Die schöne ukrainische Stadt Ismajil liegt am Unterlauf der Donau, nicht ganz am Schwarzen Meer; zwischen Odessa im Norden und dem bulgarischen Warna im Süden. Vor 900 Jahren hatten hier Vertreter der Republik Genua Einzug gehalten. Eine Festung wurde errichtet und das Fürstentum Moldau regierte bis Ende des 15. Jahrhunderts. Wie viele Städte der heutigen Ukraine – man denke an Lviv beziehungsweise Lwow beziehungsweise Lemberg – verraten schon die wechselnden Stadtnamen einiges über die Geschichte von Gemeinden, Regionen, Ballungsgebieten und Hafensiedlungen. Die Stadt Ismajil beispielsweise wurde auch İşmasıl genannt, was wiederum auf die osmanische Geschichte der Stadt rekurriert. Denn von 1484 bis 1812 waren Stadt und Festung Teil des Osmanischen Reichs. Zwischenzeitlich eroberte 1770 Russland die Stadt. Von den derzeitigen russischen Kriegsangriffen – hier im März 2022 – ist Ismajil noch verschont geblieben, liegt es doch im Grunde fast »umschlossen« von Moldawien, wenn auch in »Sichtweite« zur Krim, und doch mit einem gehörigen Stück Schwarzen Meer dazwischen.
Ismajil ist seit vielen Jahrzehnten politisch stark von Odessa geprägt. Und so studierte auch die am 9. Januar 1976 in Ismajil geborene Svitlana Azarova – nach einem Abschluss in musikalisch-pädagogischen Fächern – ab dem Jahr 1996 am Konservatorium von Odessa – einer Stadt mit großen, mondänen Gassen, herrlichen Hotels aus vergangenen Zeiten und uralten, freundlichen, schalkhaften alten Herren, die in Parks uns Fremde zu harten Schachpartien auffordern würden, wären wir gerade dort. Hier am Konservatorium studierte Azarova also Komposition. (Ihr erster Lehrer in Odessa war der 1936 dort geborene und 2007 in China verstorbene Olexander Krasotov, von dessen luxuriösem Foto- und Notengrafik-Grabstein wir ein Bild im Netz finden. Krasotovs Musik steht deutlich in der Tradition von rhythmisch geprägten Schostakowitsch-Marsch-Fragmenten und sarkastischen Prokofjew-Zirkusverbrennungen und bekennt sich darüber hinaus zu einer an Hindemith angelehnten – dissonant angeschärften – Quarten-Motiv-Sachlichkeit.)
Bald wechselte die Kompositions-Hauptfach-Studentin Svitlana Azarova innerhalb des Konservatoriums von Odessa zu Karmella Tsepkolenko, die 1955 ebenfalls in Odessa zur Welt gekommen war und deren Musik sich im Vergleich zu Krasotov deutlich mehr nach »westlicher« Avantgarde anfühlt. 2003, drei Jahre nach ihrem Studienabschluss, erhielt Azarova ein Stipendium, mit dem sie an der Musikakademie Warschau ihre Studien erweitern konnte. Im selben Jahr lud das Europäische Zentrum der Künste Hellerau Azarova nach Dresden ein, 2005 nahm die Komponistin an einer Akademie im österreichischen Seefeld teil. Nach einem Aufbaustudium am Konservatorium von Amsterdam bei dem Jazzmusiker und Komponisten Theo Loevendie (*1930) blieb Azarova in den Niederlanden und wurde seitdem als »Composer in Residence« zu diversen Festivals eingeladen.
Svitlana Azarova (* 1976)
Beyond context (2008) für Orchester
Svitlana Azarovas Orchesterwerk Beyond context beginnt mit einer dissonanten Ballung, die kurz zurückweicht, um uns anschließend sogleich komplett ins Fegefeuer lustig kakophonen Miteinanders hineinzuziehen. Nach einer Minute bleibt eine dunkel-verhaltene Blechbläser-Kombo übrig, die sich spaßvoll choralartig wie ein wiederauferstandener Dissonanzen-Bruckner gebärdet, um schnell – und unter Zuhilfenahme des Orchesterklaviers – zu zerfallen. Ein Rhythmus sneakt sich kurzzeitig in die Musik hinein, wie unfreiwillig zustande gekommen – und dabei absolut freiwillig komisch. Interessante Musik, fern von Anbiederung, fern von Darmstädtischem Einverständnis dissonant-überfrachteter Langeweile. ¶