250 Komponistinnen. Folge 66: Bombenhagel im Hintergrund.
Am 18. April 1902 wurde in der georgischen Hafenstadt Batumi ein 22-Jähriger namens Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili verhaftet. Man warf ihm vor, eine Demonstration von Eisenbahnarbeitern organisiert zu haben, bei der 14 Menschen ums Leben gekommen waren. Der junge Mann wurde mit Verbannung nach Sibirien bestraft, von wo er – der sich bald nur noch »Stalin« nennen sollte – aber nach wenigen Monaten fliehen konnte.
Fast exakt einen Monat später – am 14. Mai 1902 – wurde Lūcija Garūta in Riga, damals noch dem Russischen Reich zugehörig, geboren. Lūcijas Mutter war Hausfrau, der Vater Buchhalter. Musisch sehr vielfältig interessiert erhielt Garūta während der Jahre an einem klassischen Mädchengymnasium Klavierunterricht und bald auch Musiktheorie-Stunden bei dem Kritiker, Dirigenten und Komponisten Nikolai Alunān, von dem – interessant genug – nicht eine einzige weitere Informationsspur aufzutreiben ist.
Ab ihrem 17. Lebensjahr studierte Garūta sechs Jahre Klavier und Komposition am Musikonservatorium in Riga. Einer von Lūcijas Kompositionslehrern war ihr lettischer Landsmann Jāzeps Vītols (1863–1948), der mit seinen schwelgerisch-stolzen Werken zum russischen Nationalromantiker erklärt wurde. Zu den Kompositionsschüler:innen seiner früheren Zeit (1901–1918) als Professor am Sankt Petersburger Konservatorium zählte unter anderem Sergei Prokofjew, dessen Tod am 5. März 1953 von der Welt quasi unrezipiert blieb, da am selben Tag das Leben des oben erwähnten Stalin endete.
Die Klavierkünste Garūtas führten zu einer Anstellung als Korrepetitorin an der Lettischen Nationaloper. Nach Abschluss ihres Studiums arbeitete sie zunächst beim Lettischen Rundfunk und gab anschließend Unterrichtsstunden in den Fächern Klavier und Musiktheorie am Lettischen Volkskonservatorium. Erst 1926 – mit 24 Jahren – verließ sie ihr Heimatland für längere Zeit, um ihre Studien in Komposition und Klavier in Paris fortzusetzen.
Garūta studierte aber nicht etwa am berühmten Pariser Konservatorium, sondern schrieb sich an der École Normale de Musique ein. Dieser Konkurrent des Pariser Conservatoire war 1919 von Pianisten-Legende Alfred Cortot (1877–1962) zusammen mit dem Musikkritiker und Pianisten Auguste Mangeot (1873–1942) gegründet worden und brachte schnell bekannte Musiker:innen-Persönlichkeiten wie die Komponistin Nadia Boulanger (1887–1979) oder den Dirigenten Charles Munch (1891–1968) hervor. Garūta befand sich mit der École also, was ihre beiden Fächer anbelangt, am wohl attraktivsten Studienort der Welt. Kompositionsunterricht erhielt Garūta von Paul Dukas (1865–1935), der Jahre zuvor selbst an Cortots Hochschule gelernt hatte.
Vor allem als Pianistin gelangte Garūta zu eindrücklicher Prominenz und konzertierte in allen wichtigen Kultur-Metropolen Europas. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde sie zur Direktorin des Lettischen Förderverbands für Musik ernannt und unterrichtete außerdem bis 1972 – zunächst noch ohne Professur – als Dozentin für Musiktheorie und Komposition in Riga. Als Grund für die späte Ernennung zur Professorin kommt wohl die politische Unangepasstheit Garūtas infrage, aus der beispielsweise – wie man auf der Seite des Projekts »Musica Baltica« erfährt – auch das Aufführungsverbot ihrer Oper Sidrabotais putns (Der Silbervogel) 1938 resultierte. Ihre Pianistinnenlaufbahn hatte Garūta recht früh aufgrund gesundheitlicher Probleme komplett einstellen müssen.
Lūcija Garūta starb am 15. Februar 1977 im Alter von 74 Jahren in Riga.
Lūcija Garūta (1902–1977)Konzert für Klavier und Orchester fis-Moll (1951)
Bis heute ist Lūcija Garūta in ihrer Heimat Lettland durch die politische Bedeutung und den Erfolg ihrer geistlichen Kantate Dievs, Tava zeme deg! (Gott, dein Land steht in Flammen!) präsent. Die Uraufführung fand am 15. März 1944 im Rigaer Dom statt. Angeblich sind im Hintergrund des Uraufführungsmitschnitts dieser pazifistischen Komposition Maschinengewehre und Panzergeschütze russischer vs. deutscher Truppen zu hören. (Seit 1941 war Riga von der Wehrmacht besetzt. Mehrere zehntausend Jüdinnen und Juden wurden in diesen Jahren von den Nationalsozialisten im Rigaer Ghetto oder in den Vernichtungslagern im Osten ermordet.)
Neben einigen Kammermusikwerken und der besagten – einst sabotierten – Oper komponierte Garūta vor allem Solo-Musik für ihre eigenen Instrumente: Orgel und Klavier. Laut Auskunft eines Komponistinnen-Verlags ist Garūta Meditation für Orgel ein weltweit beliebtes Stück im Repertoire vieler Organist:innen. Auch Garūtas prominente Orgel-Kollegin Iveta Apkalna setzt sich für die Verbreitung dieses fünfminütigen Werkes ein.
1951 entstand Garūtas fis-Moll-Klavierkonzert. Die Wahl der Tonart – so könnte man provokant sagen – verweist schon latent auf ein Nachtrauern um die Tonalität des 19. Jahrhunderts, denn fis-Moll war durch komponierende Tastenlöwen wie Ignaz Moscheles (1794–1870) eine per se mit »romantischer Klavier-Virtuosität« konnotierte Tonart. Schweres Träumertum, aber mit ein bisschen Hexerei dabei.
Und tatsächlich macht der Beginn des Klavierkonzerts von Lūcija Garūta eher den Anschein, Brahms nacheifern zu wollen. Aus einem leisen Paukengrollen stemmen sich schwere Oktaven des Orchesters hervor; das Klavier entgegnet mit einer aufsteigenden Quasi-Improvisando-Geste. Bloße Schöngeistigkeit ist dennoch nicht am Start. In die germanonormativromantischen Anrufungen dunkler Geister schleichen sich hakelige Dissonanzen ein, die in ihrer fast jazzigen Härte an die Klavierkonzertästhetik Rachmaninows erinnern, gerade, was den schnellen Wechsel zu lyrisch-verzauberten Passagen betrifft.
Interessant bringt das Orchester nicht jeweils »Befriedungen nach dem Klaviersturm«, sondern kracht immer wieder zusammen mit dem Solo-Part in die karge und dennoch akkordisch volltönige Landschaft. Bald folgen virtuose Klavier-Ausführungen, die zu emotional erfüllten Tutti-Steigerungen führen. Zerfasert und stammelnd muss das Klavier neu beginnen. Eine wohlige Klarinette grünt freundlich herein. Hohe Flötentöne begleiten nun kristallklare Klavierfiguren; ein manchmal schön impressionistisch verfließendes Klavierkonzert mit authentischem Hang zur Spätspätromantik, das – handwerklich perfekt gemacht – nicht nur den Hörer:innen Spaß machen dürfte. ¶