Arno Lücker nähert sich über Umwege Samuel Barbers Knoxville: Summer of 1915.

Text · Titelbild Unbekannt, via Wikimedia Commons (Public domain) · Datum 13.2.2019

2004 wählten die Zuschauer der BBC das Adagio for Strings (1938) von Samuel Barber (1910–1981) zum »traurigsten Musikstück der Welt«. Tatsächlich erklingt das Adagio häufig bei Trauer- und Gedenkanlässen; einstmals bildete es den zweiten Satz von Barbers Streichquartett h-Moll op. 11, wurde dann vom Komponisten selbst für Streichorchester bearbeitet und filmmusikalisch äußerst prominent verwendet, so von Charles Chaplin (The Great Dictator, 1940), David Lynch (The Elephant Man, 1980) und Oliver Stone (Platoon, 1986). Barber komponierte mit seinem Adagio – unabsichtlich – sein One-Hit-Wonder und kaum ein Mensch kennt ein anderes Werk aus seiner Feder, höchstens geigende Kollegen das Konzert für Violine und Orchester op. 14 (1939), um das sich vor allem Gil Shaham seit vielen Jahren bemüht und es immer wieder aufführt. Darüber kann man sich beschweren. Oder erst einmal schauen, ob denn das Adagio wirklich so »traurig« ist…

Samuel Barber • Foto Carl Van Vechten (Public domain)
Samuel Barber • Foto Carl Van Vechten (Public domain)

Tatsächlich ist das Adagio for Strings kein untypisches Werk für Barber. Es ist bittersüß – und doch hymnisch, schmerzvoll – und doch herzerwärmend. Vielleicht ist es das berühmteste »Trost-Werk« der klassischen Musik überhaupt. Ich liebe den Begriff »Trost«. Am Ende meines Studiums beschäftigte ich mich musikphilosophisch mit diesem Wort – und den Möglichkeiten, Musik hinsichtlich ihres Trost-Charakters neu zu betrachten. Natürlich nicht esoterisch. Es kam dafür so weit, dass ich meine Magisterabschlussprüfung bei einem berühmten Professor ablegte – mit eben jenem Begriff im Fokus; es sollte um »Trost bei Theodor W. Adorno« gehen. Ich stieß anfangs auf große Zweifel, ob »Trost« für Adorno denn irgendeine Bedeutung gehabt habe. Am Ende der Prüfung hieß es dann aus berufenem Musikwissenschaftsprofessorenmund: »Dieser Begriff bei Adorno scheint mir sogar ganz zentral zu sein.« Je nun.

Seien wir mal ein bisschen weltlicher: Gibt man bei Youtube »Trost« und »Musik« ein, so trifft man als Erstes auf eine Kompilation, die – fürchtemachend – mit »Musik zum Trösten, Entspannen und Nachdenken« überschrieben ist. Das klingt – wohlgemerkt: noch unangehört – nach »Wohlfühlmusik«, auf die Akademiker mit Niveau fast immer idiosynkratisch reagieren; Musik, wie man sie aus Fahrstühlen in modernen Großhotels, Telefonwarteschleifen oder aus den Spa-Bereichen von Wellness-Oasen kennt. Jeden Tag sterben unzählige Menschen mit gutem Musikgeschmack bei der Massage. Nicht wegen falscher Ausbildung der Massierenden, sondern wegen der dann alles andere als entspannenden Dumpfmusik aus der Retorte.

Hinter dem Link »Musik zum Trösten, Entspannen und Nachdenken« verbirgt sich allerdings nicht Barbers Adagio, aber dafür eine durchaus trostvolle (?) Musik mit Niveau und Geschichte: ein Arrangement für Violine und Streichorchester des berühmten Klavierstücks Träumerei aus den Kinderszenen op. 15 (1838) von Robert Schumann. Leider beweist derjenige, der diese Musik hochgeladen hat, dann doch wenig Geschmack beziehungsweise stellt sich als trostloser Schnitttrottel heraus; die Musik bricht plötzlich einfach ab. Anschließend folgen mehrere Minuten Pause und abschließend – wieder hinten mit abgeschnittenem Ende – Franz Schuberts Ständchen aus dem Liederzyklus Schwanengesang (1828), ebenfalls in einer Bearbeitung für Violine und Streichorchester.

