Volker Hagedorn hat ein Buch über die Familie Bach in der Zeit vor Johann Sebastian geschrieben. Hier bringt er deren Welt zum Erklingen.
Johann Bach: Unser Leben ist ein Schatten, Motette für 2 Chöre; Vox Luminis; in: Motetten; Ricercar (347)
Dieses Stück ist eines der ältesten, die aus der Familie erhalten sind, in ihrem Kreis wurde es Johann Bach zugeschrieben. Der Text, zu dem sich beide Chöre abwechseln, nämlich ›Ich weiß wohl, dass unser Leben oft nur als ein Nebel ist‹, stammt von Johann Flittner, dem Sohn eines Suhler Waffenhändlers, den Johann, Heinrich und Christoph gekannt haben dürften.
Johann Michael Bach, Unser Leben währet siebenzig Jahr, für fünf Stimmen; Vox Luminis; Ricercar (347)
Ein typischer Johann Michael – nicht so kontrapunktisch und chromatisch wie oft sein Bruder Johann Christoph, aber sanft umfassend. Am Ende unglaublich modern in der einsam rotierenden Wiederholung von »als flögen wir davon«. Im Buch wird es zur Beerdigung von Michaels Vater Heinrich gesungen, der das damals ungewöhnlich hohe Alter von 77 Jahren erreichte.
Heinrich Schütz: Ich hab mein Sach Gott heimgestellt, aus: Kleine geistliche Konzerte I, Dorothee Mields, Ulrike Hofbauer u.a.; Carus (83.254)
Heinrich Schütz hat das schon 1625 komponiert, und 1636, immer noch im Krieg, in seine Sammlung Kleine geistliche Konzerte eingefügt, deren knappe Besetzung der Situation entspricht. Er schrieb im Vorwort, gantz niedergeleget sei durch die vielen Kriegstoten die Musik. So ist die Sammlung, hoch konzentriert, unaufwendig realisierbar, ein Akt kultureller Selbstbehauptung, ein survival kit.
Johann Christoph Bach: Es erhub sich ein Streit im Himmel; Cantus Cölln (Harmonia Mundi)
Eins der Lieblingsstücke von Johann Sebastian, dessen Vater Ambrosius vielleicht die Uraufführung leitete: »Es ist, als balle sich in diesen Klangblöcken alle Schwärze der Kriege, vom rotgoldenen Magma der Trompeten durchzogen, als schlügen in den Paukenschlägen Kugeln in die Mauern, als seien es wirklich keine Menschen mehr, die da singen, sondern kriegerische Engel in gleißenden Rüstungen. Nachtschwarz schimmernde Bässe, Soprane, hoch in einer unerbittlichen Sonne glänzend … «
Johann Christoph Bach, Wie bist du denn, oh Gott, im Zorn auf mich entbrannt; Cantus Cölln, Stefan Schreckenberger (Bass), Ulla Bundies (Violine); Harmonia Mundi
Für mich ist das Lamento eins der stärksten Stücke des späten 17. Jahrhunderts – in seiner Subjektivität und dem geradezu herausfordernden Dialog mit Gott. Die Textvorlage stammt von Simon Dach und wurde schon 1642 geschrieben. Johann Christoph, der mutmaßliche Komponist, hat das Gedicht rund 50 Jahre später genial gekürzt, entschlackt, zugespitzt und ebenso vertont. Zeitlos radikal.
Dietrich Buxtehude, Nun freut euch, lieben Christen gmein, Choralfantasie, Jean-Claude Zehnder (Orgel), in: J.S. Bachs früheste Notenhandschriften; Carus 83197
Diese Musik hat Johann Sebastian mit etwa dreizehn Jahren bei seinem großen Bruder in Ohrdruf abgeschrieben – mit der Hand eines Profis. Erst vor 10 Jahren fand Peter Wollny die Handschrift in Weimar. Einer der größten Funde der neueren Bachforschung. Er zeigt, wie weit der Schüler Bach in seinem Musikverständnis war, der dieses komplexe Stück vermutlich auch schon selbst spielte.
Johann Sebastian Bach, Capriccio E-Dur in honorem Johann Christoph Bachii Ohrdruf, BWV 993, Rinaldo Alessandrini (Cembalo)
Sebastians Dank an seinen Bruder Christoph. Undatiert, nur in Abschriften überliefert, mit 15 oder 17 Jahren geschrieben. Zuerst ein kurios hämmerndes Fugenthema, das in einen unberechenbaren Parcours mündet, der über vier Quinten von H-Dur bis dis-Moll moduliert. In Akkordschlägen, Sequenzen, Rotationen scheint sich das Gebilde selbstständig zu machen. Wie der Komponist. ¶