte ich also eine zweite Quelle. In der Philologie sagt man: Wenn zwei Quellen voneinander unabhängig die Autorschaft belegen, dann ist das eine Grundlage für eine Zuschreibung.« Und fertig war die kleine wissenschaftliche Sensation. Außerdem hätte Wilhelmine zu den von ihr komponierten Stücken, zum Beispiel zu zwei Cavatinen aus der Oper l’Huomo, immer dazugeschrieben, ›Composta da Sua Altezza Reale‹, also ›von ihrer Königlichen Hoheit‹, »das war ihr unglaublich wichtig«, so Henze-Döhring. Warum steht dann aber auf der Teilabschrift aus Wolfenbüttel ›di Wilhelmine‹? Das weiß niemand, auch Henze-Döhring nicht.  

»Es ist immer fragwürdig, wenn gekrönte Häupter komponieren«, meint Dirigent Reinhard Goebel dazu auf Nachfrage. »Erstmal steht bei solchen hohen Herrschaften das Unechtheitsgebot im Raum. Bei so einer douptfulen Person muss erst bewiesen werden, dass ein Werk von ihr ist.« Goebel hat auch Zweifel, dass Wilhelmine die unter ihrem Namen geführte Oper Argenore komponiert hat. »Da weiß man nicht, wer ihr geholfen hat«, meint auch Henze-Döhring. »Sie hat 1734 erst das Komponieren gelernt bei Johann Pfeiffer und 1740 schreibt sie eine komplette Oper …« Auch Goebel kann sich gut vorstellen, dass hier nachgeholfen wurde: »Es gibt natürlich Gemeinschaftskompositionen. Jemand erfindet die Melodie und lässt sich dann das Stück fertig schreiben. Ich wäre auch bei Friedrich dem Großen sehr vorsichtig mit Eigenkompositionen. Wie beim jungen Mozart, da ist auch immer ein bisschen Papa dabei. Wann hätte Wilhelmine die Zeit haben sollen, eine Oper zu schreiben? Nach dem Kindbett oder kurz vorm Tod? Oder im Sarg?«

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Zwei Cavatinen aus der Oper L’Huomo sind nun aber explizit mit Wilhelmines Namen und dem ›Da sua Altezza Reale‹ versehen. Die Markgräfin lieferte hier in jedem Fall die Prosavorlage zum Libretto. Dass auch die beiden Cavatinen von ihr sind, hält Sabine Henze-Döhring noch für am wahrscheinlichsten. Und wie klingen die? »Grundsätzlich orientiert sie sich in ihrem Stil an ihrem Helden Johann Adolf Hasse – leicht, modern, italienisch, von der Melodie her geprägt und die Melodie ist wiederum vom Text abgeleitet –, und den beiden Brüdern Graun. Kein Händel, kein Telemann.« Gegenüber der Autor:innenschaft einer Sonate, die noch immer unter dem Namen Wilhelmines »herumgeistere«, ist Henze-Döhring ebenso skeptisch: »Da habe ich auch meine Zweifel, aber da kann ich nicht belegen, dass das nicht stimmt.«

Ob es mehr Werke der Markgräfin gegeben hat, und diese nur nicht überliefert sind, oder ihre kompositorische Tätigkeit einfach recht überschaubar war, ist schwer zu sagen. »In der MGG steht zu Wilhelmine von Bayreuth, dass es infolge eines Schlossbrandes von 1753 und wegen der Zerstreuung ihres Nachlasses zu beträchtlichen Verlusten ihrer Kompositionen und auch ihrer Notensammlung kam«, erklärt die Musikwissenschaftlerin Silke Wenzel, die an der Hamburger Musikhochschule unter anderem das Online-Lexikon MUGI betreut. »Darum ist es schwierig, sich ein Bild von der Komponistin Wilhelmine zu machen. Diesen MGG-Artikel hat Christoph Henzel geschrieben, vor 13 Jahren. Aber man sieht hier: Das traditionelle Nachschlagewerk hat kein Problem damit, sie als Komponistin zu bezeichnen.«