Der englische Vergleichstest – also die einfache Eingabe von »Comfort« und »Music« – führt bei Youtube dann tatsächlich zu einer »Musik«, angesichts derer man eher sterben denn leben und atmen will. Ein Klavier plätschert dahin, als würde Richard Clayderman für erlittenes Unrecht ewig Rache nehmen wollen – und versinkt am Ende jeder Phrase, von geschundenen und getretenen Streichersampleteppichen unterspült im Einheitsbrei jeglichen westlichen Seins zwischen Hotelhandtuchumweltschildern und dem ideellen Wert von Flughafen-Geschenken; eine Musik – in dem besagten Video überdies noch mit Bibelzitaten vor Seekulisse ergänzt: befreit von jeglichem Geschmack, fern jeder Erinnerung an wirklichen Schmerz, bar jeder Sensibilität; eine Musik voller Verdrängung, ohne Anerkennung von Trauer; ein Zustand der, wie wir wissen, bekanntlich psychisch fatale Folgen für einen Menschen haben kann. Nicht Punk und Zwölftonmusik verderben unsere Kinder, sondern eben solche hirnentleerten Plastikprodukte.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kam Barbers Adagio for Strings – angesichts mehr oder weniger kollektiver Trauer – zu weiterem Weltruhm, denn das Werk erklang bei der größten damaligen Gedenkveranstaltung in New York, erreichte also vermutlich mittels der Fernsehübertragung Milliarden Menschen gleichzeitig; weit mehr jedenfalls als bei früheren prominenten Trauerverwendungen dieses Stückes bei den Beerdigungen von John F. Kennedy, Grace Kelly und Albert Einstein. Barber selbst hatte offenbar keine Probleme, auf sein Adagio for Strings reduziert zu werden. 1957 bearbeitete er das Werk sogar für gemischten Chor – mit dem lateinischen Text des Agnus Dei. Aus einem Stück nicht religiöser Musik wurde doch noch ein Werk für den Kirchengebrauch; eine Sakralisierung einer eigentlich als säkular erdachten Musik also.

Nun könnte man meinen, dass »traurige« oder »tröstende« Musik gleichzusetzen wären. Als »traurig« gelten Werke in Moll-Tonarten. Schaut man sich aber als »tröstlich« geltende Werke der Klassik an, so lässt sich schnell feststellen, dass fast alle diese Werke in Dur stehen; so auch Barbers Adagio for Strings, das sich hauptsächlich aus der Kombination von Dur-Akkorden im Zusammenwirken mit unendlich gesponnenen, engschrittigen Melodienlinien zusammensetzt. Außerdem spielen Dissonanzen eine bedeutende Rolle: der erste Ton (a) steht zunächst einsam im Raum, um von einem kleinen d-Moll-Septakkord unterfüttert zu werden. Das a bleibt noch bis zur ersten Achtel des zweiten Taktes in der Oberstimme liegen; gleichzeitig ertönt ein E-Dur-Akkord. Es kommt also zur kurzzeitigen Reibung von a und gis, woraufhin sich das a dann schließlich auch zum gis herabneigt; eine ungewöhnliche Kontextualisierung eines Quartvorhalts. Diese Art, mit »überlappenden Dissonanzen« innerhalb von weit geschwungenen Melodielinien umzugehen, macht den Großteil des »Trostcharakters« dieses Stückes aus.

