Annette von Droste-Hülshoff wurde am 12. Januar 1797 auf Schloss Hülshoff in Havixbeck bei Münster geboren, das sich idyllisch umwandern lässt und bis heute eine beeindruckende Musiksammlung beherbergt. Eine öffentliche Schulanstalt besuchte Droste-Hülshoff freilich nicht. Ihre Eltern – Mutter Therese Luise und Vater Freiherr Clemens August von Droste-Hülshoff, begeisterter Violin-Dilettant – unterrichteten sie Zuhause zunächst selbst. Später übernahm diese Aufgabe standesgemäß ein Privatlehrer. Eine profunde Musikausbildung war durch ihren komponierenden Onkel, einem Vertrauten Joseph Haydns, gewissermaßen im Schwange. Und ab 1809 bekam die 12-Jährige Klavier- und Orgelunterricht bei dem Organisten einer nahegelegenen Stiftskirche – vielleicht ein wenig zu »spät«, um später rein als professionelle Pianistin ihr (eh per se vorhandenes) Geld zu verdienen. Am Klavier galt von Droste-Hülshoff als außerordentlich talentiert und trat immer wieder im Familienkreis auf.

Nach einer behüteten Kindheit und Jugend kam es in Münster 1812 zu der Begegnung mit dem Schriftsteller Anton Matthias Sprickmann (1749–1833), der Annette von Droste-Hülshoff zum Schreiben anregte und für ein paar Jahre ihr Mentor wurde. Musik spielte weiterhin eine Rolle in von Droste-Hülshoffs Leben, im Elternhaus hatte man häufig gemeinsam musiziert. Im selben Jahr der Erst-Begegnung mit Sprickmann notierte Mutter Therese, Annette habe sich »mit aller Heftigkeit ihres Charakters auf’s Componieren geworfen«.
Der Bökerhof in Bökendorf bei Brakel im Kreis Höxter (Ostwestfalen) war der Stammsitz der Familie von Haxthausen und Wohnsitz von Drostes Großeltern mütterlicherseits. Hier gab 1820 von Droste-Hülshoff ihr offenbar erstes öffentliches Konzert als Sängerin, wiewohl ernsthafte Gesangsstunden erst von 1824 und 1831 erfolgten. Ihre Stimme sei stark, spitz und überraschend tief gewesen, so wird – aber stets mit positiver Emphase – berichtet. Vom besagten Onkel Maximilian erhielt von Droste-Hülshoff zusätzlich Kompositionsunterricht. Mit den finanziellen Mitteln der Familie war es leicht, die aktuellen Partituren ihrer Zeit zu beschaffen, um sich umfassend im Studium zu informieren. Hinzu kam der briefliche Kontakt zum Ehepaar Schumann. 1846 vertonte Robert Schumann Droste-Hülshoffs Gedicht Das Hirtenfeuer (1844), ein Chor-Lied, das als Hirtenknaben-Gesang op. 59 No. 5 erschien – und von dem es nur ganz wenige Aufnahmen gibt. (Das Lied wird aus mir unbekannten Gründen in manchen Ausgaben in den Anhang verladen und taucht vielerorts hinter den anderen Vertonungen des Zyklus gar nicht erst auf.)
Ab Mitte der 1820er Jahre reiste von Droste-Hülshoff, die ihre eigenen Werke nie selbst öffentlich aufführte, häufiger in die Rhein-Gegend, vorzugsweise nach Bonn, auch aus gesundheitlichen Gründen – frische Rhein-Luft! Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters schrieb die Dichterin erste Entwürfe ihres Versepos Hospiz auf dem Großen St. Bernhard nieder. 1813 bereits hatte die damals 16-Jährige ihr Drama Berta oder die Alpen verfasst: Ausgangspunkt eines literarischen Oeuvres, das es in Teilen in Deutschland auf gymnasiale Lehrpläne schaffte. 1820 entstanden die ersten Entwürfe zu von Droste-Hülshoffs Roman Ledwina; im selben Jahr kam es zur Liaison mit dem Schriftsteller Heinrich Straube (1794–1847), die man wegen des Standesunterschiedes äußerst kritisch beäugte.

