Der römisch-katholische Augustinerorden formierte sich im 13. Jahrhundert als Orden der Bettlerinnen und Bettler – und machte im Laufe seiner Entwicklung diverse Wandlungsprozesse durch. Einer Reformkongregation innerhalb des Ordens gehörte Augustinermönch Martin Luther an. Mit fortschreitender Verbreitung reformatorischer Inhalte und Maximen gewann der Orden an Prominenz – auch in der Stadt Antwerpen. Nach opferreichen Kämpfen setzte sich Mitte des 16. Jahrhunderts die Reformation in dieser Stadt durch, die nebenbei zur reichsten Handelsstadt Europas aufstieg. 1585 riss der spanische Statthalter Alessandro Farnese Antwerpen unter seine Herrschaft und ließ alle Protestant:innen verfolgen.
Bereits seit dem frühen 11. Jahrhundert hatte sich jüdische Bevölkerung in Flandern angesiedelt. 1261 diffamierte der Herzog von Brabant und Markgraf von Antwerpen Heinrich III. die Jüdinnen und Juden Antwerpens als »Wucherer« und schmiedete progromähnliche Pläne. Mitte des 14. Jahrhunderts betrieb Johannes III. – ein späterer Herzog von Brabant – antisemitische Kampagnen und vertrieb Jüdinnen und Juden aus seinem Herzogtum. Erst im 16. Jahrhundert wagte eine Gruppe von aus Spanien und Portugal geflohenen Juden wieder, sich in Antwerpen niederzulassen.
Aus einer dieser Familien stammte Leonora Duarte, die am 28. Juli 1610 in Antwerpen getauft wurde. Ihre portugiesisch-jüdische Familie pflegte hervorragenden Austausch mit einflussreichen Personen der Region; zudem bestanden Kontakte zum englischen Königshof. Dabei verhielt sich die Familie für die regionale Öffentlichkeit gemäß den katholischen Brauchtümern – pflegte aber nach innen hin ihre jüdischen Traditionen.
Vermutlich erhielten Leonora und einer ihrer jüngeren Brüder (Diego Duarte, 1612–1691; von ihm ist kein gedrucktes Werk überliefert) eine elaborierte musikalische Ausbildung an Gambe, Laute und Cembalo. Das Haus der Familie Duarte – insgesamt hatte Leonora fünf Geschwister – wurde, wie es heißt, zu einem frühen Musiksalon, in dem Instrumental- und Vokalmusik sowie Theaterspiele präsentiert wurden. Sehr wahrscheinlich unterrichtete Vater Gaspar seine Tochter höchstpersönlich am Cembalo, galt dieser doch als ausgezeichneter Musikus an eben jenem Instrument, wenngleich er hauptberuflich mit Juwelen handelte. Sicher befanden sich die bestmöglichen Cembali im Haus, schließlich unterhielt Gaspar Duarte Kontakte zu prominenten Cembalo-Bauern. Noch heute sind Cembali aus der Region Antwerpen in Originalen oder Nachbauten in aller Welt äußerst begehrt.
Leonora Duarte wurde zur ersten Frau der Musikgeschichte überhaupt, die Werke für Gambe komponierte. Eine ganz Reihe von Fantasien für dieses Instrument entstand. Zwar erhielt die Komponistin nie große kirchenmusikalische Aufträge, dafür förderte Vater Gaspar ihre Musik – sogar bis hin zur teuren und organisatorisch aufwändigen Drucklegung der Werke seiner Tochter.
Genaues über den Tod Leonora Duartes ist nicht überliefert. Als Todesjahr wird 1678 vermutet; demnach starb Duarte im Alter von 68 Jahren.
Leonora Duarte (1610–ca. 1678)Sinfonia à 5 No. 1
Durch die vielen internationalen Künstler:innen, die regelmäßig im reichen Hause Duarte zu Gast waren, konnte Leonora ganz verschiedene musikalische Stilarten ihrer Zeit rezipieren. Unter anderem war wohl Dirck Sweelinck, der Sohn des niederländischen Komponisten und Organisten Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621), ein Freund der Familie – und kommt somit als Einflussquelle hinsichtlich der wenigen überlieferten Werke von Leonora Duarte infrage.
Vater Jan Pieterszoon Sweelinck steht gewissermaßen für die Klangwerdung des Übergangs von der Renaissance- zur Barockmusik; für die Vereinbarung der mehrstimmigen Imitationspraxis mit einem »moderneren« Stil (Stile moderno), der figurative Freiheiten, einfachere, kompaktere Harmoniebildungen und individuell erfundene, virtuose Ausschmückungen mit sich brachte.
Herrlich dicht gezogen gehen die einzelnen Instrumentalstimmen der ersten Sinfonia von Leonora Duarte – der genau Kompositionszeitpunkt dieses Werkes steht nicht fest – ineinander (über). Ein allzu plakativer Solo-Beginn der Oberstimme wird durch die Antizipation der Alt-Stimme, die mit längeren Notenwerten aufwartet, elegant umgangen. Auf ganz typische Weise gesellen sich die nächsten Einsätze der anderen Stimmen frei-imitatorisch dazu. Doch Duarte fordert die Hörenden durch eine von Anfang an eng gesetzte Struktur des Gesamtgefüges, die sich nach wenigen Sekunden im Hör-Ergebnis quasi hypnotisch ergießt. Schnell kommen kleinere Notenwerte hinzu, die den Eindruck hypnotischen Kreisens in der engen Imitationsabfolge verstärken – und eine sehr sinnliche, ja, fast glühende Kontemplation ermöglichen.
Bei einer selbstgenügsamen – gelehrt und tiefsinnig komponierten – Komposition bleibt es bei Duarte jedoch nicht. Nach etwa 45 Sekunden endet die warm-wiegende, hochbarocke – hier noch leicht der Renaissance zugewandte – »Hypnose«; wir erleben einen »Abbruch«, auf den fast so etwas wie ein »Gassenhauer« leuchtend frech aufscheint. An dieser Stelle zeigt und bewahrheitet sich die Beschäftigung mit damals neuester Musik; hier steht nun eine Melodiestimme im Fokus – und die anderen Stimmen fügen sich mehr oder weniger höfisch in ihre sekundierende harmonisierende Begleitrolle. Dominiert also im ersten Teil dieses Sinfonia-Kleinods der Eindruck des Stile antico, so entfaltet sich der darauffolgende Part ganz einzelharmoniebegeistert und momenthaft expressiv. Große Vielfalt auf engstem Raum. ¶