Bayreuth 2020, das merken wir jetzt, war für viele so etwas wie eine Corona-Landmarke: Man hoffte, war sich vielleicht irgendwie insgeheim sicher, dass es bis dahin vorbei sein würde. Monatelang zu Hause, und dann ab auf den Hügel. Sektchen in der Sonne und gemeinsam über die überwundene Isolation lachen, dazu brennende Burgen, Drachen, Zauberschwerter – endlich Normalität. Aber diese Hoffnung ist zerplatzt, Bayreuth findet zum ersten Mal seit der Nachkriegspremiere 1951 nicht statt. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die 100. Salzburger Festspiele abgesagt werden. Diese Orte, Salzburg, Bayreuth, sind Bastionen des kulturbürgerlichen Lebens, sogar im Krieg hielten sich die Einflussreichen an ihnen fest und dachten nicht im Entferntesten daran, sie auszusetzen. Es sind Landmarken, die nun fallen, in Zeiten der Viruspandemie.Die Altistin Wiebke Lehmkuhl singt seit 2016 jedes Jahr im Festspielhaus Rollen wie die Stimme aus der Höhe im Parsifal, die erste Norne oder Floßhilde im Ring. Dieses Jahr wäre es ihre erste Bayreuth-Erda gewesen und ihr Rollendebüt als Waltraute. Statt zu üben und sich innerlich auf die neue Inszenierung vorzubereiten, hat sie in den vergangenen Wochen nun aber im Garten gewerkelt, am Mittwoch schickt sie ein stolzes Foto von gestapelten Steinen in der Sonne vor einem geöffneten Eisentörchen. Zum Telefonieren hat sie trotzdem Zeit.

VAN: Wie ist es für dich, jetzt zum ersten Mal seit vier Jahren nicht in Bayreuth zu singen?

Wiebke Lehmkuhl: Momentan lebe ich noch von einem Tag auf den anderen und versuche, nicht so viel darüber nachzudenken. Meine Schwiegereltern zum Beispiel haben die doofe Angewohnheit, mich immer zu fragen: ›Und, wann musst du wieder weg?‹ Das versuche ich ihnen schon lange abzugewöhnen, weil es mir das Gefühl gibt, immer auf dem Sprung und nicht richtig zu Hause zu sein. Jetzt wird mir aber bewusst, dass es ein sehr langer Zeitraum sein wird, in dem ich nicht weiß, wann ich wieder los muss. Das ist einerseits entspannend, denn jetzt haben andere Dinge Platz, die mir auch sehr wichtig sind, aber andererseits ist es total beängstigend.

Was daran macht dir Angst?

Diese Struktur, das Singen und das Auftreten, Projekte vorbereiten und ausführen, Musik machen, ist schon zentral in meinem Leben. Die Finanzen sind das Eine, das Andere ist, dass man sich fragt: Wo ist der Sinn? Wer bin ich? Was mache ich eigentlich? Man definiert sich ja schon über sein Tun und seinen Beruf, und mein Beruf ist für mich etwas total Erfüllendes. Hier geht es ja auch darum sich kreativ auszudrücken.

Viele Künstler*innen finden vor diesem Hintergrund, das sei gerade die beste Zeit dafür – also beispielsweise zum Üben in Ruhe oder dafür, Konzerte selbst zu streamen.

Ja, manche stürzen sich jetzt voll rein, lernen neue Lieder und machen Sachen. Für mich ist das Publikum als Adressat aber sehr wichtig. Üben ist für mich eher ein technischer Vorgang und kein künstlerischer. Die Musik und das, was mich daran erfüllt, passiert im Konzert. Online Konzerte zu übertragen ist nicht das Eigentliche, ich empfinde das als Krücke. Außerdem ist es gesellschaftlich gar nicht etabliert, dass man Geld dafür ausgibt. Ich jedenfalls habe erst einmal mein Amazon Prime gekündigt – total antizyklisch, ich weiß. Aber ich will da nichts mehr bestellen.

Wie geht es dir generell gerade?

Es ist ambivalent. Hier in Oldenburg ist die Krise sehr fern.  Es ist wahnsinnig schönes Wetter und wir bauen an unserem Haus. Es gibt Hundert Dinge, in die ich mich stürzen kann – ich pflastere gerade einen Weg, sprühe die Gartenmöbel an, habe ein Hochbeet gebaut. Eine gute Ablenkung. Auf der anderen Seite steht die große Unsicherheit, wie es jetzt weitergehen soll.

Für dich ist nicht ja nur Bayreuth ausgefallen, sondern mit der Ring-Inszenierung in Paris unter Regie von Calixto Bieito noch ein weiteres Großprojekt.

