Am Abend bevor Alexej Nawalny in Berlin in ein Flugzeug nach Moskau stieg, wo er unmittelbar nach der Ankunft verhaftet wurde, dirigierte Valery Gergiev im Münchner Gasteig Brahms’ Doppelkonzert und 3. Sinfonie. Als das Konzert der Münchner Philharmoniker am vorigen Samstag gestreamt wurde, gingen zur selben Zeit in 125 russischen Städten Hunderttausende auf die Straßen, um gegen die Inhaftierung Nawalnys zu protestieren. Es waren die größten regimekritischen Demonstrationen seit Jahren. Auch bekannte Künstler:innen bekundeten öffentlich ihre Solidarität mit den Protestierenden und forderten eine Freilassung Nawalnys. Ihm sei klar, dass er dadurch viel verlieren könne, so der Sänger Noize MC in einer Videobotschaft. »Mir wird oft gesagt: ›Denk an deine Kinder.‹ Und an die denke ich tatsächlich. Denn ich möchte nicht, dass sie in einem Land leben, in dem eine Person wegen ihrer politischen Opposition ermordet oder ins Gefängnis gesteckt wird.« Die Schauspielerin Chulpan Khamatova, die Putin bei der Wahl 2012 noch unterstützt hatte (und dafür unter anderem von Nawalny scharf kritisiert wurde), überblendete ihr Profilbild auf Facebook mit dem Logo des Nawalny-Teams.
Was Valery Gergiev über all dies denkt, werden wir vermutlich nie erfahren. Sein Agent schreibt auf die VAN-Anfrage, dass »Herr Gergiev sich nicht zu politischen Fragen äußert«. Auch seine Assistentin beim Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg lässt ausrichten, dass sich Gergiev nicht äußern wolle. Der Intendant der Münchner Philharmoniker, Paul Müller, antwortet, dass er sich zwar regelmäßig mit dem Chefdirigenten über verschiedene Themen austausche, es aber nicht zu seinen Aufgaben gehöre, »Positionen unseres Chefdirigenten zu politischen Themen zu kommunizieren«.
Indizien dafür, was er gedacht haben könnte, lieferte Gergiev in der Vergangenheit allerdings genug. Seine politischen Positionen, die er 2015 in einem Spiegel-Interview darlegte, sind im wesentlichen identisch mit der offiziellen russischen Staatsdoktrin. Seine Loyalität gegenüber der Politik und Person Putins, mit dem er sich nach eigener Aussage freundschaftlich verbunden fühlt, äußert sich in bisweilen bizarren Propagandaaktionen, wie dem Auftritt vor russischen Truppen im eroberten Palmyra 2016. Im März 2018 ließ er sich für ein Dirigat von Wagners Siegfried am Mariinsky-Theater kurzfristig von einem Kollegen vertreten, um bei Putins Wahlkampf-Auftritt »Für ein starkes Russland« im Moskauer Luschniki-Stadion aufzutreten.

Gergiev hat sich mit der Macht so arrangiert, dass diese ihn in eine singuläre Position in der russischen Kulturpolitik katapultiert hat. Gergiev revanchiert sich mit Auftritten wie dem vor dem Oberkommando der russischen Streitkräfte am 30. Januar 2018, wo er mit Putin eine Konferenz zu im Syrien-Krieg erbeuteten und eingesetzten Waffensystemen besuchte. »Der Präsident und der Maestro unterhielten sich kurz und hörten dann den Marsch des Preobraschenski-Leib-Garderegiments, gespielt von Musikern des Mariinsky-Theaters«, heißt es in der Pressemitteilung des Kreml. Zur Loyalität mit dem Regime kommt »sein Talent, sich mit einflussreichen Menschen anzufreunden«, wie es Liudmila Kotlyarova in ihrem VAN-Beitrag über die Finanzierungsmechanismen der russischen Kulturszene schrieb. Kopräsidenten der »Valery Gergiev Charitable Foundation«, deren Ziel es unter anderem ist, »Russlands kulturellen Einfluss in der Welt zu vergrößern«, sind der Sberbank-Chef Herman Gref und der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin. Im Stiftungskuratorium sitzen Milliardäre wie Gennadi Timtschenko und Alischer Usmanow. »Mit einem durchschnittlichen Beitrag von etwa 500.000 US-Dollar pro Kuratoriumsmitglied werden ungefähr 20 Millionen US-Dollar pro Jahr generiert. Zum Kuratorium zu gehören ist ehrenhaft – und nützlich, für die kurzen politischen Dienstwege: Kudrin zufolge trifft sich das Kuratorium einmal im Jahr mit Wladimir Putin«, so Kotlyarova in VAN. Das Mariinsky-Theater, dessen künstlerischer Leiter und Intendant Gergiev seit 1988 ist, wurde unter ihm sukzessive zu einem Theaterimperium erweitert: eine zweite Bühne, Mariinsky-2, eine Konzerthalle, Mariinsky-3, außerdem zwei bis dato unabhängige Theater in Wladiwostok und Wladikawkas und ein Theaterneubau auf der Insel Sachalin.
