Auf der Webseite des »Homophilharmonischen Orchesters Berlin – concentus alius« finden wir folgende Sätze von Musikwissenschaftler Tobias Fasshauer (dem wir für die Unterstützung beim Schreiben dieses Artikels danken) zur Geschichte des Ragtime: »Eine von den Ragtime-Forschern Max Morath und John E. Hasse zusammengestellte Auflistung von Rags, die in den USA vor 1930 von Frauen komponiert wurden, nennt ohne Anspruch auf Vollständigkeit Stücke von rund 230 Komponistinnen. Diese beachtliche Zahl wirkt nur auf den ersten Blick überraschend. Die klavierspielenden Frauen der amerikanischen Mittelschicht waren die vorrangige Zielgruppe jedweder kommerziellen Sheet Music (d. h. Einzelausgaben von Songs und Klavierstücken beziehungsweise Arrangements), und dazu gehörte um 1900 mit seiner neuartigen, ja revolutionären Synthese afro-amerikanischer Rhythmik und europäischer Tonalität, Metrik und Form der Ragtime an vorderster Stelle. Bei der gewaltigen Masse von Konsumentinnen mussten nahezu gesetzmäßig auch auf der Produktionsseite dieser Musik viele Frauen zu finden sein, zumal die vorherrschende männliche Einstellung zur Musikausübung in den USA der Belle Époque noch stark von den Macho-Werten der Pionierzeit bestimmt war: Eine intensive oder gar professionelle musikalische Betätigung galt für einen Mann – einen weißen, wohlgemerkt – gemeinhin als unpassend. Die Begeisterung, die weiße Mittelklasse-Amerikanerinnen einem Musikstil entgegenbrachten, der von schwarzen Musikern entwickelt worden war, bleibt nichtsdestotrotz ein bemerkenswertes Faktum. Überspitzt könnte man behaupten, Ragtime sei in erster Linie eine Musik schwarzer Männer und weißer Frauen gewesen.«

Einer dieser überraschend vielen Frauen unter den Ragtime-Komponierenden war May Frances Aufderheide Kaufman. Geboren wurde Aufderheide am 21. Mai 1888 in Indianapolis. May Aufderheides Vater arbeitete als Bankier und finanzierte den ersten Klavierunterricht seiner Tochter (bei seiner Schwester, einer professionell ausgebildeten Musikerin). Bereits im Teenageralter schrieb Aufderheide Ragtimes für das Klavier. Ihr erstes veröffentlichte Stück – der besagte Dusty Rag – erschien 1908 (da war Aufderheide 20 Jahre alt). Der Ragtime verkaufte sich außerordentlich gut und um die eintrudelnden Einnahmen beisammen zu halten, gründete der finanzerfahrene Vater einen Verlag.

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Ein Jahr nach dem Dusty Rag erschien Claude Debussys Cakewalk The Little Nigar (1909) im Druck; ein bis heute gerade bei in Deutschland geborenen Kindern beliebtes – wenn auch wohl durch den Rassismushintergrund inzwischen nachvollziehbar skeptisch beäugtes – Klavierstück, ähnelt es doch ein wenig der Titelmelodie von der Sendung mit der Maus.

Die Geschichte des Ragtimes sowie des daraus sich entwickelnden Jazz’ ist immer auch eine Geschichte von Rassismus, Aneignung, Parodie und Vermischung unterschiedlichster Stile, Traditionen und Milieus. Auf dem Titelblatt von Aufderheides Dusty Rag aus dem Jahr 1908 ist ein Bild einer rassistischen Stereotypen folgend extrem überzeichneten Schwarzen Person zu sehen. (Diese kann zugleich als Weiße gesehen werden, welche sich – in der rassistischen Tradition des Blackfacings – mit dunkler Farbe das Gesicht angemalt hat.)

Im Dusty-Rag-Jahr 1908 heiratete May Aufderheide – nach einer ausgedehnten Europareise – den Architekten Thomas Kaufman und zog mit diesem von Indianapolis ins etwa 130 Kilometer entfernte Richmond (Indiana). Erschienen in den ersten Jahren der Ehe noch weitere Publikationen der Komponistin auf dem Markt, so versiegte diese Quelle ab dem Jahr 1912. Aufderheides Ehemann arbeitete als Makler für den Vater seiner Frau, galt jedoch als alkoholkrank, was die Ehegemeinschaft gewiss sorgenvoll geprägt haben dürfte. (Nicht unbedingt muss dieser Umstand aber mit dem Ende der kompositorischen Laufbahn von Mary Aufderheide zu tun gehabt haben.)