YouTube video

Barbers Musik erzählt auch sonst von Trost, von Süße – von Erinnerungen; und gibt sich dabei nicht selten geheimnisvoll bis kryptisch. 1969 schreibt Barber den Liedzyklus Despite and Still op. 41. Für das Lied Solitary Hotel verwendet Barber einen Text aus Ulysses von James Joyce, einem Buch also, das ohnehin nicht dafür geschrieben wurde, damit es Menschen verstehen. Ein einsames Hotel im Herbst. Twilight. Eine junge Frau kommt hinein. Unruhig, alleine, sie setzt sich hin… Barber beginnt mit ein paar hereinpurzelnden Terzen im Klavier – und lässt dann den Sänger, dem Text auf naive Weise »entsprechend«, alleine die ersten Worte singen: »Solitary hotel in mountain pass.« Dann erklingt bald ein ganz merkwürdig dahinhuschender Tango zu den darauffolgenden Worten des Sängers. Spielt hier ein einsamer Barpianist in der Ecke der Hotellobby? Und wer ist diese Frau? Dann plötzlich Zeichen des Aufbruchs, der Abfahrt: »Wheels and hoofs. She hurries out.« Ein dramatischer Bruch in der Musik, fast wie bei einem erregten Rezitativ; und nach einem Glissando aufwärts hören wir wieder die Tango-Klänge des Beginns… Niemand weiß, wer diese Frau ist – und wohin sie will. Ein faszinierendes Lied; amerikanische Gelassenheit, Suspense, Drama als Möglichkeit. Bedeutung und Verwirrung in einem. Wie bei Lynch. Nur ohne Angelo Badalamenti.

YouTube video

Auf eine ganz andere Art und Weise bittersüß und kryptisch ist Barbers Knoxville: Summer of 1915 für Gesang und Orchester. Für dieses Stück verwendete Barber den Text aus einer Kurzgeschichte seines fast gleichaltrigen Landsmannes James Agee (1909–1955). Agee wurde im November 1909 in Knoxville, Tennessee geboren. Der Text, den Barber vertont, erschien 1938 – und kam später zu der Ehre, Teil des Romans A Death in the Family zu werden. 1957 erhielt Agee für diesen Roman den Pulitzer-Preis. Für Agee kam die Auszeichnung zu spät. Agee war bereits zwei Jahre zuvor – sicherlich auch aufgrund seines ungesunden Lebensstils (Alkohol und Zigaretten) – im Alter von 45 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben: im Taxi auf dem Weg zu einem Arzttermin.

In seinem etwa fünfzehnminütigen Werk schildert Barber mit musikalischen Mitteln die von Agee vorgegebene Szenerie: Ländlichkeit der Umgebung, Schläfrigkeit der Abendstimmung, Verschrobenheit der Menschen – und dann im Kontrast dazu: Automobile und metallisch quietschende Straßenbahnen. Die literarische Verbindung von Natur und Urbanität schafft Agee durch die durch seine Hand eingeschriebene Lebendigkeit der Dinge; selbst die Straßenbahn schnauft und ächzt – und Bäume erheben Anspruch auf Grundstücke (?). Es ergeben sich assoziative Satzsituationen, bei denen die Zuordnung der Worte teilweise nicht deutlich ist: »It has become that time of evening when people sit on their porches, rocking gently and talking gently and watching the street and the standing up into their sphere of possession of the trees, of birds’ hung havens, hangars.« Agee spielt mit Verstehen und Nicht-Verstehen. Die Abendstimmung, die Gemütlichkeit der Menschen – aber dann? Es steckt Nostalgie, ein wenig Satire und viel Liebe in den Worten Agees – und das bei teilweise mehrdeutiger Syntax. Das wollte ich ins Deutsche übersetzen. Ich weiß nicht, warum. Siehe unten.

Foto CHRISTO DRUMMKOPF (CC BY 2.0)
Foto CHRISTO DRUMMKOPF (CC BY 2.0)

Alles beginnt mit der verschlafenen Schilderung eines Abends – wohl aus der Sicht eines Kindes. Doch wir betrachten keine rein idyllische Postkarte; Agee hatte keine einfache Kindheit: Sein Vater starb bei 1916 einem Autounfall; Agee war sieben Jahre alt. Die Wahl des Jahres 1915 im Titel hat also eine Bedeutung: Hier ist noch alles in Ordnung; hier ist Raum für zunächst – vermeintlich – unschuldige Kontemplation. Denn 1916 bricht alles zusammen.