Andere scheinbar schon. »Natürlich kann man Wilhelmine nicht Komponistin nennen«, so Sabine Henze-Döhring. »Dazu ist sie gemacht worden im Zuge einer völlig verfehlten Vermarktung als Künstlerin durch das Bayreuther Stadtmarketing.« Reinhard Goebel freut sich sehr, dass hier mal zwei Fachleute einer Meinung sind (»Das kommt selten vor! Eher gehen die Uhren in aller Welt gleich!«) Wie er sie bezeichnen würde? »Als höhergestelltes Gör, das ein bisschen rumklimperte. Bei den Kindern von Friedrich Wilhelm dem 1. gehörte die musikalische Ausbildung erstaunlicherweise dazu, die spielten alle Instrumente. Ich habe sämtliche Memoiren von Wilhelmine gelesen. Sie schreibt, dass Locatelli und Graun bei ihrer Mutter gespielt haben und dass Graun besser war. Außerdem kommen noch Buffardin aus Dresden vor, Weiss, der Lautenist, und Quantz. Und sie schreibt, dass sie die alle die ganze Zeit begleitet hat. Sie muss also über nicht exorbitante, aber sehr brauchbare Fähigkeiten am Cembalo verfügt haben. Wie kann man sich das vorstellen? Wie eine höhere Klaviertochter heute, ›Binchen, geh doch mal, begleite doch mal den Opa auf der Geige!‹ Ein Komponist ist jemand, der von seiner Hände Arbeit leben kann. Das ist der Beruf. Alles andere ist Hobby. Die Marcello-Brüder waren auch keine Komponisten, das waren Adelige, die das nebenbei machten.«

Silke Wenzel ist Reinhard Goebels Anti-Wilhelmine-Haltung völlig fremd. Gleichzeitig: Auch sie findet aus streng historischem Blickwinkel das Label ›Komponistin‹ teils schwierig. »Die Bezeichnung ›Komponist‹ ist etwas, das im 18. Jahrhundert auf Männer beschränkt war. Es gibt, soweit ich weiß, im 18. Jahrhundert keine Komponistin, die offiziell an einem Hof oder bei einer Stadt angestellt gewesen wäre und bei der das Komponieren zum Broterwerb diente. Beatrix Borchard hat vor vielen Jahren diese Frage aufgeworfen, inwieweit Professionalität an Broterwerb gebunden ist. Ich bin da auch immer sehr zwiegespalten. Man hat bei den Dilettant:innen dieser Zeit häufig ein Niveau, das dem der Profis entspricht. Aber es bleibt die Frage, ob man die Bezeichnung an einen Beruf im Sinne eines bürgerlichen Broterwerbs knüpft. Bei Komponistinnen des 18. Jahrhunderts würde ich immer sagen: Natürlich sind sie Komponistinnen, wenn ich davon ausgehen kann, dass ihre Werke aufgeführt wurden, zumindest im privaten kleinen Kreis, warum nicht?« Aber: »Man kann herausstreichen, dass sie unter bestimmten soziokulturellen Umständen komponiert haben. Man kann oft die Kompositionen gar nicht richtig schätzen, wenn man nicht das soziokulturelle Umfeld beachtet. Das gilt natürlich nicht für alle, es gibt hervorragende Komponistinnen, deren Werke sich rein ästhetisch erklären.«

Auch Sabine Henze-Döhring sieht Wilhelmines grundsätzlichen Verdienst um die Kunst als unumstritten, allerdings in etwas anderer Hinsicht: »Sie hat ein ganz fantastisches modernes Opernhaus errichten lassen, das ist heute Weltkulturerbe. Sie hat mit sehr großem Geschick im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten gute Künstler an sich gebunden, aus Italien geholt, im kleinen Bayreuth eine Hofmusik umgesetzt, die für so einen Ort wirklich beispiellos ist. Das Allerwichtigste sind aber die modernen, aufgeklärten Themen ihrer Libretti. L’Huomo heißt ›der Mensch‹, es geht um Vernunft, um die Aufklärung, der sittsame, tugendhafte Mensch gewinnt, der lasterhafte, gierige, Mensch wird bestraft. Sie war mit Voltaire auf gutem Fuß, der besuchte sie auch in Bayreuth.«

Und darf man sie dann jetzt in einer Komponistinnen-Reihe featuren oder nicht? Silke Wenzel antwortet darauf mit einer Gegenfrage an den Kollegen: »Wäre Herr Goebel damit einverstanden, dass wir Johann Gotthilf Jänichen als Komponisten bezeichnen, mit, laut RISM, 6 überlieferten Werken? [Ja, wäre er. Aber nur als mittelmäßigen, drittklassigen, d. Red.] Der war ja auch nicht als Komponist angestellt. Und: Jänichen ist heute, wenn überhaupt, nur bekannt, weil er das Cembalokonzert geschrieben hat, das man lange Wilhelmine zugedacht hat.« Hinter jeder erfolgreichen adeligen Bayreuther Komponistin des 18. Jahrhunderts steht also ein fleißiger Berliner Geheimsekretär. Wahrscheinlich. Irgendwie. Oder es war alles ganz anders. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com