Beim Festival des Hörens ist Leo Hofmann mit zwei Werken zu sehen. Wer ist Leo Hofmann?
Am kommenden Wochenende findet in der Hamburger Laeiszhalle das Festival des Hörens statt. Veranstalter sind die Hamburger Symphoniker, von denen kürzlich zu erfahren war, dass sie mit im Bund der sechs Orchester sind, die ab 2017 im Programm Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland gefördert werden. In ihren Programmen und Formaten unter dem Stichwort MusikImPuls bestellen die Symphoniker eine Tradition, die gerade in Hamburg vom Ensemble Resonanz früh vorgezeichnet wurde. Das Konzerthaus auf die Straße bringen, Dinge hinterfragen, neue Öffentlichkeiten um die Musik schaffen. Während die Symphoniker regelmäßig Impromptu-Konzerte an verschiedenen markanten Ort der Stadt geben, bietet das Festival des Hörens eine Mischung aus zugänglicher Symphonik (Bruckner, Symphonic Slam), Familienangeboten, Filmen, Vorträgen und transdisziplinärer Kunstausstellung. Kuratiert von der Galerie Âme Nue gibt es in der Laeiszhalle auch einen Hörgang mit Kunstinstallationen. Wer genau hinschaut, entdeckt hier neben Türen und unter Treppen ein paar Acts, die Zukunft versprechen. Für VAN porträtiert der Komponist und Performer Andi Otto (beim Festival selbst mit seinem Instrument Fello zu sehen und hören) seinen Freund und Kollegen Leo Hofmann. Wir lesen und denken: Höchste Zeit, ihn kennenzulernen.
Leo Hofmanns Thema ist die Schnittstelle zwischen Körper und Musik. Das klingt technisch, sogar abstrakt – das wird aber schnell sinnlich, wenn man sich seine Installationen und Performances anschaut. In Salzburg wurde im November 2016 sein Solostück An die verehrte Körperschaft gezeigt und diskutiert – explizit als Tanzwerk –, und selten hat man sich so gebannt von zwei Händen auf einer Computertastatur bezaubern lassen wie in seiner Komposition Flugschreiber. Leo ist Medienkünstler, Komponist und Performer. Er studierte zeitgenössisches Musiktheater in Bern, das verleiht seinen Stücken eine Intensität der Inszenierung, die ihn von den oft allzu technischen Experimenten von Zeitgenossen abhebt. Und er stellt gerade ein paar der interessantesten Fragen im Bereich zeitgenössischer elektronischer Musik und Medienkunst. Er ist ein Tüftler und ein besessener Forscher: Als wir beide letztes Jahr zusammen zu einem Gastspiel auf die Insel Santorin eingeladen waren, blieb er bei bestem Seele-Baumeln-Lassen-Wetter im Zimmer, weil er Adornos Schriften über Schönberg noch nicht durch hatte. Alle anderen waren am Strand.

Trotzdem schlägt Leos Arbeit selten ins Verkopfte um. Sinne und Sensoren, Fragen der Wahrnehmung und die Emotionalität der Körper stehen bei ihm im Zentrum und saugen den Zuhörer sekundenschnell ein. Es weht ein post-romantischer Hauch durch sein Schaffen, der sich vor großen Gesten nicht scheut: 2016 hat er zusammen mit dem Regisseur Benjamin van Bebber Schuberts Winterreise auf die Bühne gebracht – die beiden singen den Zyklus mit brüchigen, wütenden und heiseren Stimmen, die nichts darum geben, ob sie dazu jemals ausgebildet wurden. Die musikalische Begleitung zu diesen »Vorstudien eines nomadischen Lebens« dröhnt und pulsiert aus einem Orchester über die Bühne verteilter Lautsprecher, denen die beiden mit allerhand Gerät die wunderbarsten Brummtöne entlocken. Das Zusammenspiel dieser Konstellation, das fast wie ein alchimistischer Versuch rüberkommt, erzeugt eine sehr eigene Spannung und Emotionalität, man vergisst als Zuschauer bald das Experiment und lauscht gebannt diesen Liedern, dem Text und diesem schlafwandlerischen Sich-Vortasten auf dem Eis des großen Werkes. »Die Post bringt keinen Brief für dich. Was drängst du denn so wunderlich, Mein Herz?« schreit Leo irgendwann wie ein Shoegazing-Sänger über die verzerrten Drones aus den Harmonien, die mal Klavierbegleitung waren: Das ist eine große Geste und ein restlos zeitgenössischer Ausdruck der romantischen Komposition, die auch einer Philharmoniebühne sehr gut stehen würde.
Am 4.12. werden beim »Festival des Hörens« in der Hamburger Laeiszhalle eine Installation und eine Performance von Leo gezeigt, die in meinen Augen vielleicht seine beiden aktuell spannendsten Werke darstellen.
