In den Jahren 1908 und 1909 fand die »Londoner Konferenz« statt, bei der eine Reform des Seekriegsrecht verhandelt wurde. Diese Verhandlungen dauerten bis zum 26. Februar 1909 und fanden in der »Londoner Seerechtsdeklaration« ihren Abschluss. Wenige Tage nach dem Ende der Konferenz wurde hier – in London – Minna Nerenstein geboren, genauer: am 22. März 1909.

Minna Nerenstein war die älteste Tochter einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie; ihre Eltern leiteten in London einen Verlag mit hebräischen Publikationen samt dazugehöriger Buchhandlung, wie MUGI-Autorin Sarah Ross eindrücklich schildert. Profis in Sachen Musik waren die Eltern nicht, aber Minnas Onkel brachte seiner Nichte Musik nahe. Bedeutend waren für Minna auch die frühen Erfahrungen mit synagogaler Musik. Ab dem Alter von zwölf Jahren entstanden erste eigene Kompositionen. Und ab 1926 studierte Minna schließlich an der Royal Academy of Music Klavier und Komposition. Ihr Kompositionsprofessor William Alwyn (1905–1985) war kein Unbekannter, er schrieb unter anderem Filmmusik für Walt Disney.

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Dann kam es zu einem in der Musikgeschichte – hinsichtlich dieser zeitlichen Ausdehnungen – wohl einzigartigen Bruch im Leben der jungen Künstlerin. 1929 hatte Minna Nerenstein Studium und Karriere vorerst an den Nagel hängen müssen, um ihrer seit 1926 verwitweten Mutter bei den verlegerischen Unternehmungen zu unterstützen. So wirkte Nerenstein, wie Sarah Ross darstellt, über einen Zeitraum von ganzen 46 Jahren als Unternehmerin, Aktivistin und Mutter (der 1934 aus erster Ehe geborene Sohn Raphael Samuel wurde später als Sozialhistoriker am Ruskin College in Oxford bekannt). Sie trat in die kommunistische Partei ein und schuf während des Zweiten Weltkriegs zusammen mit ihrem ersten Mann, dem Rechtsanwalt Barnett Samuel ein Komitee, das Kinder aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu evakuierte. Die Ehe mit Barnett Samuel endete 1946, 1959 heiratete sie den Ingenieur Bill Keal, den sie bei der Arbeit in einer Flugzeugfabrik kennengelernt hatte. Die Ehe mit Barnett Samuel endete 1946, 1959 heiratete sie den Ingenieur Bill Keal, den sie bei einem ihrer Jobs in einer Flugzeugfabrik kennengelernt hatte. Über dieses Jahrzehnt schreibt Sarah Ross: »In den 1950er Jahren ging Minna Keal diversen Jobs nach. In dieser Zeit begann sie jedoch wieder Klavierunterricht bei Norman Anderson an der Guildhall School of Music zu nehmen, um ihr ›Licentiate of the Royal Academy of Music‹-Diplom nachzuholen, welches sie dazu befähigte, als Klavierlehrerin tätig zu sein. Während dieser Zeit entdeckte sie für sich die Werke verschiedenster slawischer Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch, Béla Bartók oder Witold Lutosławski.«

Mit 60 Jahren (1969) wurde Minna Keals von dem britischen Komponisten Justin Connolly (1933–2020) gewissermaßen kompositorisch »wiederentdeckt«. Doch erst 1975 – nach 46 Jahren Pause – schrieb sie sich (als »Weihnachtsgeschenk« ihres Sohnes) wieder als Studentin ein, bei eben jenem Justin Connolly. War Keal zunächst noch kompositionsästhetisch dort verortet, wo sie vor knapp einem halben Jahrhundert aufgehört hatte, begeisterte sie sich nun zunehmend nachholend auch für Dissonanzen. So entstand 1978 ihr Streichquartett op. 1 (!), das tatsächlich etwas an die späteren Streichquartette Bartóks erinnert. 1987 legte Keal ihre einzige Symphonie vor, die prompt von ihrem neuen Lehrer Oliver Knussen (1952–2018) zusammen mit dem BBC Symphony Orchestra erfolgreich uraufgeführt wurde.

Minna Keal überlebte ihre beiden Schwestern, ihren Sohn und ihren zweiten Ehemann und starb am 14. November 1999 mit 90 Jahren in Buckinghamshire.


Minna Keal (1909–1999)
Konzert für Violoncello und Orchester op. 5 (1994)

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Nach dem späten »Wiederbeginn« der Kompositionslaufbahn Minna Keals komponierte diese nur noch eine Handvoll Werke. Das 1994 zu Notenpapier gebrachte Konzert für Violoncello und Orchester op. 5 war von der Aldeburgh Foundation in Auftrag gegeben worden und gilt als eines derjenigen Werke Keals, in denen der Einfluss jüdischer Musik spürbar werde. Das Stück, das von Alexander Baillie (Solo-Cello), der City of London Sinfonia und Richard Hickox (Leitung) am 26. August 1994 uraufgeführt wurde, beginnt mit sehr leisen, dunklen Orchestertönen. Wütend, eingreifend schmettert das Solo-Cello Doppelgriffe darüber hinweg, ein wenig an die entsprechenden »Ausraster« Schostakowitschs gemahnend. Interessant, dass an dieser Stelle noch gar nicht klar ist, welche Art von Tonalität (oder Atonalität) hier im Schwange ist. Schnaubend schießt das Orchester kompakt zurück. Kriegsatmosphäre. Dann Rückzug in leisere Gefilde, aus denen schließlich aber nur Klagetöne zu hören sind. Keine Musik zum Zurücklehnen, wirklich nicht. Entdeckenswert! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.