Nach Arbeit an Romanen und Novellen, Begegnungen und Mitgliedschaften in literarischen Zirkeln kam 1841 von Droste-Hülshoffs Sittengemälde-Novelle Die Judenbuche heraus. Ein Werk von großer Wirkung – bis heute. Annette von Droste-Hülshoff gilt als eine der wichtigsten Literatinnen des deutschsprachigen Raums, stand im brieflichen Kontakt mit den Gebrüdern Grimm, mit Schlegel und anderen bedeutenden Kolleginnen und Kollegen ihrer Zeit. Dabei blieb sie stets dem Münsterland verbunden – und war gleichzeitig damit betraut, familiäre Verpflichtungen und künstlerische Ziele miteinander zu vereinbaren.
Ihre Heimatverbundenheit wurde der Dichterin lange nach Ableben zum Verhängnis. Im Sommer 1918 notiert bereits Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: »Lindau. Mit Schiff nach Meersburg. Annettens Zimmer und Grab. Stille Stunde. Übernachten im kleinen Gasthaus. Draußen plätschert ein Brunnen. Wunderbar verträumte Nacht.« Ronald Schneider schreibt: »(…) im Verfolg des Rezeptionsstranges der ›westfälischen Dichterin‹ ist (…) ein (…) besonders fragwürdiges Kapitel der Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert aufzuschlagen. Die schon bei Elise Rüdiger unter der zur irrationalen und mythenstiftenden Kategorie geratene ethnographische Zuordnung musste im Kontext der völkischen Ideologie des deutschen Faschismus als willkommene Einladung zur ›weltanschaulichen‹ Vereinnahmung und propagandistischen Funktionalisierung der Droste erscheinen. Die nationalsozialistische Kulturpolitik stilisierte die Droste denn auch ganz konsequent zur Repräsentantin ›deutschen Volkstums‹ (…).«
Von Droste-Hülshoff blieb unverheiratet. Ihre letzten Jahre verbrachte sie – nach einem Jahr in der Schweiz – bei ihrer Schwester Jenny und deren Ehemann (einem engen Vertrauten von Annette von Droste-Hülshoff) auf der Meersburg am Bodensee. Annette von Droste-Hülshoff starb am 24. Mai 1848 und liegt auf dem Friedhof von Meersburg begraben. Als Todesursache vermutet man eine Lungenentzündung. Von Droste-Hülshoff wurde nur 51 Jahre alt.
Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848)
Indisches Brautlied (veröffentlicht 1877)
Erst gen Ende des 19. Jahrhunderts schenkte man von Droste-Hülshoffs Musik etwas mehr Aufmerksamkeit. Neben ein paar Opernskizzen – keines ihrer Musiktheater liegt vollständig vor oder ist vollständig überliefert – sind es fast ausschließlich Werke für Gesang und Klavier, denen wir uns widmen können. Die Existenz der Musik von Droste-Hülshoff wird bis heute – man kann es nicht anders sagen: verdrängt. In dem oben zitierten Buch von Ronald Schneider kommen die Worte »Musik« oder gar »Komposition« fast gar nicht vor. Einmal heißt es bei Schneider: »1821: Musikalische Studien. Weiterarbeit (oder Beginn der Arbeit?) an Ledwina.« Das Wort »Komposition« erwähnt Schneider in einem rein literarischen Kontext. Mit »Liedern« sind meist »Volkslieder« gemeint, aber nur im Sinne der literarischen Gattung.
