Zwei Konzertberichte

Text · Fotos © Leonard Higi · Datum 20.4.2016

Back in Esslingen – ist es die Landluft? Das in den großstädtischen Konzertsälen zwanghafte Husten (je größer die Stille) gibt es hier nicht, es macht einem freundlichen Wohlwollen Platz. Auf manchen Plätzen schlägt diese Generosität in Zerstreutheit, auf manchen in Rührung um. Viele sind aber auch einfach ziemlich aufmerksam. Wir auch, bei zwei Konzerten.

»Szenen der Frühe« – was war es?

»Szenen der Frühe« ist eine Koproduktion mit dem Heidelberger Frühling, die sich erklärtermaßen an einem Psychogramm Robert Schumanns versucht. Ein Streichquartett, ein Pianist, ein Sänger und ein Tänzer interagieren mit der Musik und miteinander. Sie wechseln den Ort, die Körperhaltung, die Tätigkeit und bisweilen auch die Komponisten – zu Schumanns Liedern, Quartetten und Quintetten gesellen sich Stücke aus jüngerer Zeit. Der Raum wird durch einen Gaze-Vorhang geteilt, dahinter gibt es eine Wand; auf beide fallen  Bildprojektionen aus dem Beamer. Statisch beginnt es, mit Bildnissen der Schumanns und der Welt, in der sie lebten. Im Verlauf des Stückes kommen die visuellen Drehungen, die Verzerrungen, dann die Tunnel und die Strudel.

Szenen der Frühe – wie war es?

Der Sänger als halb-pantomimischer Akteur, der Tänzer als Verkörperung des Komponisten, visuelle Effekte und Musiker- als Schauspieler/innen, zu denen sie nicht ausgebildet sind – das ist Risiko, damit kann man auch exponiert scheitern. Aber vielleicht würde ohne Risiko nirgendwo mehr als die Summe der einzelnen Teile erscheinen. Und dieses Mehr erscheint: Ohne, dass man alles ausdeuten muss, füllt sich der Raum immer mehr mit Spannung, mit Funkeln saugt man jeden Klang noch mehr auf, geht in den Strudel aus Familienaufstellung, Gazevorhang-Ahnungen, Korrespondenzen mit Schnittke, Jürg Frey und Xenakis, und immer wieder der Verdichtung von Liebe und Kummer in diesen unglaublichen Schumann-Liedern, die der Bariton Sebastian Seitz da so materialisiert. Viele der Musiker/innen treten schon seit Jahren beim Podium-Festival auf, es ist spannend zu sehen, wie sie technisch auf ein weiter gestiegenes Level zurückgreifen können und gleichzeitig Podium-typisch selbstbewusst und locker agieren. Innerhalb des Streichquartetts bilden die tief und weise wirkende Nora Romanoff-Schwarzberg (Bratsche) und der bogenhaarraufende Jonian-Ilias Kadesha (Geige) eine starke Linie, beide spielen auch am nächsten Tag wieder.

»Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss« – was war es?

Das Thema ist der Mord aus Leidenschaft. Zwei Ensembles sitzen im Hauptsaal des Esslinger Amtsgerichtes, es geht hin und her zwischen ihnen. Das oben erwähnte Streichquartett, allerdings mit zwei Bratschen, begleitet die vom Countertenor Álvaro Tinjacá-Bedoya gesungenen Gesualdo-Madrigale. Den zweiten Kreis bilden Klavier, Flöte, Klarinette, Perkussion, Violine und Cello. Sie spielen die Murder Ballads vom Komponisten und Rockmusiker Bryce Dessner. Zwei kleine Zusatzaufhängungen gibt es, Sonny Bonos Bang Bang (My Baby Shot Me Down), bekannt geworden durch Nancy Sinatra, für E-Gitarre, und Xenakis’ frühe Rappelkiste Dhipli Zyia. Am Ende das Erschrecken des Publikums, zumindest bei denen, die das langsame und weit ausholende Zertrümmern der Geige nicht bemerkt haben. Der Schock wird aber vom Publikum munter raunend abgefangen, so macht man das hier.

Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss – wie war es?

Der Abend ist eher schlagwortartig zusammengestellt. Thematisch passt das sehr gut, auch wenn Bang Bang und Xenakis’ Dhipli Zyia nicht anders denn als Effekte gelesen werden können. Für die großen Werke bildet das Amtsgericht einen guten Ort der Verhandlung, des Nachvollziehens, für Rede und Gegenrede. Die Musik mit dem Hintergrund Mord! lädt dazu ein, Motiven nachspüren, Umfelder zu erahnen. Wer, wo, wie, was, wann? Gerade weil die Madrigalen nicht ganz abgerundet intepretiert sind, merkt man, was das für kühne und scharfe Konstruktionen sind, diese Einzelstimmen, wie wenig Auflösung da über weite Strecken bei Gesualdo ist. Über 400 Jahre später entstanden, sind Bryce Dessners Murder Ballads eingängiger, eigentlich über weite Strecken eine Mischung aus Minimal Music und Filmmusik für eine gut gelaunte Eisenbahnfahrt. Obwohl: In einzelnen entschuldigend lächelnden oder auch vorwurfsvollen Gesichtern kann man wieder mal die Provokation ablesen, die die zögernd variierte Repetition immer noch ist.

Und sonst?

Jugend, Enthusiasmus, Selbstorganisation. Darüber haben wir und andere schon geschrieben. Die unmittelbaren Bezugsetzungen zwischen Werken verschiedener Epochen, ihre Verbindung durch Themensetzung und Inszenierung sind aber die geheime Energie des Podium-Festivals. Sie kommen überraschungsförmig, das Programm gibt es immer noch erst nach der Vorstellung. Da findet direkte Kommunikation zwischen Welten statt, in der es nicht um Wissen und Kennen geht. Unverstellt, manchmal mit etwas Reibung, hier und da mit Nahtstellen, aber wirklich fühl-, hör- und erfahrbar. Podium, so wie wir es dieses Jahr wieder erlebt haben, ist organisch. Ein paar sehr gute Grundzutaten, (fast) keine kalkulierte Überwältigung durch Zusatzstoffe, keine Massenabfertigung, sondern frische Produktion mit Liebe. Zu Leuten, die sich über den Bio-Hype aufregen, weiß ich nicht, was es zu sagen gibt. Und auch in diesem Fall streift die Hipster-Kritik nicht mal die Oberfläche. Das Podium muss ein großer Teil der Zukunft der klassischen Musik sein. ¶