Sie ist – vielleicht hinter Clara Schumann (1819–1896), Hildegard von Bingen (1098–1179), Fanny Hensel (1805–1847) und Luise Adolpha Le Beau (1850–1927) – die möglicherweise fünfbekannteste Komponistin Deutschlands: Emilie Mayer.

Geboren wurde Mayer am 14. Mai 1812 im mecklenburgischen Friedland, nordöstlich von Neubrandenburg, auf halber Strecke zum Stettiner Haff. Das Wasser war also nahe. Doch Emilies Kindheit verlief keineswegs frei von Sorgen. Mayers verwitweter Vater arbeitete als Apotheker und war bereits zum zweiten Mal verheiratet. Auch seine zweite Frau starb 1814 – Emilie war gerade einmal zwei Jahre alt. Der Vater heiratete nicht noch ein drittes Mal, sondern zog seine zwei Töchter und die drei Söhne mit Hilfe von Dienstbotinnen und Dienstboten groß, wie Autor Heinz-Mathias Neuwirth berichtet. Wohl durch einen Privatlehrer erfolgt die schulische Ausbildung der Kinder. Ab ihrem fünften Lebensjahr erhielt Emilie Unterricht bei einem Studienrat, der ihr auch Klavierstunden erteilte – und sie wohl motivierte, erste Kompositionsversuche zu unternehmen.

Alle vier Geschwister heirateten; nur Emilie Mayer blieb ledig und lebte mit ihrem Vater zusammen, bis dieser sich 1840 das Leben nahm. 1841 begann Emilie Mayer ein Studium bei dem großen Balladen-Komponisten Carl Loewe (1796–1869) in Stettin; Loewe wirkte seit Anfang der 1820er für mehr als vier Jahrzehnte dort als Musikdirektor der Stadt – und »entsprechend« viele Lieder entstanden nun auch aus der Hand Emilie Mayers, sowie Kammermusik und zwei Symphonien (eine in c-Moll, eine in e-Moll). Beide Symphonien konnten auch prompt in Stettin uraufgeführt werden.

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Auf Empfehlung von Loewe setzte Mayer ihr Studium bei dem Beethoven-Biographen Adolf Bernhard Marx (1795–1866) sowie bei dem seinerzeit äußerst gefragten Militär-Reformer, Komponisten und Dirigenten Wilhelm Wieprecht (1802–1872) fort. Von Marx kamen die Unterweisungen im Fach Kontrapunkt, bei Wieprecht lernte Mayer Instrumentation. Marx brachte Mayer außerdem in noch intensiveren Kontakt mit der Musik von Mozart, Haydn und Beethoven, von deren Werke Emilie Mayer aus Studienzwecken – wie damals und noch lange Zeit später üblich – teils Abschriften machte. Und Wieprecht verführte Mayer dazu, tatsächlich eine Symphonie militaire zu komponieren, die schließlich im damaligen Königlichen Schauspielhaus (heute: Konzerthaus Berlin) im April 1850 zum ersten Mal gegeben wurde. Zwar erschienen ein paar skeptische Besprechungen des Konzerts, doch kam auch Lob seitens der Rezensenten, die es freilich nicht unterlassen konnten, die Qualität der Kompositionskunst Mayers auf ihr Geschlecht zu münzen (zitiert nach dem MUGI-Lexikon-Artikel von Neuwirth): »Erwägt man, dass die strengeren Formen der Instrumentalmusik und die der Fuge männlicher Kraft selbst zu schaffen machen, so wächst das Außerordentliche. Bisher hat Frauenhand höchstens ein Lied überwunden […] aber ein Quatuor (ein Quartett) und gar eine Symphonie mit all den Künsten im Satze und in der Instrumentation – dies möchte als ein besonderer, höchst seltener Fall gelten können.«

Wahrscheinlich geriet Emilie Mayer aus nicht näher bekannten Gründen in eine wirtschaftliche Notsituation und zog aus diesem Grunde für die Jahre 1862 bis 1875 wieder zurück in den äußersten Nordosten, nach Stettin. Mayer war weiterhin – wie schon in Berlin – kompositorisch äußerst produktiv, musste sich aber in harten Verhandlungen immer wieder um den Druck ihrer Arbeiten bemühen, um sich bei den Verlegern durchsetzen zu können. Die unverheiratete Frau galt jedoch in Berlin und darüber hinaus als äußerst respektierte Künstlerin – auch unter einflussreichen adligen Personen. So wurde die Komponistin von Erzherzogin Sophie Friederike von Bayern/Österreich (1805–1872) nach einer Aufführung eines ihrer Werke nach Wien eingeladen.