Dass man sich mit Gergiev einen Mann mit zwei Hüten eingehandelt hat, der auch aus seiner Rolle als russischer Staatskünstler heraus agiert, sorgt in München seit Jahren für Aufregung. Schon als designierter Chefdirigent der Münchner Philharmoniker führten seine Äußerungen zum russischen »Gesetz zum Verbot von Homosexuellen-Propaganda« im Dezember 2013 zu einer Dringlichkeitssitzung im Stadtrat unter dem Titel »Valery Gergiev im Zwielicht«. Seitdem versickern die Empörungswellen regelmäßig in dem rhetorischen Flussbett, das Gergiev selbst und die Münchner Verantwortlichen ausbreiten: Er sei missverstanden worden, er verstehe nichts von Politik und wolle eigentlich nur über Musik sprechen. Diese Schadensbegrenzug funktioniert mehr schlecht als recht – bis zum nächsten Mal. Nachdem er 2014 einen Künstler:innen-Appell zur Unterstützung der Krim-Annexion unterschrieben hatte, trafen sich Intendant Müller und der damalige Kulturreferent Hans-Georg Küppers mit Gergiev in Linz, um dem Chefdirigenten »die aktuelle Situation über die von ihm geäußerten privaten politischen Ansichten darzustellen und ihn über die daraus resultierende Situation des Orchesters zu informieren«, wie es in einer Pressemitteilung hieß.

Der mächtigste und reichste russische Kulturschaffende ist gleichzeitig prominentester Angestellter der drittgrößten Stadt Deutschlands – das ist eigentlich eine ziemlich wilde und ziemlich einmalige Versuchsanordnung. Nur dass beide Seiten so tun, als existierte sie nicht. Die Frage, wie der Spagat funktionieren kann, beantworten Philharmoniker-Intendant Paul Müller und Kulturreferent Anton Biebl VAN gegenüber mit der Notwendigkeit, dass der »Dialog niemals abreißen dürfe«. Das hört sich erstmal gut an. Schließlich kann das deutsch-russische Verhältnis Dialog ganz gut brauchen. Die offiziellen Kanäle wie das Deutsch-Russische Forum oder der »Petersburger Dialog«, der 2001 von Gerhard Schröder und Wladimir Putin ins Leben gerufen wurde, um die Zivilgesellschaften beider Länder einander näher zu bringen, werden fast ausschließlich bestimmt von einer Nomenklatura aus Wirtschaftsbossen und ausgedienten Ministern. Dem Vorsitzenden des Lenkungsausschusses des »Petersburger Dialogs«, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Wiktor Subkow, werden von der spanischen Justiz enge Verbindungen zur russischen Mafiaorganisation Tambow-Bande vorgeworfen. Differenzen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen kommen in diesen Honoratioren-Clubs nicht zur Sprache. Gleichzeitig könnte kultureller Austausch als Dialogplattform vermutlich besser funktionieren als eine Pipeline, weil er in der Begegnung nicht nur Selbstvergewisserung sucht. Das wäre der Idealfall.
