Yuval Sharon ist Gründer und Künstlerischer Leiter von The Industry in Los Angeles, einer Theatergruppe spezialisiert auf experimentelle Oper. Im Februar 2014 erarbeiteten Sharon und The Industry zusammen mit dem Komponisten Christopher Cerrone und dem Choreographen Danielle Agami eine Bühnenadaption von Italo Calvinos Buch Invisible City. Die Produktion fand an historischer Stätte, der Union Station in Los Angeles, statt und war unter den Finalisten für den Pulitzer Prize for Music. Seit der Spielzeit 2016/17 ist Sharon für drei Jahre Künstlerischer Partner beim Los Angeles Philharmonic Orchestra. Seine erste Arbeit war dabei die Klanginstallation Nimbus, eine Kollaboration mit dem Komponisten Rand Steiger. Für seine Inszenierung der Oper Doctor Atomic von John Adams in Karlsruhe erhielt er 2014 den Götz-Friedrich-Preis für Opernregie. An der Wiener Staatsoper brachte er 2016 Drei Schwestern von Péter Eötvös heraus. Mitte Dezember 2016 feierte seine Inszenierung von Wagners Die Walküre in Karlsruhe Premiere. Nach der Absage von Alvis Hermanis wurde Sharon mit der Neuinszenierung des Lohengrin bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen betraut.

VAN: Gibt es ein übergeordnetes Thema, das die Arbeiten von The Industry verbindet?
Yuval Sharon: Es gibt nicht das eine Thema. Wir arbeiten nicht wirklich zielorientiert, sondern eher am Prozess: Wir untersuchen die Vielfalt dieser sehr labilen Kunstform Oper von verschiedenen Seiten und lassen uns dabei in Richtungen tragen, die wir nicht erwartet hätten. Oper ist für uns ein Gebilde, das auf seine Umwelt reagiert, auf die umgebende Zeit, die Gemeinschaft. Wenn es ein allumfassendes Ziel unserer Arbeit gibt, dann wäre es: die Definition von Oper und ihrer Rolle in der Gesellschaft zu erweitern. In Los Angeles bedeutet dies, zu erforschen, wie Oper Teil des Stadtgefüges werden kann, in dem der Alltag bereits so surreal und künstlerisch ist.

In einem Interview mit newclassic.la hast du davon erzählt, wie du als Teenager mit deinem Vater in die Oper gegangen bist. Während du es auf der einen Seite genossen hast, kam es dir gleichzeitig vor wie ein ›merkwürdiges, überholtes Ritual, das zu weit entfernt schien, um eine direkte emotionale Wirkung zu entfalten.‹ Wie stellst du sicher, dass deine eigenen Arbeiten sich nicht veraltet anfühlen?
Ich sehe da besonders in neuen Werken ein großes Potential. Die gängige Meinung ist ja, dass neue Stücke eher für die Insider sind, die Oper bereits lieben und das Ältere, Bekannte kennen. Ich glaube aber, dass es genau andersherum ist: Um neue Hörer und neues Leben in die Oper zu bringen, sollten wir uns auf neue Werke konzentrieren und nach Dingen Ausschau halten, die bereits zu unserer Gesellschaft sprechen, mithilfe der Werkzeuge der Welt um uns herum, zum Beispiel ihrer Technologie.
Im Ankündigungstext zu deiner Residency beim L.A. Philharmonic beschreibst du deine Vision für The Industry. Du sprichst davon, dass Tradition und Innovation in einen ständigen Austausch miteinander gesetzt werden sollten. Wie passt das zusammen mit deiner Inszenierung von Wagners Die Walküre in Karlsruhe?
Das fühlte sich ganz natürlich für mich an, weil die Wagnersche Idee des Gesamtkunstwerks sehr nah dran an meiner Arbeit mit The Industry ist: die Erkundung von Oper als Treffpunkt aller verschiedenen Kunstformen. Ein Element von Wagners Idee von Theater ist auch der Einbezug von Technologie. Im Karlsruher Projekt hatten wir eine Menge davon, um die Erzählung der Geschichte zu unterstützen, zum Beispiel Live-Videos, Klangverstärkung und die Nutzung verschiedener Medien.

