Um sich gegen den Lärm zu behaupten, singen Vögel in der Stadt lauter als in der freien Natur. Im Moment müssen sie sich dafür gar nicht anstrengen: Der Corona-Shutdown hat auch den Geräuschpegel der Stadt heruntergedreht, umso lauter dringt das Frühlingsgezwitscher der Vögel durch. Arnulf Conradi genießt dieses musikalische Live-Erlebnis schon seit seiner Kindheit. Der studierte Amerikanist gründete 1994, nach Stationen als Lektor und Geschäftsführer bei claassen und S. Fischer, zusammen mit Siegfried Unseld den Berlin Verlag. 2005, mit 60, gab er die Verlagsleitung ab, eine Entscheidung, die er im Nachhinein immer noch segne, wie er mir erzählt. »Ich war raus aus der Tretmühle, in der ich vorher jahrzehntelang steckte.« Seitdem widmet sich Conradi der Vogelbeobachtung, eine Passion, die ihn begleitet, seit er mit acht ein Fernglas geschenkt bekam. In dem letztes Jahr erschienenen Buch »Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung« (Kunstmann) erzählt er von besonderen Begegnungen mit Vögeln, mit dem Albatros vor South Georgia, einer Brandseeschwalbe auf Sylt oder einem Graureiher im Grunewald. Es ist ein Buch voller Poesie und müheloser Tiefe, in dem Conradi Ornithologie, Zen-Buddhismus, literarische Bezüge und Naturerlebnisse so organisch zusammenfügt, wie es nur ein leidenschaftlich Beteiligter vermag. »Das Erlebnis, den Vogel in seiner Schönheit und Lebendigkeit wahrzunehmen, ist wie eine Senkrechte in der Zeit«, schreibt Conradi. Eine Erfahrung, die für ihn die Vogelbeobachtung mit der buddhistischen Meditation verbindet, die Conradi als Student mit Ende 20 in einer Wohngemeinschaft in Schleswig-Holstein kennenlernte und seitdem praktiziert. Ich erreiche ihn in seinem Haus in der Uckermark. Ein paar vormittägliche Telefontermine sind zuvor gescheitert, weil er noch nicht von seinem Beobachtungs-Spaziergang zurück war.

Arnulf Conradi • Foto © AC Ernst
Arnulf Conradi • Foto © AC Ernst

VAN: Herr Conradi, welche Vögel haben Sie heute auf Ihrem Spaziergang gesehen?

Arnulf Conradi: Schellenten, Reiherenten und ganz viele Stockenten, aber wilde, keine Parkenten. Die kommen aus dem Norden oder aus Russland, wo sie gejagt werden, weshalb sie sehr vorsichtig sind und sofort auffliegen, wenn ich in die Nähe komme. Dann natürlich Gänsesäger, Zwergsäger, viele Blässrallen und einen Wespenbussard mit seinem kleinen Kopf und den runden Flügeln, den sehe ich nicht so oft. Regelmäßig beobachte ich auch Seeadler und Fischadler. Natürlich die Weihen, den Rotmilan, ab und zu auch einen Schwarzmilan… Hier ist jetzt jede Menge los.

Sie beschreiben in Ihrem Buch den Unterschied zwischen zwei Vogelbeobachter-Typen: den ›Traveler‹, der die Welt bereist, um immer mehr neue Vögel zu entdecken, und den ›Patchworker‹, der in seiner heimischen Vogelwelt bleibt. Zu welchem Typ gehören Sie?

Ich bin im Grunde beides. Ich reise, um Vögel zu sehen, aber gehe auch gerne im Grunewald immer denselben Weg ab und höre mit großem Vergnügen, wer gerade da ist. Wenn ich dort still durch die Gegend laufe, am frühen Morgen, dann ist das ein Spaziergang von zwei Stunden, der völlig von Musik erfüllt ist. Da gibt es keine Pause. Immer singt irgendein Vogel, häufig auch fünf oder sechs gleichzeitig. Wenn man sich darauf konzentriert, ist es wie eine meditative Übung. Es bringt das Geschwätz der Gedanken, das sonst immer da ist, zum Schweigen. Ich komme dann ganz erfrischt nach Hause, wie nach einem Bad.

