In seinen Interpretationen kann der Bariton Holger Falk Welten erzählen – er singt, dass man das Gefühl hat, gerade bei der Entstehung des Liedes dabei zu sein, bei einer sich entspinnenden Geschichte, gerade jetzt, bei einem Ereignis. Es passiert etwas. Unmittelbarkeit wohnt dem Lied zwar mehr inne als vielen anderen musikalischen Gattungen, doch spürt man sie verhältnismäßig selten. Falks ins Mark gehender vierteiliger Eisler-Zyklus ist seit Ende des vergangenen Jahres abgeschlossen, die neueste CD ist gerade erschienen: Il Gondoliere Veneziano mit komponierten und überlieferten alten Liedern aus dem Norden Italiens. Von dem Album spricht Falk als »mein Projekt« – Sponsoren und Label trieb er selbst auf (sein Hauslabel MDG sah das Projekt nicht im eigenen Portfolio), vergab Kompositionsaufträge an Klangkünstler:innen, fuhr mit ihnen nach Venedig, nahm dort auf. Brauchte er nach dem hochpolitischen, sperrigen Eisler-Projekt etwas Sanftes? Oder sind sich die beiden Projekte doch ähnlicher als gedacht? Ein Gespräch über Unmittelbarkeit, Intuition und Buh-Rufer.

VAN: Es ist jetzt ein paar Monate her, dass Sie Ihr Riesen-Aufnahmeprojekt um Hanns Eislers Lieder abgeschlossen haben mit ein bisschen Abstand: Würden Sie es nochmal machen?

Holger Falk: Ja, unbedingt. Ich habe 160 Lieder aufgenommen, von denen wirklich eins besser ist als das andere, und ich bin von der Vielfalt der Eislerschen Musik noch immer überwältigt. Vor dem Start des Projektes kannte ich einzelne Werke, Teile des Hollywooder Liederbuches, auch einige Lieder aus der Spätphase der DDR und ein paar Frühwerke, aber ich hätte nicht gedacht, dass das Werk in dieser Vielfalt so eine hohe Qualität hat.

War das der Grund, warum Sie direkt eine Gesamteinspielung gemacht haben? Ich meine es ist nicht die erste in Ihrer Diskografie.

Ich habe irgendwie ein Faible für Gesamteinspielungen, ich weiß auch nicht, warum – es hat sich fast immer so ergeben. Eines meiner ersten Projekte war die Poulenc-Einspielung, dafür hatte ich die Apollinaire-Vertonungen ausgesucht und das ging so gut, dass ich das ganze Werk eingespielt habe. Satie war nicht so schlimm, denn das war nur eine CD, und jetzt Eisler – 4 CDs sind schon ein Gesamtüberblick über sein Schaffen, auch wenn es nicht alle Lieder sind. Die nächste Kunstlied-CD ist auch schon geplant, eine Fast-Gesamtaufnahme der Lieder von Arthur Honegger.

Was hat Sie an Eislers Liedern konkret so sehr fasziniert?

Erstens ist seine Textauswahl grandios, sein Gespür für das wesentliche Wort – ich meine, da hat er mit Brecht auch jemanden gefunden, der das in einer Meisterschaft beherrscht. Aber auch die übrige Textauswahl, die Tucholsky-Lieder, das Spätwerk oder auch das Hollywooder Liederbuch, mit Texten von Hölderlin oder Anakreon – die Fassungen, die er da wählt, sind wirklich aussagekräftig und nicht so ästhetisiert. Da geht es nicht um irgendeinen Gefühlswust, diese Texte machen per se einen Unterschied, schon, wenn du sie liest. Zudem ist seine Kompositionsweise immer am Text orientiert, teilweise mit sehr schlichten Begleitungen, aber immer mit melodiöser Finesse. Da ist nichts Überflüssiges, nichts Brahmsmäßiges, wo oft zu viele Noten sind. Das fand ich sehr faszinierend: Dass jemand im 20. Jahrhundert mit dieser einfachen melodiösen Schlichtheit komponieren konnte, und du hörst dem gerne zu.