Deine Arbeit Hopscotch ist inspiriert von Julio Cortázars gleichnamigen Buch (deutscher Titel ›Rayuela‹, d. Red.). Was genau hat dich daran inspiriert?
Was ich an dem Buch liebe ist ihre Nonlinearität. Es ist eine Sammlung von Kapiteln, die in ganz unterschiedlicher Reihenfolge gelesen werden können. Cortázar selbst schlägt zwei Lesarten vor: eine lineare von Kapitel zu Kapitel, und eine, die in der Geschichte hin und her springt. Ich mochte dies als formale Idee. Sie passte für mich auch sehr gut zu der Erfahrung, durch eine Stadt zu fahren. Auch wenn der Weg von einer Gegend oder einer Straße zur nächsten eine lineare räumliche Beziehung ist, fühlt sich die tatsächliche Erfahrung ziemlich ungeordnet und vielschichtig an. Wenn man in L.A. von einem Viertel zum nächsten geht, bewegt man sich oft zwischen verschiedenen Welten. Die ursprüngliche Idee war es, Cortázars Buch zu adaptieren, aber wir haben dafür nicht die Rechte bekommen. Also haben wir die formale Idee übernommen und eine Geschichte entwickelt, die sich auf die Gegenden bezog, durch die wir fuhren, die Gemeinschaften mit denen wir uns auseinandersetzten und Zeit und Raum, in denen das Stück stattfand.
Nach welchen Kriterien hast du die Orte ausgewählt, an denen Hopscotch stattfand?
Das ist organisch gewachsen. Unser Production Designer Jason Thompson und ich fuhren in der Innenstadt von L.A. herum und stellten uns das theatralische Potential verschiedener Orte und deren Verbindungswege vor. Welche Straßen würden die L.A.-Erfahrung am besten spiegeln? Wir wählten dabei nicht nur die ›schönsten‹ Straßen, sondern auch ganz gewöhnliche. Manchmal gelangten wir an Plätze, die wirklich außergewöhnlich waren. Bis wenige Wochen vor der Premiere tüftelten wir immer noch an den Routen herum. ›Wenn wir hier nach rechts abbiegen und anschließend nach links, habe wir eine viel schönere Aussicht‹, oder ›Wir sind auf dem Weg in ein großartiges Theater, warum konzipieren wir für den Weg dorthin nicht eine ganz gewöhnliche Strecke‹. Diesen Kontrast zu finden, darum ging es bei der geographischen Komposition des Ganzen. Die Zuschauer würden es auf verschiedene Weise erfahren. Auf der ›Roten Route‹ gab es zum Beispiel einen Ort in einem Park. Entweder man ging von dort zu einem Auto mit abgedunkelten Scheiben, oder andersherum. Die Erfahrung unterschied sich fundamental, von einem sonnigen, schönen Ort im Freien in eine abgedunkelte Kluft zu gelangen, oder von dort in den offenen Park herauszutreten.
Es geht also wesentlich stärker um die Erfahrungen der Zuschauer statt didaktisch zu sagen: ›Darum geht’s‹?
Genau. In dieser Hinsicht fühle ich mich der Literaturtheorie von Roland Barthes und Calvino, dem Autor von »Invisible Cities« (deutscher Titel ›Die unsichtbaren Städte‹, d.Red.) sehr verbunden. Es gibt diese großartige Zeile, die Chris Cerrone, der Komponist von Invisible Cities, aus dem Buch übernommen hat: ›Nicht die Stimme ist es, die der Erzählung gebietet: Es ist das Ohr‹. Ich habe schon immer die Idee gemocht, dass der Geschichtenerzähler nur eine Reihe von Hinweisen und Wegweisern zur Verfügung stellt, und es dann am Leser liegt, daraus Sinn zu schöpfen. Als Erzähler kann ich Assonanzen aus Farben, Idee und Symbolen herstellen, die einen Pfad legen, auf dem Zuschauer eingeladen sind, zu wandern. Ich glaube, das ist die Art von Erfahrung, nach der ich mich wirklich sehne.