1909 war Aufderheides Ragtime The Thriller! veröffentlicht worden. Dieser verkaufte sich noch einmal besser als ihr Dusty Rag und wurde zu zahlreichen Arrangements anderer Komponistinnen und Komponisten umgearbeitet. 1911 zogen Aufderheide und ihr Ehemann samt Adoptivtochter Lucy zurück nach Indianapolis.

Die negativen Umstände der – wahrscheinlich auch durch körperliche Gewalt gezeichneten – Ehe von May Aufderheide führten dazu, dass die Künstlerin in den 1930er Jahren zusätzlich noch das Klavierspielen aufgeben musste. 1947 erfolgte ein Umzug nach Kalifornien. Wegen einer Reihe von schweren Schlaganfällen und aufgrund einer arthritischen Erkrankung war May Aufderheide in den letzten Jahren ihres Lebens auf den Rollstuhl angewiesen. Sie starb im Alter von 84 Jahren am 1. September 1972 in Pasadena (Kalifornien).


May Aufderheide (1888–1972)
Dusty Rag für Klavier (1908)

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Laut Auskunft des Furore-Verlags komponierte May Aufderheide etwa ein halbes Dutzend Ragtimes. Dabei wird bemerkt, dass Aufderheide ihre Stücke möglicherweise nicht eigenhändig notierte, sondern diese Aufgabe – vom Klavier aus – ihrer Assistentin Julia Niebergall übertrug.

Aufderheides Erfolgs-Ragtime Dusty Rag (Noten) beginnt – wie viele Ragtimes – mit einem Unisono-Motto, das durch die übergebundene vierte 16tel in typischer Weise rhythmisch angeschärft wird. Auch die nachfolgenden Momente des viertaktigen Vorspiels sind voller ikonischer Ragtime-Charakteristika: nach unten abfallende Linien, fast opernouvertürenhaft drängende Spannungsakkorde. Während allerdings das Anfangsmotto des bekanntesten Ragtimes aller Zeiten – The Entertainer (1902) von Scott Joplin (1867/68–1917) – schlicht, jeweils eine Oktave tiefer, »wortwörtlich« wiederholt und beim dritten Mal »hinten raus« chromatisch verändert wird, präsentiert sich Aufderheides Dusty Rag variativer und vielgestaltiger im Vorspiel. Gleichzeitig zieht sich Aufderheides Stück ragtimetypisch absichtlich etwas »automatenhaft« durch, doch diese Selbstspielklavier-Attitüde (das erste Pianola/Player Piano wurde 1895 in Detroit gebaut) gehörte zur üblichen Ragtime-Ästhetik, ja, man könnte meinen, die »Möglichkeiten« der ersten Pianola-Instrumente hätten in ihrem Klangresultat auf die dementsprechend etwas »roboterhafte« Kunst des Ragtimes selbst kompositorische Auswirkungen gezeitigt (von der Interpretation ganz zu schweigen).

Im Vergleich zu Joplins Entertainer gibt es in Aufderheides Dusty Rag ein paar harmonische Überraschungen, die man bei dem konventionelleren »Vorbild« vergeblich sucht. (Wobei Joplin in seinem zweitbekanntesten Stück – dem Maple Leaf Rag (1899) – eine waschechte Neapolitaner-Wendung einbaut.) Aufderheide crasht durchaus einmal (nach der ersten Klammer) von C-Dur in eine E-Dur-Situation hinein, die dann freilich wieder ganz konventionell zur Tonikaparallele a-Moll führt.

Aufderheides Ragtimes sind keine einzigartigen Meisterinnenwerke, wie sie die originalitätspostulatsgeschulten Musikwissenschaftler:innen des 20. Jahrhunderts suchen. Doch anderen Stücken dieser Machart sind sie absolut ebenbürtig. Überhaupt waren Ragtimes nie dazu auserkoren, »große Musik« zu sein. Sie dienten der Unterhaltung am (verstimmten) Klavier daheim; bereichert durch das Gefühl, es hier wirklich mit Musik am (klappernden) Zahn der Zeit zu tun zu haben. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.