An die verehrte Körperschaft
Ein kurzes Stück, unter 10 Minuten, das Leo solo aufführt. Er trägt eine Art Datenhandschuh und gestikuliert. Alles ist präzise choreographiert. Die Sensoren an der Hand lösen Klänge aus, geben Einsätze und lassen Töne abbrechen oder anschwellen. Wir hören eine sprechende Frauenstimme (Gina Mattiello), die übereifrig eine Art Bewerbungsgespräch absolviert. Leos Hände orchestrieren ihre Sätze, er unterbricht sie, gibt Einsätze, irgendwann macht das Schnippen der Finger »Ping«, es klingt wie ein Ausrufezeichen. Und allmählich fällt auf: Der macht doch viel mehr, als sich im Sound abbildet! Warum trippeln die Finger über die Beine, warum schaut er um sich, warum macht er Bewegungen wie ein Trainer am Spielfeldrand, der auswechseln will, zeigt ins Publikum? Das kann doch nicht alles von diesem kleinen Knopf am Finger erfasst werden? Wozu diese Geschäftigkeit? Tanzt er zum Klang oder spielt er ihn? Und sehr bald ist diese Schallmauer des Wunderns und Fragens durchbrochen, und man ist gefesselt von der Dringlichkeit des Vortrags, der so unmittelbar zum Text passt. Wofür andere Künstler mit technischen Interfaces wie Datenhandschuhen oder Sensoren am Körper oft einen ganzen Abend oder sogar eine ganze Karriere brauchen, das schafft Leo innerhalb weniger Augenblicke: das Transzendieren einer neuen Technologie vom Gimmick zum Instrument, die das Publikum nicht mehr hinterfragt, durchdenkt und analysiert, sondern direkt an sich ranlässt, weil es anders gar nicht geht.
Muschelrauschen
Eine Komposition von Leo Hofmann für ein sehr besonderes, einzigartiges Kopfhörersystem namens wind.attach, das er selber entwickelt hat. Die Idee hinter wind.attach ist eine Erweiterung der auditiven Wahrnehmung im Kopfhörer-Gebrauch mithilfe von Luftdüsen. Diese können synchron zur Komposition einen zu diesem Zweck komponierten Luftstrom ausgeben. Dieser Luftzug ist zwar nicht hörbar, die Ohrmuschel spürt ihn aber als Berührung. Das sonst im Kopfhörer von der Außenwelt isolierte Ohr wird so zur sensiblen Oberfläche parallel zur Klangwahrnehmung. Wenn die Ohrmuschel vom künstlich generierten Wind bespielt wird – komponiert als ein Element der für dieses System entworfenen Musik – dann kann sich der Hörsinn verstärken, da das Ohr zur vieldimensionalen Wahrnehmungsmembran wird. Warum sind unsere Ohren eigentlich so sensibel für Taktilität? Würden uns zum Hören allein nicht gefühllose Knorpel reichen? Was hat der Tastsinn am Ohr mit unserer auditiven Wahrnehmung zu tun? Die Intimität der Stimulation des Ohrs lässt die Ohren spitzen, wenn sich der Hörer / die Hörerin darauf einlässt.
Das Hören kann durch den Einsatz des Luftstroms vom Komponisten fokussiert und gelenkt werden. Der Luftstrom hilft, einzelne Elemente aus dem Klang hervorzuheben. Die Taktilität des Ohrs wird zum ästhetischen Parameter, mit dessen Hilfe eine völlig neuartige Transparenz in der Tonmischung geschaffen werden kann. Während für einen herkömmlichen Kopfhörer Stereo-Parameter, Equalizer und Lautstärke als Werkzeuge der räumlichen Abmischung zur Verfügung stehen, kann eine Komponistin mit dem wind.attach System ausgewählte Klänge oder strukturelle Verläufe durch die Ebene der Taktilität betonen. Ich habe vor kurzem meine eigene Komposition Bangalore Whispers für das wind.attach-System aufbereitet. Das spannende daran war die mögliche Bandbreite zwischen einer Illustration von Klängen (insbesondere der Stimme der indischen Sängerin MD Pallavi) durch synchronisierte Luftbewegung bis hin zu einer eigenständigen »Luftspur«, die unabhängig von anderen Klangelementen mitspielt, Klänge vorwegnimmt oder ihnen nachspürt.
In Leos eigener Komposition, Muschelrauschen, die beim Festival des Hörens gezeigt wird, geht es um flüsternde Stimmen, die durch den Luftzug akzentuiert und verräumlicht werden. Das simple Highlight ist in meinen Ohren ein Fieldrecording einer Fahrradfahrt, bei der man den Fahrtwind spürt.
Wenn aktuell im Marketing von Entertainment-Firmen von immersive audio die Rede ist, also einem Audiosystem, in das man »in 3D« eintauchen soll (als ob es dieses Versprechen nicht seit der Erfindung des Grammophons schon immer gegeben hätte), dann scheint der wind.attach-Kopfhörer wie der leise Schuss, den die Industrie nicht gehört hat. Es ist, das zeigt ein Blick auf die faszinierten Gesichter der wind.attach-Hörer, ein neues und intensives Erlebnis, den Hörsinn als Tastsinn zu erfahren. Es ist die perfekte Installation für ein Festival des Hörens. ¶