Bei der Meditation dauert es manchmal eine Weile, bis der Kopf ›leer‹ ist von diesem Geschwätz. Wie lange brauchen Sie dafür bei Ihrem Vogelspaziergang?

Das geht ziemlich schnell, wenn man von Anfang an hinhört, ›ach, das ist eine Blaumeise, das eine Kohlmeise, dort singt ein Rotkehlchen, da ist der Kleiber, da eine ganze Schar von Birkenzeisigen.‹ Man muss sich konzentrieren, um die Stimmen rauszuhören. Dann bin ich schnell drin und genieße es sehr.

Im Buddhismus wird zu großes Wissen oft als hinderlich erachtet für den Übenden. Stört das Bestimmen- oder Entdecken-Wollen bei der Vogelbeobachtung das Erleben?

Ganz sicher. Das Wissen-Wollen hat mich auch bei anderen Vogelbeobachtern oft gestört. Viele sind Besserwisser, das scheint in diesem Hobby zu liegen. Die Identifikationssucht, einen Vogel so schnell und sicher wie möglich bestimmen zu wollen, kann dem Naturerlebnis im Wege stehen. Ganz sicher haben die Buddhisten Recht, wenn sie sagen, dass das Glück des Anfangs eben genau darin liegt, dass man noch wenig weiß. Zu viel Routine erstickt die Bereitschaft, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Zum Beispiel die Schönheit des Gesanges zu genießen, statt ihn dafür zu benutzen, den Vogel zu bestimmen.

Seeadler • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)
Seeadler • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)

Das mit dem Anfängergeist lässt sich auch auf die klassische Musik übertragen: Viele Leute glauben, man müsse sich auskennen, um die Musik ›erfahren‹ zu können.

Ich habe seit dreißig Jahren ein Abonnement in der Berliner Philharmonie. Es gehört immer noch zu den schönsten Tagen im Monat, wenn ich dorthin gehe und die Musik hören kann. Natürlich hilft ein gewisses Vorwissen über den Komponisten und über die Musik beim Genuss. Das ist bei der Vogelbeobachtung auch so. Aber es darf eben nicht der Unterdrückung dienen, nicht zu einer Routine führen, die es einem dann nicht mehr erlaubt, den Gesang der Vögel oder die Musik der Philharmoniker zu genießen. Es ist wirklich sehr schwer, einen Mittelweg zu finden.

Der ›Mittlere Weg‹ ist ja auch ein zentrales buddhistisches Konzept. Braucht es dafür einen besonderen ›Geist‹, die Bereitschaft, im scheinbar Bekannten, tausendmal Gehörten oder Gesehenen immer wieder Neues entdecken zu wollen?

Ja, ich halte das sogar für eine entscheidende Voraussetzung für die Vogelbeobachtung. Dass man sich immer wieder vor Augen führt, wie schön dieser Vogel ist. Wenn ich die Gänsesäger sehe, die in ihrem schwarz-weißen Prachtkleid in der Sonne auf dem See so strahlend aussehen, dann staune ich immer wieder, auch wenn ich sie schon hundert Mal gesehen habe. Die anfängliche Begeisterung nicht verlieren, sondern sich die Empfänglichkeit bewahren – das ist schwierig, aber es geht.

Viele Vogelbeobachter haben den Wunsch, einen besonderen Moment fotografisch festzuhalten. Wie ist das bei Ihnen?

Ich habe Vögel nie fotografiert, von Anfang an nicht. Mir haben diese Leute immer leidgetan, weil sie etwas in den Apparat verlegen, was eigentlich in ihrem Kopf stattfinden müsste. Sie wollen den Moment auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und verlieren ihn dadurch ganz. Selbst wenn es ein großartiges Foto wird, kann es die Unmittelbarkeit des Erlebnisses, wenn ein Vogel wirklich fliegt, nicht ersetzen. Trotzdem machen es fast alle. Wenn Sie auf einem Kreuzfahrtschiff in der Antarktis sind, rauscht es nur so um Sie herum, weil sich alle einen Apparat vors Auge halten. Im Übrigen kommt man an die großartigen Naturfotografen, die vierzehn Tage in der Kälte ausharren, um ein Foto zu machen, doch sowieso nie ran.