Was Gergiev und die Verantwortlichen in München unter »Dialog« verstehen, ist allerdings eher eine Karikatur all dessen. Auf die Nachfrage, was denn genau damit gemeint sei und wie der Dialog von wem geführt werde, antwortet Intendant Müller: »In allererster Linie denke ich an einen konfliktfreien Dialog zwischen Dirigent und Orchester über die Musik und über die Weiterentwicklung des Orchesters – und dann an den Dialog im Orchester selbst.« Auch Kulturreferent Biebl will den Dialog nur im Künstlerischen und zwischen Dirigent und Orchester verorten: »Die Zusammenarbeit zwischen Valery Gergiev und den Münchner Philharmonikern ist ein Beispiel für einen konstruktiven Dialog. Wenn sich 120 Musiker:innen unterschiedlicher Herkunft begegnen, bedarf es eines stetigen Austauschs über künstlerische Aspekte.«
Gergiev selbst gibt kaum Interviews, Podiumsdiskussionen oder Publikumsgespräche finden in München auch nicht statt. Mit Stadtratsmitglied Thomas Niederbühl, der auch im Philharmonischen Rat sitzt und schon 2013 angesichts von Äußerungen Gergievs zum »Anti-Homosexuellen-Gesetz« eine Vertragsauflösung ins Spiel gebracht hatte, fand bisher kein direktes Gespräch statt. »Ein Dialog wurde angeregt, aber dann immer wieder verschoben«, sagt er gegenüber VAN. Dass Gergiev kein Interesse haben dürfte, zu politischen Themen »klar Stellung zu beziehen«, wie es Niederbühl in der Aussprache im Stadtrat 2013 forderte, liegt auf der Hand. Die Konfliktlinien liegen oft so weit auseinander, dass eine Positionierung automatisch für die eine oder andere Seite einen Affront bedeuten würden. Warum sollte er seine Position in Russland aufs Spiel setzen, nur um Befindlichkeiten im Westen zu bedienen, und vice versa?
Gergiev ist wie kaum ein anderer klassischer Musiker verstrickt in Machtpolitik. Das ist nicht verwerflich. Aber dass man in München gerade deshalb peinlich genau darauf bedacht ist, den Dialog allein auf die Kunst zu beziehen und alles andere auszuklammern, führt zu einem ziemlichen Eiertanz. Bloß nicht in die Bredouille kommen, sich mit unbequemen Fragen auseinandersetzen zu müssen. Er könne nicht außer Acht lassen, dass die russische Gesellschaft teilweise nach anderen fundamentalen Prinzipien lebe, als das in den westlichen Gesellschaften der Fall sei, schrieb Gergiev im Mai 2014 an die Abonnent:innen und Freunde der Münchner Philharmoniker. »Ich achte und respektiere das, was als Lebensmaxime in Russland den Menschen von hohem Wert ist. Dazu gehört auch das Festhalten an Tabus, die in den westlichen Ländern seit einigen Jahren nicht mehr gelten, aber zu deren Aufhebung es viele Anläufe und viel Zeit brauchte.« Das wäre eigentlich ein spannender Startpunkt für den Dialog. Der hätte allerdings als Vorbedingung, die Differenz auszuhalten, auch wenn dadurch die eigene moralische Komfortzone herausgefordert wird. Aber wäre man in München bereit, sich ausgerechnet beim teuersten Angestellten auf die Überprüfung der eigenen Toleranzschwelle einzulassen?
Einstweilen flüchtet man sich lieber in die seifige Rhetorik von der »völkerverbindenden Kraft der Musik«. Diese wird nicht zufällig im Falle Gergievs besonders oft bemüht. »Wir haben über politische Themen mit ihm noch nie gesprochen«, sagt Tatjana Rexroth, Initiatorin der Russisch-Deutschen MusikAkademie, deren künstlerischer Leiter Gergiev seit 2013 ist. »Wir haben kurze intensive Arbeitsphasen, in denen so viel auf dem Spiel steht, wir beziehen uns auf existentielle, große Werke, die von jedem Musiker viel abverlangen. Da gibt es keinen Raum, über andere Themen zu sprechen.« Die klassische Musikkultur sei einzigartig, weil sie dazu geeignet ist, »die Menschen ihre Wege zueinander und ins Miteinander finden zu lassen«, schreibt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in einer Broschüre der Akademie. Die Kultur dürfe nicht zum Spielball von politischen Konflikten gemacht werden, meint Intendant Müller: »Wir spielen, um Menschen zu verbinden, nicht um sie zu trennen.« Diese Plattitüden passen gut zum Sponsoring-Engagement, das Gergievs Auftritte in Europa begleitet. Für Firmen wie Gazprom wird klassische Musik zum idealen Werbe-Match: Sie ist repräsentativ und man wird vor unliebsamen Fragen geschützt. Fast wie beim Fussball. Im Gazprom-TV-Spot zur Champions League wächst dann zusammen, was zusammen gehört.