2020 war sehr voll in meinem Kalender. Die Salzburger Mozartwoche wollte ich deshalb erst nicht annehmen. Aber irgendwie konnte ich dieses Mozart-Händel-Projekt auch nicht nicht machen. ›Man weiß ja nie, was noch passiert dieses Jahr…‹, das habe ich damals gesagt! Zumindest diese Schäfchen habe ich ins Trockene gebracht. Jetzt befürchte ich, dass auch die Fortsetzung des Rings in Paris nicht stattfinden wird. Es muss ja auch alles geprobt werden.

In Bayreuth hättest du unter anderem die Erda gesungen, und es wäre dein Rollendebüt der Waltraute in der Götterdämmerung gewesen. Zwei so besondere Rollen.

Eigentlich sollte ursprünglich Christine Goerke die Brünnhilde singen. Auf die Zusammenarbeit mit dieser krassen Sängerin hatte ich mich wahnsinnig gefreut, auch weil das so eine starke Szene ist. Aber um die Meistersinger tut es mir auch weh, das ist wie so ein jährliches Familientreffen …

Wie geht diese ›Familie‹ damit um? Wie machen es die Bayreuth-Sänger*innen untereinander – telefoniert ihr? Skypet ihr?

Alle Welt skypet und  telefoniert – ich stürze mich aber eher in die Sachen draußen und arbeite, weil das so schön den Kopf leer macht. Beim Telefonieren ist man immer bei dem ›C- Thema‹, und das macht mir schlechte Laune. Wir schreiben uns eher Nachrichten und tauschen uns aus. Aber da hat jeder einen anderen Umgang mit. Manche gehen ganz offensiv in die Presse oder Online, ich bin so dazwischen.

Du hast für 3sat auch ein kleines Video aufgenommen … ()

Ja, das fand ich wichtig. Da habe ich die Rheingold-Erda im leeren Theater abgelassen, weil ich das Gefühl hatte, die steckt da so in der Pipeline, die will raus. Aber ich habe auch mit unserem Kirchenmusiker hier in Oldenburg St. Lamberti ein kleines Video aufgenommen. Dvoraks Biblische Lieder, und für Karsamstag machen wir Bachs  Agnus Dei. Er hatte hier zu Bachs Geburtstag einen kleinen Gruß geschickt und hat danach ein riesen Echo aus der Gemeinde bekommen, denn vielen Leuten fehlt der Gang in die Kirche. Seitdem schickt er jeden Tag ein Video, spielt Orgelstücke, steigt auf den Turm, zeigt die Orgel. Ich brauche das irgendwie auch für mich: wenigstens ein bisschen Musik machen und wissen, dass es Menschen gibt, die sich darüber freuen.

Was war deine erste Reaktion, als du die Meldung bekommen hast, dass Bayreuth ausfällt?

Ich glaube es war: ›Ach, krass.‹ Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass Bayreuth einfach so stattfindet kann mit dem neuen Ring und allem, aber gehofft , dass man dort eine kreativere, eine Kompromisslösung findet. Zum Beispiel noch etwas wartet, ob eventuell mit abgespecktem Spielplan und extrem verkürzter Probenzeit oder Streams doch irgendetwas Festpielmäßiges stattfinden kann.

Meinst du, diese Zeit, diese Absage wird die Festspiele verändern?

Ich habe ein bisschen Angst davor, was kommt, wenn wir die Krankheitswelle hinter uns haben – denn dann kommt eine Finanzkrisenwelle auf uns zu und das betrifft den Kultursektor auch. Da denken immer alle, da kann man am ehesten dran sparen. Die Optimisten unter den Kollegen sagen, die Menschen werden nach dieser Zeit kulturell ausgehungert sein und es blüht alles extrem auf. Aber ich habe Angst, dass alle ein bisschen pragmatischer werden und diese Angst vor Ansteckung durch andere Leute nicht mehr weggeht. Es wird uns gerade so sehr eingeimpft, dass es eine Gefahr darstellt, mit Menschen auf engem Raum zusammen zu sein. Auch diesen Spießrutenlauf draußen – da kommt ein anderer Mensch, ich wechsele die Straßenseite – finde ich gruselig. Davon muss sich die Gesellschaft erst einmal erholen.

Was glaubst du, wie gehen wir daraus hervor?

Ich habe schon immer gewitzelt, dass Erda ja eigentlich immer alles weiß – (singt) ›wie alles war – weiß ich; wie alles wird, wie alles sein wird, seh’ ich auch.‹ Aber nein, leider sehe ich es nicht. Vielleicht kann man aber aus ihren Worten ein bisschen Hoffnung ziehen: ›Alles, was ist, endet.‹ Auch Corona. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.