Gibt es bestimmte Lieder oder Epochen in Eislers Schaen, die besonderen Eindruck bei Ihnen hinterlassen haben?

Ja, sicher. Ich finde die Lieder des Spätwerks, die er in der DDR komponiert hat, am berührendsten. Es sind die, die am melancholischsten sind. Im Grunde hat er diese Lieder nicht für das Publikum, für die Massen geschrieben, wie vieles in den Jahren davor, sondern nur für sich selbst, einfach um etwas auszudrücken, was ihn bewegt. So führt die Schlussphase seines Schaffens dahin zurück, wo Eisler eigentlich herkommt, also aus dem Verständnis, dass das Lied etwas sehr Intimes ist.

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Sie sind für Ihre Interpretationen der Lieder sehr gelobt worden, dabei mag gerade Eisler für viele Sänger*innen eher sperrig sein, schwierig zu singen. Was lag Ihren Interpretationen zugrunde?

Meinen Studierenden sage ich immer, dass ich das Wort Interpretation eigentlich für schlecht gewählt halte. Ich finde, wenn man Interpretation als etwas versteht, bei dem man sich ein Konzept macht von dem, was mit einem Lied gemeint ist, dann entfernt man sich von der Unmittelbarkeit des Liedes.

Also gehen Sie ohne Konzept an so ein Lied heran?

Für mich ist das ein ganz einfacher Prozess. Ich versuche zuerst zu verstehen, was der Text mir sagt – ich muss den Text einfach kapiert haben. Das zweite ist dann, dass ich mit der Musik eine Haltung gegenüber dem Text wiederfinde, nämlich die des Komponisten. Dann entsteht ein Dreiecksverhältnis zwischen dem, was der Komponist gefühlt hat, was der Textdichter gemeint hat und wie es in mir resoniert. Ich halte es nicht für glücklich, wenn man versucht, mit der Interpretation irgendwie didaktisch zu sein, wie man das gern in der Zeit von Dietrich Fischer-Dieskau gemacht hat. Da hat man darzustellen versucht, wie es ist, wenn man traurig ist, indem man sich vorgenommen hat eine Passage in einer fahlen Farbe zu singen und so weiter – ich finde diese ganzen Überlegungen völlig überflüssig, wenn man die Essenz eines Liedes intuitiv wahrnehmen kann. Aus dieser Art heraus steht mir eine riesige Farbpalette zur Verfügung, weil sie immer unmittelbar kommt.

Und wie vermitteln Sie das Ihren Studierenden?

Man muss natürlich immer gucken, ob es ein Verständnis für die Stilistik gibt. Wenn das schon da ist, weil derjenige sich schon viel mit Musik beschäftigt hat, dann kann man sofort an einem persönlichen Zugang zu einem Lied arbeiten. Ich sage ihnen immer: Sucht euch nur Lieder aus, die euch auch persönlich etwas sagen. Was nützt es mir mit Leuten etwas zu erarbeiten, was ihnen nichts sagt, nur damit man irgendeine Äußerlichkeit lernt? Davon halte ich wenig, denn das ist das reine Handwerk.

Und wenn dieser persönliche Zugang nicht da ist?

Dann wird es schwierig. Wenn jemand den intuitiven Zugang nicht hat, dann wird er auch kein großer Liedsänger werden, er wird die Leute nicht berühren können. Er wird höchstens schön singen können, aber nichts zu sagen haben – und davon haben wir auf den Konzertpodien zu viele.

Wenn man auf diese Weise arbeitet, steht man ja zwangsläufig stark mit sich selbst in Kontakt. Lernt man da viel über sich selbst?

Ich finde, dass intuitive Prozesse einen viel tiefer prägen als analytische Prozesse. Ich kann mir sehr viel Wissen aneignen, aber nicht an Weisheit gewinnen. Beim intuitiven Prozess, der auf einer anderen Ebene stattfindet, begleitet mich so ein Lied so, dass ich vielleicht wirklich etwas in meinem Leben transformieren kann.

Wie war das bei Ihnen und Eisler?