Gergievs Chefdirigentenvertrag mit den Philharmonikern wurde vor zwei Jahren bis 2025 verlängert. Die Vertragsverlängerung soll Gergiev laut Süddeutscher Zeitung an eine bessere finanzielle Ausstattung seines Orchesters, die akustische Sanierung der Philharmonie und den Umzug in ein adäquates Interimsquartier geknüpft haben. »Seit Celibidache hatten wir keinen Chef mehr, der sich in der Stadt so für uns eingesetzt hat«, sagt ein Orchestermitglied gegenüber VAN.
In der Stadtratssitzung am 21. Februar 2018 stimmte die Fraktion Die Grünen/Rosa Liste gegen die Vertragsverlängerung – wegen Gergievs »fortgesetzter politischer Propaganda für Wladimir Putin und dessen menschen- und völkerrechtswidriger Politik«. »Es wäre wünschenswert, dass der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker die Weltoffenheit dieser Stadt mit seiner künstlerischen Leitung repräsentiert – aber wenigstens nicht offen konterkariert«, meinte Thomas Niederbühl damals. Mittlerweile hat er sich mit dem Stillhalteabkommen mit Gergiev arrangiert. »Er hält sich an die Absprache, sich nicht mehr negativ zu äußern. Mehr kann man nicht tun«, so Niederbühl gegenüber VAN. Unwahrscheinlich, dass es dieses Mal besonders lange gut geht, insbesondere dann nicht, wenn sich jetzt in Russland eine neue Protestbewegung formt. Das wird auch Gergievs viele Hüte wieder durcheinanderwirbeln.
Intendant Paul Müller bezeichnete die Vertragsverlängerung als »künstlerisch zwingend, um die internationale Präsenz auf höchstem Niveau und in Verbindung mit einer umfassenden medialen Wahrnehmung weiterzuentwickeln«. Die »internationale Präsenz« bezieht sich wohl vor allem auf Gergievs Popularität in Asien, insbesondere in China, wo viele europäische Orchester den Markt der Zukunft verorten. (Ob diese Ausrichtung und das (Asien-)Tourneegeschäft angesichts von Klimawandel und Corona-Folgen wirklich nachhaltig sind, sei dahingestellt.) Die Rede von der Bedeutung einer »Internationalisierung« und der Rückzug hinter die vermeintlich unpolitische Fassade von »Wir wollen doch nur spielen« kennt man in München hingegen gut: Damit bricht der FC Bayern alljährlich in sein Wintertrainingslager nach Katar auf.
Dass Gergiev mit jeweils einem Bein in zwei sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Arenen steht, könnte eine Chance sein – wenn man damit offen umginge, statt so zu tun, als ginge es einen nichts an. Das Agieren nach dem Motto »Augen zu und durch« hängt jetzt auch wie eine Dunstglocke über dem Orchester. »Das Politische klammere ich aus. Aber es wäre schon schön, wenn damit offensiver umgegangen würde. So hat man immer im Hinterkopf, sich rechtfertigen zu müssen«, meint ein Orchestermitglied.
Einstweilen erinnert der Umgang mit Gergiev in München allerdings eher an die Fabel »Der neugierige Mann« (1814) des russischen Dichters Iwan Krylow. Dort treffen sich zwei Freunde, der eine hat gerade drei Stunden in einem Naturkundemuseum verbracht und erzählt dem anderen begeistert von all den Dingen, die er dort gesehen hat: Fliegen, Schmetterlinge, Vögel, »Insekten, kleiner als Nadelköpfe«.
»Und«, fragt ihn der andere, »wie fandest Du den Elefanten?«
»Bist du sicher, dass der da war?«, antwortet der Museumsbesucher.
»Ganz sicher«.
»Sei mir nicht böse, aber einen Elefanten habe ich ehrlich gesagt nicht gesehen.« ¶