»Ich war auf einer Großbaustelle im 19. Jahrhundert und komme als verwirrter Outsider zurück«, schrieb Volker Hagedorn vor kurzem in seiner Kolumne. Die Bauarbeiten sind abgeschlossen, sein Buch ›Der Klang von Paris‹ ist gerade bei Rowohlt erschienen. Verwirrt zurück bleibt jetzt der Leser. Hagedorn lässt uns durch das Schlüsselloch in das Paris des 19. Jahrhunderts blicken, auf das entgrenzte Wachstum einer Millionenmetropole, an den Rändern Elend, in der Mitte die Gentrifizierung, Ort der Revolutionen, der Gaslaternen, der Erfindung der Fotographie, des eisernen Fortschritts, der Utopien und des gärenden Antisemitismus. Die ›Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts‹, die Walter Benjamin in seinem Passagenwerk gut ausgeleuchtet hat. Der Soundtrack dieser Zeit, so Hagedorn, ist dabei lange Zeit Terra incognita geblieben. Also macht er die Musiker zu den Helden seines Buches. Offenbach, Meyerbeer, Wagner, Rossini, Berlioz, Paganini, Chopin, Liszt, sie fassen ihre Gegenwart heroisch in Noten, sind Seismographen, Beobachter, Flaneure, liebend Entflammte, Intriganten – und Inspirationsquellen für all die anderen Künstler, die im Paris dieser Zeit (und auch im Buch) auf- und wieder abtreten. Eine Geniedichte in Zeit und Raum, die wie eine Laune der Geschichte erscheint: George Sand, Heine, Nadar, Victor Hugo, Delacroix, Baudelaire, Balzac, Flaubert … Hagedorn versetzt sie nicht in ein betuliches historisches Puppenkabinett, sondern webt aus Briefen und Memoiren, mithilfe von fiktionalen Nahaufnahmen und sozial-und technikgeschichtlichen Einordnungen eine elegante, spannende, berührende Erzählung dieser Zeit, die er mit Einblendungen aus dem real existierenden Paris anno 2018 an unsere Gegenwart anbindet. Dort spinnt sich Paris beim Leser weiter in immer neuen Kurzschlüssen … diese frühen Fotos von Nadar, wie sahen die eigentlich aus? Kurzer Blick in den Kalender, der letzte Paris-Besuch ist schon viel zu lange her, kommt Chopin in George Sands ›Lukrezia Floriani‹ wirklich so schlecht weg, mal schnell zum CD-Regal und nachhören, ob Berlioz’ Roméo et Juliettes so gut klingt, wie Hagedorn darüber schreibt …

In Deinem Buch erzählst Du vom Paris der Jahre 1821 bis 1867. Wieso diese Zeitspanne?
Mich hat die Atmosphäre interessiert, die ich beim Lesen von Balzac und Flaubert erlebt habe, das Gefühl, dass diese Zeit so etwas wie der Vormittag unserer Epoche ist, eine Modernität, die ich aufregend fand, während mir die deutschen Lande zur selben Zeit etwas verschwiemelt vorkamen. So ist es Heine ja auch gegangen. Fast alle wichtigen Leute waren in dieser Stadt oder kamen immer mal wieder vorbei, haben sich gegenseitig wahrgenommen und inspiriert. Es war ein Kessel mit sehr vielen Kraftquellen, die zu einer kreativen Beschleunigung geführt haben. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass die Musik in der Nachbetrachtung dieser Zeit immer zu kurz kam. In Walter Benjamins Blick auf Paris als „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ ist zum Beispiel unglaublich viel aufeinander bezogen, Politik auf Architektur, Kunst auf Kriminalität … aber das Einzige, was ihn an Meyerbeer interessierte, war, dass er nach seinem Tod in der Gare du Nord aufgebahrt wurde. Berlioz spielte bei ihm überhaupt keine Rolle. Zwischen Kunst, Literatur und Politik ist Musik im Paris der Epoche auf kuriose Weise eine terra incognita geworden.
Woran liegt das?