Ein Beispiel: Ich habe dieses Lied vom SA-Mann auf der ersten Eisler-CD, wie ich mich erinnern kann, mit sehr viel Berührung eingespielt. Die Geschichte hat mich sehr getroffen, von diesem Mann, der da mitläuft und sagt, da drüben steht mein Bruder, aber sie haben mir gesagt, er ist mein Feind, also erschieße ich jetzt meinen Bruder und töte damit eigentlich mich selbst. Das Erstaunliche war, dass ein Jahr später meine Mutter herausgefunden hat, dass mein Urgroßvater bei der SA war. Da war dieses Lied sofort präsent für mich. Ab diesem Moment habe ich ihn als Protagonisten meines Liedes gesehen. Es ist schwer über so etwas zu sprechen, das sind genau diese Prozesse, die auf einer anderen Ebene laufen.

Aber gleichzeitig scheinen sie ja bei vielen Menschen stattzufinden Brecht und Eisler haben immerhin für eine ganze Generation gesprochen.

Im Größeren betrachtet glaube ich auch, dass Eisler uns als Deutsche heute sehr viel geben kann. Auch Brecht, weil ihr Werk ein kollektives Bewusstsein anspricht, das auf einer tieferen Ebene gelagert ist. Die ganze Verarbeitung der Geschichte dieses Landes ist in diesen Liedern drin, und ich merke immer bei den Liederabenden, dass die Leute weinen oder grölen – es ist immer irgendetwas da, das unseren nationalen Konflikt mit unserer Vergangenheit anregt, mit all der Traurigkeit auch über diese Zeit und auch all dem Unerledigten. Oder auch aktuell, das Exilant-Sein, ein Flüchtling sein. In den letzten Jahren, in denen die Flüchtlingsthematik so präsent war, konnte man den Leuten immer sagen: Vor nicht allzu langer Zeit waren Leute wie Eisler Flüchtlinge, die hier abgehauen sind. Durch die Musik, die ja auch nur im Hier und Jetzt stattfinden kann, können wir all das aus dem Schatten bergen, und das kann für das Publikum etwas bedeuten.

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Bei einem Konzert, habe ich in einer Kritik gelesen, gab es nach der DDR-Hymne, die Sie gesungen haben, Buh-Rufe.

Das stimmt, aber es war nur ein Mann, der gebuht hat. Es war eine große Berührung im Raum, und ein Mann hat sehr laut gebuht. Ich habe den gesehen und habe ihn dann aufgefordert zu mir auf die Bühne zu kommen und zu sprechen und zu sagen, was ihn so aufregt. Und dann hat er gesagt, dass er es ganz schlimm findet, dass wir die DDR-Hymne, ausgerechnet das Symbol dieser Schreckensherrschaft, das Symbol von Hohenschönhausen, auf die Bühne bringen und romantisieren.

Was haben Sie ihm gesagt?

Wir hatten eine sehr interessante Diskussion auf der Bühne. Ich habe ihm erklärt, dass wir das Lied gewählt haben, weil gerade in dieser Hymne Auferstanden aus Ruinen, kurz nach der Rückkehr von Eisler aus dem Exil, eine unglaubliche Hoffnung mitschwingt, dass man jetzt ein ganz anderes Land aufbauen kann, eines, wo es gerecht zugeht, wo keine Mutter mehr ihren Sohn beweinen muss, weil es keinen Krieg mehr geben wird. Für mich schwingt in diesem Lied die ganze Sehnsucht des Exilanten mit, der zurückkehren darf. Ich finde wichtig, dass wir das sehen, und auch dass der totalitäre Staat, der danach gegründet wurde, das pervertiert hat. Auch Eisler hat diese Perversion miterlebt und ist darüber letztendlich resigniert.

Wie machen Sie das deutlich? Das Lied wird ja vielfach ganz anders assoziiert.

Ich singe es nicht wie eine Nationalhymne, sondern wie ein inniges Sehnsuchtslied. Dann merkst du plötzlich, wie die Welt der Leute damals aussah. Dann ist die DDR nicht nur die DDR, sondern ein Entwicklungsprozess. Man spürt die hehren Vorstellungen der Exilanten. Das kann die Kunst: so etwas ins Hier und Jetzt holen und wiederbeleben.