Während die Musik des komponierenden Philosophen Friedrich Nietzsche in die ästhetische Nähe von Franz Schubert und Robert Schumann gerückt und damit nicht nur latent – obwohl ästhetisch eigentlich epigonal – geadelt wird, entschuldigte man sich gewissermaßen von Anfang an für die Lieder Droste-Hülshoffs. Der münsterländische Dichter und Philosoph Christoph Bernhard Schlüter (1801–1884) schreibt in dem Vorwort der von ihm 1877 herausgegebenen Lieder ernsthaft: »Bei Herausgabe der nachfolgenden siebenundzwanzig Lied-Compositionen, die sich im Nachlasse der Dichterin Annette v. Droste-Hülshoff vorfanden (…), halte ich es für nöthig, einige Bemerkungen vorauszuschicken. Vor allem treten diese Compositionen nicht mit der Prätension auf, das Werk eines in der Kunst der musikalischen Composition vollkommen geschulten Meisters (sic) zu sein; der Werth derselben beruht zumeist in der Frische, Lebendigkeit und Originalität der Melodie, und in dem Interesse derer, welche, mit den Poesieen der Dichterin befreundet, gerne wissen möchten, wie ihre ausgezeichnete Begabung auch auf musikalischem Gebiete sich erweise.«
Niemand behauptet, von Droste-Hülshoffs paar Dutzend Lieder seien ewige Meisterinnenwerke, von denen noch Mahler abgeschrieben hätte. Ästhetisch können sie jedoch mindestens mit vielen bekannten Stücken der Zeit mithalten! Dabei erweisen sich von Droste-Hülshoffs Vokalkompositionen als origineller und ambitionierter als viele vergleichbare Erzeugnisse gerühmter Liedkompositionskollegen einer knappen Generation zuvor; genannt seien die Lieder von Johann Friedrich Reichhardt (1752–1814) und Carl Friedrich Zelter (1758–1832): Lieder, die sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein großer Beliebtheit erfreuten – »sogar« bei Goethe, der es vorzog, die einfachsten Vertonungskreationen zu lobpreisen, um sich gleichsam nicht als »vertont« hinter wirklich hervorragender Musik vermeintlich verschwindend zu empfinden.
Droste-Hülshoffs Lieder sind beispielsweise nicht von einer schnöden Dauer-Akkord-Begleitung im Klavier geprägt, wie man sie von Dilettantinnen und Dilettanten, von (nicht nur) halbprofessionellen Komponistinnen und Komponisten kennt. Eine gewisse – offen »bekennerische« und aus ihrem literarischen Schaffen ableitbare – Volksliedhaftigkeit lässt sich bei Droste-Hülshoff aber durchaus feststellen. Dies führt jedoch nicht etwa zu einer anhaltenden Terz- und Sext-Begleitungshaltung im Klaviersatz. Immer wieder entdecken wir Rezitativisches in ihren Liedern. Die Begleitung setzt kurz aus – oder fängt, wie in dem Minnelied in A-Dur – erst fast gar nicht richtig an. Besonders spannungsvoll ist die »Singer-Songwriter-Vereinbarung« im Zeichen des musikalischen Schaffens Droste-Hülshoffs: Zumeist ist nämlich die Komponistin auch ihre eigene Textdichterin. Ein ganz seltener Fall in der Musikgeschichte.
Von besonderem Reiz ist das Indische Brautlied, das allerdings noch nicht wirklich professionell aufgenommen wurde. Überhaupt gibt es keine einzige nicht doch amateurhafte (oder gar gute) Aufnahme auch nur irgendeines Werkes von Annette von Droste-Hülshoff. Man fasst sich an den Kopf.
Das Indische Brautlied basiert auf einen (exotischen) Text von Oskar Ludwig Bernhard Wolff (1799–1851). Eigentlich vorspiellos singt man in (exotischen) Worten hinan: »Nahandowah, schöne Nahandowah! Horch! Es ruft der Vogel der Nacht.« Dazwischen erklingt im Klavier ein ausnotiertes C-Dur-Arpeggio mit anschließender harmonischer Verklärung des Ganzen (Aufsplittung eines ganzverminderten Septakkordes). Der Gestus des Liedes beruht nicht auf einer »Abarbeitung« des Textes im Zusammenwirken mit leiernden melodischen Einlassungen. Vielmehr fühlt sich das Lied nach tiefster Romantik, nach großer Sehnsucht an. Nach Sehnsucht in der Oper! ¶