1876 war die Rückkehr Mayers nach Berlin erfolgt. Nach weiteren schöpferisch ergiebigen Jahren starb Emilie Mayer am 10. April 1883 im Alter von 71 Jahren ebendort.


Emilie Mayer (1812–1883)
Faust-Ouverture op. 46 (1880)

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Schon früh beschäftigte sich Mayer mit Goethe. So entstanden wohl ihre frühesten Werke überhaupt aus dem Studium Goethescher Gedichte heraus, unter anderem eine Vertonung des Erlkönigs. Leider gibt es bis heute keine einzige Aufnahme dieses Stückes, dessen Manuskript in der Staatsbibliothek Berlin liegt.

Acht Symphonien, einige Orchester-Ouvertüren, neun Streichquartette und viele weitere Kammermusikwerke, Solo-Stücke und eben zahlreiche Lieder finden sich auf der Werkliste von Emilie Mayer. 1880 komponierte sie ihre erfolgreichste Musik: die Faust-Ouverture op. 46, die außergewöhnlich häufig aufgeführt wurde, nicht nur mehrfach in Berlin, sondern auch in anderen europäischen Metropolen.

Eingedunkelt rühren die tiefen Instrumente des Orchesters in Unisono-Linien einen bedrohlichen Sud an; nur nicht so mottohaft wie angesichts von Schuberts Unvollendeter. (Man könnte hier Goethes Faust selbst sprechen lassen: »Weh! steck ich in dem Kerker noch? Verfluchtes dumpfes Mauerloch!«) Spröde, am Boden zerstört – und dennoch gefasst, nicht weinerlich. Langsam wird die Musik akkordischer und entfaltet sich im orchestralen Miteinander. Langsam, sehr langsam: aufkeimende Hoffnung. (»Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet, der immerfort an schalem Zeuge klebt, mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt, und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!«)

Vorhaltsseufzer werden dazu auserkoren, dynamische Spannung zu erzeugen – auf Basis ruhender Bässe. Nicht etwa tremolieren diese im Zuge der Crescendi der anderen mit, sondern ermöglichen eine interessante Stimmungspolyphonie: Hier ruht der Tod – und auf der anderen Seite ist noch ganz lebendiger Schmerz!

Zu dieser Stimmungspolyphonie gehören plötzliche Dur-Aufhellungen, wie wir sie beim »Schöpfungs-Haydn« hören, aber auch von den Symphonien Mozarts und Beethovens kennen. Nach vier Minuten rafft sich die Musik dann recht plötzlich auf zum bewegten Teil – die Misere soll aufgearbeitet, überwunden werden! (Mephistopheles: »Mein guter Freund, das wird sich alles geben; sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben.«)

Bald kommt es zu kleinen motivischen, instrumentatorisch vermittelten Verlockungen, Ränkespielen, Beobachtungen von schöner Jugend. Man denkt an die teuflische Faust-Verführung – und an die ersten Zeichen (falscher) Hoffnung: »Was seh ich? Welch ein himmlisches Bild zeigt sich in diesem Zauberspiegel! O Liebe, leihe mir den schnellsten deiner Flügel, und führe mich in ihr Gefild! (…) Lass mich nur schnell noch in den Spiegel schauen! Das Frauenbild war gar zu schön! Mephistopheles: Nein! Nein! Du sollst das Muster aller Frauen nun bald leibhaftig vor dir sehn. (Leise.) Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, Bald Helenen in jedem Weibe.« ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.