Die hierzulande völlig unbekannte Komponistin und Pianistin Marcelle de Manziarly wurde am 13. Oktober 1899 in Charkow – damals dem Russischen Kaiserreich zugehörig, heute zweitgrößte Stadt der Ukraine nach Kiew – geboren; in Charkow also, wo der »Karajan des Ostens« Kurt Sanderling (1912–2011) als Jude auf der Flucht vor den Nazis einst Unterschlupf gefunden hatte und von 1940 bis 1942 Chefdirigent des dortigen philharmonischen Orchesters war. Nach der Übersiedlung ihrer offenbar sechsköpfigen Familie nach Paris begann Manziarly, die als Zwölfjährige erste Kompositionen hervorgebracht hatte, ihr Kompositionsstudium bei der legendären Nadia Boulanger (1887–1979), die – ungeachtet aller männlichen Kollegen zu dieser Zeit – als damals mit Abstand einflussreichste Kompositionslehrerin überhaupt gelten kann; Boulanger unterrichtete unter anderem in völlig unterschiedlichen Stilen und Genres später bekannt gewordene Persönlichkeiten wie Aaron Copland, Astor Piazzolla, Philip Glass, Marc Blitzstein – und eben Manziarly. Im Gegensatz zu einigen dieser Komponisten brach Manziarlys Kontakt zu Boulanger aber, wie es heißt, ein Leben lang nicht ab, sondern entwickelte sich zu einer engen Freundschaft. Vielleicht war die Bindung zwischen beiden deshalb so besonders tief, weil Manziarly eine der ersten Schülerinnern Boulangers an der Pariser École Normale de Musique war. Zugleich wird Manziarlys innerstes Bedürfnis einer ernsthaften künstlerischen Entwicklung im Zusammenwirken mit dem Wunsch nach menschlichem Anschluss in der neuen Stadt zu dem familiären Freundschaftsbund beigetragen haben. Möglicherweise entstand durch Boulangers Zutun auch der Kontakt zu Copland, der ebenfalls zum Inner Circle Manziarlys gehörte; so widmete Copland ihr sein Lied Heart, We Will Forget Him; darüber hinaus ist eine warmherzige Postkarte Coplands an Manziarlys erhalten und online einsehbar.
In den 1920er Jahren entstanden einige Lieder, Solo- und Kammermusikwerke, doch Manziarly suchte ihr musikalisches Betätigungsfeld stetig zu erweitern. So studierte sie in den Jahren 1930 und 1931 bei Felix Weingartner Dirigieren in Basel und 1943 Klavier in New York bei der ebenfalls äußerst prominenten Isabelle Vengerova (1877–1956), die ihrerseits einst Künstler wie Leonard Bernstein, Samuel Barber und Menahem Pressler zu ihren Schülern zählte. Offenbar konzentrierte sich Manziarly bald mehr auf ihre Kunst am Klavier und tourte in dieser Funktion sowohl durch ihre neue US-amerikanische Heimat als auch durch Europa. Aus dem Jahr 1944 stammt die Sonate pour Notre Dame – anlässlich der Pariser Befreiung von den Nationalsozialisten komponiert. Boulanger habe sich eindrücklich für Manziarlys Werke eingesetzt – und so sei es beispielsweise durch den eingefädelten Kontakt zu der großen Musikmäzenin Winnaretta Singer zu mehreren Kompositionsaufträgen bekommen.
Nach einer Indienreise habe die Freundschaft mit dem bengalischen Philosophen, Musiker und Literaturnobelpreisträger (1913) Rabindranath Tagore (1861–1941) zu einer Beschäftigung mit indischen Tonsystemen geführt. Wann diese Reise stattgefunden haben soll und inwiefern ein »indischer« Einfluss auf das Schaffen Manziarlys festzustellen ist, das lässt sich schwerlich sagen; zu desinteressiert zeigte sich die Musikwissenschaft bisher an dem Leben und dem Oeuvre dieser Komponistin. Zudem scheint die vermeintliche Inspiration durch indische Musik nicht wie eine Epiphanie in Manziarlys Leben getreten zu sein. In einem Buch (Radha Rajagopal Sloss: Lives in the Shadow with J. Krishnamurti, 1991) über den indischen Philosophen und Theosophen Jiddu Krishnamurti (1895–1986) heißt es, Krishnamurti sei bereits seit Februar 1920 mit der Familie Manziarly in Paris befreundet gewesen und habe mit Marcelle eine Romanze angefangen. Eine Hochzeit sei aber undenkbar gewesen.
Darüber hinaus ist auf den ersten und auch auf den zweiten Blick über das Privatleben Manziarlys wenig bis nichts bekannt. Sie starb am 21. Mai 1989 in dem nordwestlich von Los Angeles gelegenem Ort Ojai – im Alter von gesegneten 89 Jahren.
Marcelle de Manziarly (1899–1989)
Sonate für zwei Klaviere (1968)
Manziarlys Sonate für zwei Klavier entstand 1968: ein Werk der reifen 69-jährigen Komponistin also. Mit schwerlastenden, schön dissonanten Klängen in beiden Klavieren hebt das Werk rhapsodisch an. Kleine Blitze flackern auf; die knirschenden Schwergewichte aus Elfenbein erinnern ein wenig – vielleicht auch nur wegen der gleichen Besetzung – an die Sonate für zwei Klaviere von Francis Poulenc (1952/53). Eine kleine fragende Motiv-Geste schält sich aus dem Ganzen heraus – und versickert erst einmal in Untiefen der zwei Mal 88 Tasten. Ein überraschend scherzoartiges Thema übernimmt; ein kleiner Streit zwischen Kindern, leicht eskalierend – doch dann wieder im Unisono-Oktaven-Einklang.
Nach etwa zwei Minuten brummt es – in Dur harmonisierend – akkordisch auf. Auf einer repetitiven Linie bauen sich themenentwickelnde Kontrapunkte auf. Dynamische Einbrüche bringen schnelle, launige Kontraste; ganz unakademisch werden Themenorientierungsmöglichkeiten eher verschleiert als pädagogisch aufgedrängt. Nach vier Minuten kommen beide Klaviere an einen Punkt großer Nachdenklichkeit; debussyhaft-versunkene Akkordklänge erzählen ein Märchen aus – ja: aus »irgendeiner« Zeit, die weder mit »Impressionismus« noch mit »Neoklassizismus« adäquat zu beschreiben wäre.
Ganz am Ende des Stückes vermischen sich die heiteren, losgelassenen Motiv-Launen mit der meditativen Zerknirschtheit des Beginns und bringen das irritierend schön »unfassliche« Werk zu einem klugen Ende. Gerade in der Uneigentlichkeit dieser Musik, der Unerzogenheit von Melodik, Harmonik und Struktur liegt eine große Stärke. Man fragt sich: Warum wird eigentlich aus Manziarlys Werkkatalog stets – wenn überhaupt – nur ihr fraglos schönes Trio für Flöte, Violoncello und Klavier aus dem Jahr 1952 aufgeführt? ¶