Ich muss sagen, ich hätte großen Respekt davor, jemanden, der laut buht, auf die Bühne zu holen

Wenn da irgendetwas Respektloses passiert wäre, hätte ich den auch schnell wieder von der Bühne entfernen lassen. Ich denke aber schon, dass, wenn man nichts riskiert, auch nichts passieren kann. Ich halte die klassische Konzertsituation ohnehin für viel zu abgesichert, da findet so gar nichts Neues statt. Ich bin eigentlich dankbar für so jemanden, dafür, wenn einer mal ein bisschen polarisiert – denn das zeigt doch, dass da unerledigte Konflikte in uns sind.

Meinen Sie, wir brauchen andere Formate für das Lied?

Ich glaube, dass wir zu der ursprünglichen Intimität des Liedes zurück finden müssen. Es ist eine Form, die im Wohnzimmer stattgefunden hat, bei Schubert saßen die Leute um den Flügel herum, und dann wurde gesungen. Bei uns kommen Liederabende eher pastoral daher, einer da oben an seinem Flügel, unten das Publikum. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Gattung Lied im Allgemeinen das Publikum verliert, dass grundsätzlich weniger Liederabende gebucht werden. Ich versuche immer, auf eine Du-Ebene mit dem Publikum zu kommen. Ich bin nicht der Hohepriester der Kunst und die da unten sind die ergebenen Zuhörer. Vielleicht können wir das ganze Format irgendwie drehen …

In anderen Genres geht es ja auch, denke ich gerade Singer/Songwriter*innen spielen alleine mit ihrer Gitarre in kleinen Clubs und alle singen mit.

Ja, im Pop ist das Lied, der Song die zentrale Musik, es hat am meisten Publikum! Wieso sind wir im klassischen Bereich so weit davon entfernt, warum ist das verloren gegangen? Ich will es auf eine Weise transportieren, dass Lied-Singen und -Hören wieder zu etwas ganz Aktuellem wird.

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Mit den Gondoliere-Liedern gehen Sie ja im Grunde in so eine Richtung: Es sind keine Kunstlieder im engen Sinn, sondern überlieferte Gesänge von Menschen bei der Arbeit …

Genau, diese Lieder haben etwas ganz Ursprüngliches, an ihnen ist nichts Artifizielles. Der Schwerpunkt liegt beim Erzählen, bei den Geschichten, mit denen der Mensch umgeht. Da geht es um Geld, um Eifersucht, Neid, wer hat die größte Gondel, wie kann ich eine Frau verführen, wie bin ich hereingelegt worden von dieser Frau – manchmal ist es aber auch einfach nur die Beschreibung des Meeres und der Brise.

In der Einfachheit ist das fast wie Eisler. Oder nicht?

Vielleicht. Als Eisler mit Schönberg gebrochen hat, hat er das ja aus dem gleichen Grund getan: Ihr mit eurem bourgeoisen Kack, ich will für die einfachen Leute schreiben und etwas bewegen mit der Musik. In diesem Sinne war Eisler wie ein Gondoliere, er hat sich ans Klavier gesetzt und riesige Arbeiterchöre geleitet, da haben Kommunist*innen ihre Lieder gesungen. Und im gleichen Sinn ist der Gondoliere auch ein Mann des Volkes.

Ist es vielleicht die Direktheit dieser Art von Lied, die Ihnen den intuitiven Zugang zur Interpretation erst ermöglicht, von dem Sie gesprochen haben?

Ja, das sagt vielleicht wirklich etwas über mich aus. Ich fühle mich da ambivalent, denn ich mag auch zeitgenössisches Musiktheater, was oft hochkomplex ist. Aber gerade im Liedbereich zieht mich die Einfachheit des Lebens an. Das stimmt schon, meine Auswahl an Komponisten ist auch geprägt von dem. Alles, was mich interessiert, hat einen sehr direkten Zugang. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.