Invisible Cities feierte im Oktober 2013 Premiere und hat seitdem viel Feedback bekommen. Gab es Reaktionen, die dich überrascht haben oder die unerwartet waren?
Ja. Wenn du so viel offenlässt, überrascht es dich permanent, was Zuschauer darüber zu sagen haben und wie sie es aufnehmen. Es gab viele Reaktionen und Ideen, die ganz anders waren als das, was ich intendiert hatte. Aber genau darum ging es ja! Jeder Zuschauer bei Invisible City oder Hopscotch hat seine eigene Erzählung vom Stück, die letztlich viel interessanter ist als all das, was ich mir alleine hätte ausdenken können. Oft wollen wir, dass ein Regisseur oder Autor eines Projekts sich darauf beschränkt, deinen Fokus eng zu stellen oder dir nur eine Botschaft mitzuteilen. Das schöpft aber nicht aus, worum es in der Kunst eigentlich geht: Ambiguität, Offenheit, einen Möglichkeitsraum.
Welche Projekte stehen als nächstes an für The Industry?
Wir verstehen Oper als etwas durchlässiges, das auf seine Umwelt eingeht. Und es passieren im Moment eine Menge Dinge in der Welt, auf die sie reagieren sollte. Es herrschen düstere Zeiten, und die nächsten Projekte beschäftigen sich mit den Ängsten, die viele von uns aufgrund der jüngsten politischen Ereignisse umtreiben. Ich bin gespannt auf dieses Jahr, weil wir die Gelegenheit haben, mitzuteilen, warum Kunst immer noch eine Bedeutung hat in der ›postfaktischen Fake-News-Welt‹, nicht nur Oper. Wo fügt sich Kunst allgemein ein? Alle Projekte, die wir gerade planen, sind provokante Antworten auf das, was um uns herum passiert. Für mich persönlich ist es aufregend, weil ich mich als Teil einer kleinen Organisation nicht so sehr darum sorgen muss, dass ich bestimmte Leute einer bestimmten demographischen Gruppe verärgern könnte. Ich muss nicht neutral sein, ich sollte es nicht.
Die Menschen sehen Künstlerinnen und Künstler als Vordenker. In einer Organisation, die künstlergeführt ist, können wir angstfrei das Wort ergreifen. Ich hoffe, dass man die Projekte, die wir vorhaben, als mutige Kritik an den derzeitigen Ereignissen erkennt.
Glaubst du, es könnte neben eher reaktiven Stücken auch Raum für etwas geben, wo davon geträumt wird, was sein könnte? Ein Projekt zum Beispiel, das in eine Zukunft blickt, die nicht so postapokalyptisch ist, wie das, was wir schon so oft gesehen haben?
Für mich enthält jedes Kunstwerk Hoffnung. Es gibt Hoffnung sogar im dunkelsten, bedrückendsten Stück – sofern es gut ist. Darin erhält ein menschlicher Ausdruck eine Stimme. Ich finde nicht, dass die Stücke, die wir machen, apokalyptisch sind, ich finde sie konkret, direkt. Aber ich gebe dir auch Recht – wenn man ein Stück entwickelt, dann versucht man auch eine Zukunft in den Blick zu nehmen, um Bausteine für die Zukunft zu gestalten, die wir alle schaffen wollen. Für mich ist der Weg dahin, Stücke zu machen, die auf die Besonderheiten einer Gemeinschaft reagieren und diese Gemeinschaft zusammenbringen.
Die darstellenden Künste sind immer noch wichtig, als Erfahrung, die auf Gemeinschaft basiert, bezogen auf die Zeit und den Ort, an dem sie geschaffen werden. Diese Sichtweise anzunehmen, zu sagen: Darin liegt Kraft, und die Sachen, die uns zusammenbringen helfen uns durch diese so dunklen Zeiten, das ist immer noch eine nützliche Botschaft.
Aber klar, ich will nicht kommen und sagen: ›Die Zeiten sind so düster, also lasst uns alle noch mehr runterziehen, indem wir nur düstere Kunst machen.‹ Aber auch einen Tagtraum falscher Hoffnung zu erschaffen, ist kontraproduktiv. Man muss die Balance finden, und ich glaube, wir erkunden das sehr umsichtig.

Wenn du davon sprichst, Gemeinschaften zusammenzubringen, meinst du damit auch konkrete lokal verortete oder politische Gemeinschaften in L.A.?
Ich glaube, wenn man etwas auf nationaler Ebene ansprechen möchte, dann muss man extrem spezifisch auf lokaler Ebene sein. Das Gleiche gilt für politisches Handeln, denk‘ global, handle lokal. Wenn der Ausdruck stimmig ist, dann funktioniert er auch im globalen Maßstab. Ich weiß, dass die Menschen, die unsere Vorführungen sehen, von hier kommen. Klar, es reisen auch Leute von außerhalb an, was ich super finde, aber für die mache ich die Stücke nicht, die entstehen für diese Umgebung hier, diese Gemeinschaft von Leuten. Eines der Projekte dieses Jahres wird sich mit den Gemeinden von San Pedro und am Harbor Gateway auseinandersetzen. Wir werden schauen, was das Spezielle an diesen Gemeinschaften ist und sie zum Leben erwecken.
Ich wollte noch eine Sache zu Deutschland sagen, da VAN ja in Deutschland beheimatet ist. Dort ist es sehr schwer für unabhängige Künstlerinnen und Künstler, eigene Organisationen zu gründen, vielleicht ist es für Choreografen normaler, aber in der Oper ist es sehr schwierig. Ich habe gerade in Deutschland gearbeitet, irgendwie verstehen sie dort das Konzept unabhängiger, nicht-geförderter Produktionsgesellschaften nicht so gut. Ich bin sehr dankbar, als amerikanischer Künstler, dafür, dass unsere Arbeit diesen unternehmerischen Aspekt haben darf. So lange ich Arbeit reinstecke und rausfinde, wie ich es finanziere und produziere, gibt es nichts, was mich von irgendetwas abhalten kann. In Wirklichkeit sind da sogar ziemlich viele Anreize für mich damit verbunden.
Dies macht eine Institution wie The Industry in einer Stadt wie L.A. möglich, in anderen europäischen Städten aber nicht. Obwohl der Staat dort soviel Kunstproduktion bezuschusst, ist hier in den USA bei diesem freien Schaffen, den freien Aufführungen, eine Menge Potenzial. ¶