Amsel • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)
Amsel • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)

Führen Sie wie der Schriftsteller Jonathan Franzen eine Liste der Vögel, die sie schon gesehen haben?

Nein, ich führe auch keine Liste. Ich habe sehr sympathische Vogelbeobachter getroffen, vor allem in Nordamerika, die so eine Life List führen. Aber ich mache es nicht.

Was ist das eigentlich Faszinierende an einem Vogel?

Es gibt so vieles. Ich sehe hier gerade Vögel vor meinem Fenster, die ich dort füttere. Diese Lebhaftigkeit und Wachsamkeit ist schon faszinierend. Je mehr wir darüber nachdenken, was wir Menschen in der Natur anrichten, dieser schwere Stiefelschritt der Zivilisation, der immer mehr Naturgebiete erfasst, desto beeindruckender finde ich, dass die Vögel keine Spuren hinterlassen. Wenn man bedenkt, dass, wenn ein Vogel abfliegt, da draußen nur der Zweig ein wenig zittert, und dann ist er weg. Er hinterlässt nichts. Diese Spurlosigkeit gilt als Ideal im Buddhismus. Oft wird sie dem Fisch zugeschrieben. Dass man nicht großes Unheil angerichtet hat, wenn man etwas zurücklässt, sondern leicht hinwegschreitet. Je älter ich werde, desto faszinierender finde ich das.

Sie haben das Thema Naturzerstörung und Klimawandel in ihrem Buch weitgehend ausgeklammert. Warum?

Es gibt genug Bücher, die die Naturzerstörung anklagen, und mit denen sympathisiere ich auch. Aber so ein Buch wollte ich nicht schreiben. Ich wollte die Schönheit der Natur vorführen. Man muss die Natur lieben, um sie erhalten zu wollen. Nur aus Zweckgedanken ist das schwieriger.

Birkenzeisig • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)
Birkenzeisig • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)

Geht Vogelbeobachtung überhaupt zu zweit, oder besser alleine?

Am besten alleine, ehrlich gesagt (lacht). Ich habe einen guten Freund, mit dem ich gerne Vögel beobachte, den Filmemacher Hark Bohm. Den habe ich überhaupt erst über das Vogelbeobachten kennengelernt. Ich hatte für die Zeit einen Artikel über den Ornithologen Johann Friedrich Naumann geschrieben. Danach rief Hark mich an und meinte, er sei gerade in Berlin, ob wir nicht einmal gemeinsam morgens an die Berliner Seen gehen und Nachtigallen beobachten wollten. Das haben wir gemacht und von daher rührt eine wunderschöne Freundschaft. Im Alter lernt man nicht mehr so viele Menschen kennen, die einem nahekommen und die man als Freund bezeichnen würde. Über die Vogelbeobachtung sind wir uns nahegekommen und wir sind jetzt enge Freunde.

Warum geht es besser alleine?

Ich habe versucht, es meinen fünf Kindern nahezubringen. Aber ich bleibe bei der Vogelbeobachtung eben viel stehen, gucke angestrengt durchs Fernglas und rede so vor mich hin. Das finden sie eher merkwürdig. Dann spüre ich diese Ungeduld in anderen Menschen, dass es weitergehen soll, dass sie sich unterhalten wollen. Und da muss ich sagen, da gehe ich lieber alleine, so gerne ich meine Kinder habe.

Im Buch stellen Sie sich – beim Anblick von Flugmanövern – die Frage, ob Vögel auch etwas zum Spaß machen. Dient das Singen nur der Reviermarkierung und Balz, oder gibt es da auch ein spielerisches Element?