Den deutschen Blick, der das musikalische 19. Jahrhundert als eine weitgehend deutschsprachige Angelegenheit wahrnimmt, kann man in Teilen schon mit Wagner erklären, der seine Paris-Geschichte weitgehend umgeschrieben hat. Es gibt auch so einen Wahnsinnsspruch von Arnold Schönberg, der 1921 meinte, mit der Zwölftonmusik habe er die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten 100 Jahre gesichert. Dieses Denken findet man sogar schon im 18. Jahrhundert. Ich glaube schon, dass sich das auch darauf ausgewirkt hat, wie begrenzt man hier hört oder gehört hat. Die Debussy-Rezeption ging zum Beispiel erst sehr spät los, man hat ihm tatsächlich lange übelgenommen, dass er sich im Ersten Weltkrieg sehr abwertend über die Deutschen geäußert hat. Zuerst war er ›No Go‹, dann irgendwie so ein Wellness Bad mit ganz viel Pedal und nur Clair de lune. Jetzt, gut 100 Jahre nach seinem Tod, begreift man seine vollkommen autarke Modernität und Präzision. Bei jemandem wie Fauré gibt es immer noch eine bizarre Reaktion, so im Sinne von ›auch ganz nett‹, aber ›the real stuff‹, das ist die deutsche Linie mit der motivischen Arbeit und dem Materialfortschritt.
![Photographie von Hector Berlioz zu Beginn der 1860er Jahre von Nadar. [Public Domain]](https://van-magazin.de/wp-content/uploads/2019/02/felixnada-1550663024-75.jpg)
Der heimliche Held Deines Buches ist Berlioz. Ist er Dir besonders nahe?
Berlioz kommt jedem nah, der länger seine Briefe liest, weil er einfach ein heißes Herz hatte, aber die Idee zum Buch setzte nicht gleich bei ihm an. Ich fand es dann sinnvoll, mit jemanden anzufangen, der Paris auch nicht kennt, sondern anreist aus der Provinz. Berlioz war mit achtzehn ein relativ ahnungsloser Typ, wie wir auch.
Wagner kommt hingegen nicht so gut weg.
Das wird er verkraften. Ich bin ihm fast dankbar. Ich mag so viele von diesen Leuten, die im Buch vorkommen, dass man fast so jemanden wie Wagner erfinden müsste, damit man einen fiesen Typen hat. Wobei er auch nicht von Anfang an fies ist, das kommt erst noch. (lacht)
Wagner hat seinen Paris-Aufenthalt später als große Enttäuschung dargestellt, aus der sich seine Ablehnung des französischen Opernbetriebs und auch sein Antisemitismus speiste.
Das gehörte zum Image, das er von sich selbst verbreitet hat. Mich hat dann sehr überrascht, wie viel mit ihm und für ihn eigentlich in Paris passiert ist. Das hat mein Wagnerbild differenziert. Nach meinem Eindruck hatte er dort sein kreatives Coming Out. Im Fliegenden Holländer, wenn am Anfang das Schiff im Sturmgetöse an die Küste kommt, kann man hören, wie jemand zu sich selbst durchbricht. Aber da er nie jemandem verziehen hat, dem er etwas schuldig war, offenbar auch keiner Stadt, hat er aus Paris eine Horrorstory gemacht. Nietzsche meinte, es sei ein riesiges Missverständnis mit Wagner, der sei überhaupt kein deutscher Künstler, sondern eigentlich ein französischer und ohne Paris undenkbar. Nur wollte Wagner das selber überhaupt nicht so sehen.

Gibt es neben dem Holländer noch andere Stücke, die Du durch die Beschäftigung mit der Zeit jetzt anders hörst?
Zu Liszts Totentanz gibt es eine Erzählung aus seinem Umfeld, dass er während der Cholera-Epidemie 1832 nachts wie ein Wahnsinniger über diesen Dies-Irae-Hymnus improvisiert hat. Wenn es um das Morbide oder die Todesfaszination im 19. Jahrhundert geht, wird immer auf Gothic Novel und schwarze Romantik verwiesen. Von den beiden großen Cholera-Epidemien, bei denen in Paris jeweils innerhalb eines halben Jahres 18.000, 19.000 Menschen starben, ist fast nie die Rede. Diese Musiker waren fast alle mittendrin. Da brauche ich ehrlich gesagt keine Gothic-Novel-Rezeptionsgeschichte, um mir zu erklären, warum Liszt diesen Hymnus so interessant fand, abgesehen davon, dass er ihn aus Berlioz’ Symphonie fantastique kannte.
Gerade bei der Symphonie fantastique habe ich beim Lesen den merkwürdigen Kontrast erlebt zwischen den biographischen und zeitgeschichtlichen Umständen, unter denen Berlioz sie komponiert hat, und dem zeitlosen ›Gassenhauer‹, zu dem das Stück seitdem geworden ist.
