In meinem Alltag begegne ich immer wieder einem Typ Mensch, für den ich Mitleid empfinde und dessen Einsamkeit und Alter mich traurig stimmen. Er sitzt alleine auf der Bank in der Sonne, führt langsam den alten Hund aus und im Supermarkt merkt man, wie schwer es fällt, nur noch für eine Person einzukaufen. Auch wenn mir die leere Betthälfte, der verwaiste Stuhl am Küchentisch und die Erinnerungsfotos auf der Anrichte verborgen bleiben: Am präsentesten ist nicht, was ich sehe, sondern was ich nicht sehe: die Lücke, der leere Raum, den eine vertraute Person nicht mehr ausfüllt. Den Machern des Animationsfilms Up! gelingt es, gemeinsam mit der Musik von Georges Bizet meinen Blick auf diese Menschen zu verwandeln.
Ellie und Carl Fredricksen lernen sich bereits als Kinder kennen. Das Paar verbindet seine Neugierde, die Sehnsucht nach Abenteuer und der Traum, einmal in Südamerika die Paradiesfälle zu sehen. Wie das Leben so spielt, bleibt dieser Traum bis ins Alter hinein unerfüllt. Als der inzwischen verrentete Carl versucht, sich und seiner geliebten Ellie doch noch den gemeinsamen Traum zu erfüllen und Flugtickets nach Südamerika bucht, ist es schon zu spät. Seine Frau verstirbt, noch bevor sie gemeinsam die Reise antreten können.
Mit dem ersten Akt des Films Up! ist den Machern ein Kleinod gelungen: In gut 10 Minuten erzählen sie die Geschichte eines Paares mit allen Höhen und Tiefen. Die einzelnen Bilder zeigen dabei die vielen Details, die das gemeinsame Leben ausmachen: von den alltäglichen Glücksmomenten, den großen Festen, den kleinen Gesten der Liebe bis hin zur Trauer um ein verlorenes Kind und die Einsamkeit nach der Beerdigung. Ein Leben animiert in liebevollen und gut durchkomponierten Bildern, begleitet von seichter Klaviermusik.
Umso abrupter wirkt der Start des zweiten Aktes. Das Klingeln des Weckers reißt Carl aus seinem Schlaf. Mit den Bildern des gemeinsamen Lebens im Hinterkopf ist das, was nun kommt, schmerzhaft anzuschauen. Carls Alltag als Witwer ist geprägt von Einsamkeit, Erinnerungen an seine Frau und den Beschwerden des Alters: Es fällt schwer, aus dem Bett aufzustehen, der Treppenlift klemmt und die Erinnerungen an seine Frau sind allgegenwärtig.
Dieser Alltag wird begleitet von einer instrumentalen Version der Habanera aus Bizets Oper Carmen.
Diese Melodie ist verbunden mit dem Bild der unabhängigen und selbstbewussten Zigeunerin Carmen, die über einen Platz in Sevilla schreitet und mit der Arie ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Avancen der umherstehenden Soldaten zum Ausdruck bringt. Es ist die Hymne einer stolzen Frau: »Die Liebe ist ein wilder Vogel, den kein Mensch jemals zähmen kann …«
Mit der Wahl dieser Musik bewegen sich die Regisseure scharf an der Grenze zur Komik, übertreten diese jedoch auf wundersame Weise nicht. Es ist die Tonspur, die es geschafft hat meinen Blick auf Carl und seine Altersgenossen in meinem Alltag zu verändern. Musikalisch wird eine Ebene erzählt, die in den Bildern allein nicht sichtbar wird: Die Perspektive von Carl. Unter der alten und gebrechlichen Oberfläche schimmert ein Stolz hervor, der sich nicht zuletzt aus der gemeinsam erlebten Zeit mit und der Liebe zu seiner Frau speist und der es ihm erlaubt, für sich, seine Interessen und seine Träume einzustehen.
Es sind die letzten Orchesterakkorde, in denen der Film dies noch einmal plakativ hervorhebt. In der Oper ist dies die Stelle, an der Carmen dem Soldaten Don José eine Blume mitten ins Gesicht wirft. Im Film zoomt die Kamera aus dem Bild heraus und man sieht Carl auf der Veranda seines Häuschens sitzen. Um ihn herum das geschäftige Treiben einer Großbaustelle. Nur er hat sich der Gentrifizierung bisher widersetzt.
Ohne das Alter, die Melancholie und Traurigkeit zu übergehen, enthüllen Musik und Bilder in diesen vierzig Sekunden eine innere Eleganz, eine Standfestigkeit und Wehrbarkeit gegenüber der Welt. Mitleid ist hier fehl am Platz. ¶