Ich glaube ganz stark daran, dass Vögel auch Spaß am Fliegen und am Singen haben. Aber es ist natürlich nicht nachzuweisen. Im Buch erzähle ich von einer Begegnung mit Krähen, die wie auf einem Schlitten ein Dach runterrutschen und dabei rumkrähen vor Freude. Naumann berichtet davon, dass ein Gimpel, der von einem musikalischen Menschen im Käfig gehalten wurde, ein unglaubliches musikalisches Talent entwickelte. Wenn man ihm etwas auf der Geige vorspielte, konnte er es fast fehlerfrei nachsingen. Was heißt denn das? Dieser Vogel, der ganz sicher nicht zu den großen Sängern gehört, singt besser, wenn er etwas imitiert, als in der freien Natur? Wieso hat er ein so musikalisches Gehör? Ist das in allen Vögeln so, oder nur im Gimpel? Das finde ich enorm faszinierend.

Es gibt immer mehr Zugvögel, die hier überwintern. Haben die einen Vorteil in der Revierbesetzung, weil sie schon da sind, gegenüber dem tollen Sänger, der erst später zurückkommt aus dem Süden?

Ja. Uns ist überhaupt erst in den letzten zwanzig Jahren klargeworden, dass der Zwang, im Winter wegzufliegen, bei Zugvögeln lange nicht so tief und fest im Hirn verankert ist, wie man geglaubt hat. In der Uckermark bleiben immer mehr Kraniche den Winter über hier. Die haben natürlich das Risiko, in einem harten Winter unterzugehen. Aber wenn sie hierbleiben, ersparen sie sich den anstrengenden Zug, der auch mit vielen Gefahren verbunden ist. Und sie können sich die besten Nistplätze aussuchen, bevor die anderen zurückkommen.

Nachtigall • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)
Nachtigall • Foto Wikimedia Commons (Public Domain)

›Der Gesang der Amsel übertrifft an Fantasie die menschliche Einbildungskraft‹, meinte der Komponist Olivier Messiaen. Andere halten die Nachtigall für die begabteste Sängerin. Haben Sie einen Geheimtipp?

Ich finde auch, dass Amsel und Nachtigall die schönsten Stimmen haben. Aber es gibt auch andere großartige Sänger, die Dorngrasmücke, den Sumpfrohrsänger. Ich mag den Gesang der Rohrsänger überhaupt sehr gerne, und der Sumpfrohrsänger ist der beste. Naumann hat ihn ›die Nachtigall der Marschgegenden‹ genannt.

Sie schreiben in Ihrem Buch, wie Sie sich als Kind an den Alten Eiderkanal gesetzt und versucht haben, Stimmen und Vögel zuzuordnen. Wie kommt man als Kind dazu?

Das kann ich nur sehr schwer sagen, ich denke darüber manchmal selber nach. Bei Rilke gibt es in der Ersten Elegie diesen Satz über die Gewohnheit, ›der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht‹. Irgendwie ist diese Gewohnheit bei mir gelandet. Und das Komische ist, dass es damals, als ich damit anfing, Anfang der 1950er Jahre in Kiel, weit und breit keinen Vogelbeobachter gab. Weder in der Familie, noch sonst irgendwo. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich etwas machte, was einem Jungen nicht gemäß war. Ich habe das sogar vor meinen beiden Brüdern geheim gehalten. Selbst meiner Mutter, von der ich die Naturliebe, glaube ich, geerbt habe, habe ich es nicht gesagt. Ich habe es betrieben wie ein geheimes Hobby, ein bisschen verschämt. Das ist schon merkwürdig, wie mich das angeflogen und eigentlich mein Leben lang nicht verlassen hat. Es trat etwas zurück in den hektischen Zeiten, in denen ich Verleger war und viel zu tun hatte, viel gereist bin. Aber wann immer ich zwischendurch Zeit hatte, habe ich mir ein Fernglas geliehen und bin zum Beispiel von New York aus raus nach Long Island. Ich habe das Gefühl, es war immer da. ¶


Arnulf Conradi: »Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung«Verlag Antje Kunstmann, München 2019240 Seiten, 20 Euro

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com