Beim ›Gang zum Richtplatz‹ stellt man sich heute oft eine Schauergeschichte vor, es ist ja ein komponierter Albtraum. Aber dieses Schafott war Alltag, das stand auf der Place de Grève mitten in der Stadt, wo mittlerweile im Sommer ein Karussell steht, und nicht nur Berlioz hat es gesehen, nicht nur er wusste, dass da sonntags um vier die Hinrichtungen stattfanden und wie das klingt. Wenn man das heute spielt, muss man es ja nicht historisieren und eine Guillotine an die Wand projizieren, aber sich vielleicht bewusst machen, dass Menschen auch damals schockiert davon waren und dagegen angingen, so wie Victor Hugo, der zeitlebens gegen die Todesstrafe gekämpft hat.
Es gibt oft Vorbehalte gegenüber der Biographisierung von Musik, selbst wenn Komponisten sie selbst betrieben haben. Ich finde, Dein Buch ist aber ein gutes Beispiel, wie der Kontext, wenn er lebendig erzählt und angebunden ist, das eigene Hörern erweitert.
Ich finde es schwer, daraus Rezepte abzuleiten. Ich möchte als Zuhörer oder als Musiker nicht erklärt bekommen, ›Du spielst jetzt hier den Zeitgeist von 1830.‹ Aber ich fühle mich auch überhaupt nicht beengt, oder denke, ›ach ja, das ist alles dekodierbar‹, wenn ich mich mit Entstehungsbedingungen von Musik beschäftige. Bei mir wird das Hören dadurch auch eher weiter.

Wie geht es Berlioz 150 Jahre nach seinem Tod?
Einerseits ist einiges in Gang gekommen. Im Jubiläumsjahr wird er sowieso häufiger gespielt. Andererseits setzt sich die alte Polarisierung fort. Es gibt sehr viele Leute, die können mit ihm nichts anfangen, es gibt Sänger, die sagen, es ist nichts für die Stimme; es gibt auch das festsitzende Vorurteil, er sei nur Autodidakt und könne eigentlich gar nicht richtig komponieren, was nun wirklich kompletter Schwachsinn ist. Er hat ein Lehrbuch über Orchestrierung geschrieben, das Richard Strauss noch beeindruckt hat. Aber ich kann schon verstehen, warum Berlioz nicht Mainstream werden kann. Er hat keinen Gesamtstil, bei dem man sich von jeder Seite ins Oeuvre bewegen kann und sofort weiß, ›da bin ich zu Hause‹, so wie bei Bach oder Wagner, drei Töne, und man weiß, wo man ist. Bei Berlioz weiß man es oft nicht so genau, auch formal nicht, weil er so kuriose Mischformen komponiert hat, Symphonie dramatique [Roméo et Juliette], Sachen, die halb für die Bühne, halb fürs Podium geschrieben sind. Das kann schon auch anstrengen. In Les Troyens findet man Abmessungen, mit denen wir nicht mehr klarkommen. Lange Chor- und Ballett-Strecken zum Beispiel, die mit der heutigen Dramaturgie schlecht in den Griff zu kriegen sind, ähnlich wie bei Meyerbeer.
Gibt es eigentlich Versuche, die spektakulären Bühnenaufbauten der Meyerbeer-Opern aus der Zeit ›historisch korrekt‹ zu rekonstruieren?
Nicht, dass ich wüsste, aber das würde mich sehr reizen. Ich würde wirklich gerne mal sehen, wie sie den Propheten gemacht haben. Es wäre eigentlich auch kein Problem, das nachzustellen, weil es in Regiebüchern minutiös aufgezeichnet worden ist. Meyerbeers Musik ist manchmal wirklich fast als Soundtrack konzipiert in Abstimmung mit einer Wahnsinnshow. In der Oper wurden damals die maximalen Illusionsmöglichkeiten aufgefahren, da wurden technische Innovationen zum ersten Mal ausprobiert. Wenn man sich plätten lassen wollte, ging man in die Oper.

Was mir aufgefallen ist: Die Geschichte der Genies ist auch eine der vernachlässigten Kinder.
Ja, absolut. Louis Berlioz hat seinem Vater einmal einen erschütternden Brief geschickt, in dem er schrieb, ›ich fühle, deine Kinder heißen Roméo und Juliette, ich verstehe, dass sie Vorrang haben müssen vor mir, der nichts bedeutet als ein oder zwei Sekunden des Vergessens oder der Nachlässigkeit, und 27 Jahre Last.‹ Sehr bitter, da muss man sich freuen, dass sie am Ende irgendwie wieder zusammengefunden haben. Aber die Kinder von Franz Liszt und Marie d’Agoult sind, glaube ich, allesamt fürs Leben geschädigt worden, so wie sie immer delegiert und irgendwo abgestellt wurden. Dementsprechend hat Cosima ihren Papa in späteren Jahren ja auch behandelt.