Als sich Barber und Agee von Angesicht zu Angesicht begegneten, da war nach den ersten angeregten Gesprächen vor allem Barber – fast sein ganzes Leben verbrachte er an der Seite von Gian Carlo Menotti (1911–2007) – von den biographischen »Gemeinsamkeiten« beider beeindruckt: Barber 1938 schrieb das Werk zu einer Zeit der ständigen Sorge um die Gesundheit seines geliebten Vaters. Zwei Männer – Agee und Barber – also gewissermaßen biographisch vereint, in der Trauer und der Sorge um den eigenen Vater.

Knoxville: Summer of 1915 wurde am 9. April 1948 vom Boston Symphony Orchestra unter seinem langjährigen Musikdirektor, dem großen Dirigenten und Kontrabassisten Sergei Kussewizki und der Sopranistin Eleanor Steber aus der Taufe gehoben. Ganz naturbelassen beginnt die Musik zunächst mit einem kleinen Präludium der Bläser. Dann setzen weich die Streicher ein, bereiten der pastoralen Flöte die Bühne. Sogleich folgt der Einsatz der Sängerin. Fast trauermarschartig belasten die schwer zupfenden Kontrabässe – den idyllischen Reigen der Flöte untergrabend – die Atmosphäre. Schnell wird deutlich, dass die wohligen Worte des gesungenen Textes Worte des Rückblicks sind. Ein grauer Schatten liegt über dem Ganzen; Musik gewordene Nostalgie, wie wir sie auch in anderen hierzulande fast vergessenen, wunderschön komponierten Liedern Barbers finden. Es ist ein Wiegen, ein Nachsinnen, ein Gang von Dur zu Moll – und zurück. Musik, die ausdrückt, wie das Leben ist: Selten ganz schlimm, selten aber auch ganz frei von Sorgen.

Was der kurz bevorstehende Brexit für britische und europäische Orchester bedeuten wird, klären Hannah Schmidt und das Chamber Orchestra of Europe in @vanmusik.

Nach drei Minuten schlägt die Stimmung um. Als würde Alberich die Rheintöchter beim Spielen stören oder eine andere böse Gestalt die imaginäre Bühne betreten. Hier werden schneidige Töne angeschlagen: das Horn bläst »Halt«, die Holzbläser quietschen wie ein hupendes Auto. Stadtluft. Die Idylle ist hier also nur ein kurzer Gast. Denn die erstmalige Schilderung von Autos und Straßenbahnen im Text verweist wohl auf das Ende von Agees Kindheit, auf den Tod seines Vaters. Freilich kann es hier kein unbescholtenes »Happy End« geben. Doch die Musik der letzten Takte vergeht sich gleichsam nicht in Selbstmitleid. Hier endet auf tragische Weise der unbeschwerte Teil eines Kinderlebens. Aber hier geht die Sonne trotzdem wieder auf; jeden Tag aufs Neue! Das ganze Leben steht doch noch vor dem Knaben – und trotzdem weiß er über das Ende bereits eine ganze Menge; eigentlich schon zu viel.

Wie wenig plakativ und dennoch höchst intensiv Barber Agee vertont, wie schmerzvoll und dennoch kindlich unbeschwert er eine orchestrale Atmosphäre des Erzählens schafft: das ist nicht nur sehr geschmackvoll, sondern gleichzeitig nie seicht, sondern schonungslos – ohne dabei gewaltvoll erschüttern zu wollen. Barber ist der Meister von Trost und Bittersweetness in der Musik des 20. Jahrhunderts; auf eine Weise der Nachfolger von Gustav Mahler. In amerikanisch. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.