Es kommen in Deinem Buch auch sehr selbstbewusste, einflussreiche Frauen vor, wie die Sopranistin Pauline Viardot, George Sand oder Pauline von Metternich. Gab es damals schon einen gesellschaftlichen Diskurs um Gleichstellung?
Sehr wenig, nicht so wie später um 1900, mit dem Kampf um das Wahlrecht für Frauen. Der Komponistin Louise Bertin, die es gewagt hat, sich nicht auf Harfe und Flöte zu beschränken, sondern für ein ganzes Orchester zu komponieren, sogar Opern, wurde vorgehalten, dass sie zwar talentiert sei, aber ›nicht die Kraft‹ für drei Akte habe. Ludwig Börne schrieb in einem Brief, er habe jedes Mal lachen müssen, wenn in ihrem Fausto das große Blech erschallt, wegen des ›virilen Klangs‹. Der männliche Blick auf die Frau ist schon extrem verlogen, das merkt man auch an einer Oper wie Verdis La Traviata: wenn schon eine Kurtisane als Opernheldin, dann muss sie auch sterben. Wenn sie schon lebt, wie sie möchte, muss sie dafür gefälligst auch zahlen. Das ist später bei Manon Lescaut genauso und zieht sich durch die ganze Oper des 19. Jahrhunderts.
Auch der Antisemitismus zieht sich durch Dein Buch, mal gärend, mal offen zu Tage tretend, insbesondere gegenüber Meyerbeer. Gab es Leute, die das im öffentlichen Diskurs problematisiert haben?
Nein, es wurde polemisiert, es gab Publikationen, in denen stand, ›in dieser Stadt sind viel zu viele Juden an wichtigen Stellen, sie nehmen anderen den Platz weg‹, lange vor Wagner. Antisemitismus gegenüber erfolgreichen Künstlern war Meyerbeer vertraut, er ist damit aufgewachsen. Als Pianist wurde er schon früh als ›Judenknabe‹ bezeichnet. Es gibt diesen harten Schluss der Hugenotten, das komponierte Pogrom, in dem Männer, Frauen, Kinder abgeknallt werden. Ich glaube, dass Meyerbeer da durchaus etwas verhandelt hat, was sich nicht nur zwischen Katholiken und Protestanten abspielt.

Wie oft warst Du zur Recherche in Paris?
Sechs, sieben Mal. Ich hatte ursprünglich vor, sehr blauäugig, erst zu sammeln, was ich recherchieren muss, und das dann in zwei Wochen Paris zusammenzufassen. Dabei hätte ich wissen können, wie ich arbeite, dass mich nämlich immer wieder spontan etwas interessiert, woran ich zuvor nicht im Traum gedacht hätte.
Was war der auratischste Ort, dem Du dort begegnet bist?
Die zweite Wohnung, die Berlioz als Student bezogen hat. Da bin ich mit etwas Glück in den Innenhof geraten und war total glücklich, als ich feststellte, dass er noch genauso aussieht wie auf einer Zeichnung, die 1928 wohl noch den alten Zustand zeigt. Dort dann am späten Mittag die Treppe hochzusteigen, hinter den verschlossenen Türen die Küchengeräusche zu hören, da hat sich die Zeitdifferenz für einen Moment aufgelöst. Einen Moment von Auraverlust habe ich dagegen in der Grande Salle des Konservatoriums erlebt, wo Roméo et Juliette und die Symphonie fantastique uraufgeführt wurden. Der Saal muss früher unglaublich gut geklungen haben, heute ist er hässlich zugebaut mit einer knochentrockenen Akustik.
Als wir über Dein Bach-Buch sprachen, hast Du mir von einem Traum erzählt, in dem Du in Heinrich Bachs Wohnung warst. Wem bist Du diesmal begegnet?
Einmal war ich plötzlich mit Chopin in einem Wohnmobil auf der Place de la République, und er arbeitete als Kinderarzt! Am meisten versunken bin ich aber bei dem Versuch, eine von seinen Unterrichtsstunden zu rekonstruieren. Da habe ich gedacht: Mann, bei dem hätte ich gerne Unterricht gehabt. Ich habe mich richtig auf diesen Unterricht gefreut, obwohl ich ihn selber zusammenbasteln musste. Ich bin aus der Stunde gegangen und dachte, ich freue mich schon auf nächste Woche, so ein Mist, dass der tot ist. ¶
