Ich habe lange in einer Musikbibliothek gearbeitet. Dort ging regelmäßig eine ältere irische Nonne ein und aus, deren funkelnde Augen verrieten, dass sie stets zu einem ganz bestimmten Zweck bei uns war. Sie erzählte mir, dass sie an einem Buch über die russische Komponistin Galina Ustvolskaya arbeite. Als Schwester Andre Dullaghan irgendwann in den 80ern zum ersten Mal ein Werk von Ustvolskaya hörte, war ihre Musik im Westen nur sehr wenigen bekannt – Schwester Andre war entschlossen, diesen Schatz zu heben. Die Komponistin lebte in einer unscheinbaren Wohnung in St. Petersburg. Wenn irgendjemand überhaupt schon mal von ihr gehört hatte, dann als Schülerin von Schostakowitsch, der ihr, so heißt es, sogar mal einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie lehnte ab und stritt später vehement sowohl einen musikalischen Einfluss als auch eine persönliche Beziehung ab.

Ustvolskayas Musik stellte Anforderungen an die Ausführenden, die nur wenige erfüllen konnten. Sie bestritt jeden Einfluss, jede Orientierung an Vorläufern, jedes Einschreiben in Traditionen, lebte zurückgezogen in ihrer winzigen Wohnung, die sie mit ihrem Mann teilte. Niemand sah sie. Niemand besuchte sie. Im Stampfen der gnadenlos expressiven, rhythmisch unbeirrbaren Symphonien und Sonaten Ustvolskayas war Schwester Andre Gott erschienen, als raues, grelles Bild, das sie in ihrem Glauben heftig berührte. 1993 fuhr sie nach St. Petersburg, aber es sollte noch fünf Jahre dauern, bis sie ihren Mut zusammennahm und Ustvolskaya ein paar Tage vor deren 78. Geburtstag anrief – und die Komponistin tatsächlich ans Telefon ging. »Es geht mir nicht darum, Sie zu sehen«, sagte Schwester Andre, »aber um halb sechs werde ich bei Ihnen klingeln und ein Geschenk vor die Haustür legen.«Die sofortige Antwort: »Das ist nicht nötig.«Darauf war Schwester Andre jedoch vorbereitet. »Ich habe das Geschenk schon gekauft.« Trockenpflaumen in Schokolade, Ustvolskayas Lieblingssüßigkeit. Es folgte eine lange Pause. »Wann, sagten Sie, wollen Sie klingeln?«Als Schwester Andre zur verabredeten Zeit auf die Klingel drückte, erwartete sie keine Antwort, doch die Tür öffnete sich – und da stand eine wunderschön gekleidete Ustvolskaya. Sie umarmte Schwester Andre herzlich und bat sie herein. Eine Weile unterhielten sich die beiden, dann fragte die Komponistin: »Warum lieben Sie meine Musik so sehr?« »Ich liebe Ihre Musik«, antwortete Schwester Andre, »weil jede einzelne Note meine Seele berührt.« Die Nonne starb 2015, ihr Buch blieb unvollendet. Aber ich fand heraus, dass sie nicht die einzige gewesen ist, die die Türschwelle zu Galina Ustvolskayas sorgsam behüteter Welt übertreten hatte.

I. Kontakt

Josée Voormans (Filmemacherin, die eine Dokumentation über Ustvolskaya gedreht hat): Es war 1987, Elmer Schönberger und ich brüteten über dem Programm für das Holland Festival und fuhren nach Russland. Es war die Zeit von Glasnost, von Gorbatschow, deswegen war die Einreise kein Problem. In Holland hatte mir jemand eine Kassette gezeigt, mit dem Hinweis, dass wir uns das anhören müssten. »Die Frau, die diese Musik komponiert hat, ist wirklich außergewöhnlich.« Wir hörten uns die Kassette an und waren überhaupt nicht in der Lage, diese Musik historisch einzuordnen. Sie lebte in St. Petersburg und wir haben es geschafft, an ihre Telefonnummer zu kommen. Ich rief sie an und fragte, ob wir mal vorbeikommen dürften, um über ihre Musik zu reden – und um sie nach Holland einzuladen.

Elmer Schönberger (Schriftsteller und Komponist): Wir saßen im Hotel, Josée rief sie an, stellte einen haufen Fragen und es war sofort klar, dass Ustvolskaya uns nicht würde treffen wollen. Ich hatte gehofft, dass wir mir ihr würden sprechen können um herauszufinden, wie wir ihre Werke am besten präsentieren könnten, weil ich schon damals entschlossen war, so viel wie möglich von dem, was sie komponiert hat, aufzuführen. Aber sie wollte uns nicht empfangen.

Josée Voormans: Sobald ich sie am Telefon hatte, sagte sie: »Oh, nein, nein, nein. Ein Treffen? Unmöglich. Bei uns ist jemand krank.« Das war auch schon das Ende der Unterhaltung. Dann lernte wir Oleg Malov kennen, einen Pianisten, der derjenige war, der Ustvolskaya aus der Versenkung geholt hatte. Er hatte all ihre Klavierwerke gespielt und zum Teil auch aufgenommen und hat uns viel über sie erzählt. Wir haben versucht, sie nach Holland einzuladen, aber sie wollte nicht kommen.

Reinbert de Leeuw (Pianist, der seit den 90ern viel Ustvolskaya gespielt hat): Elmer Schönberger kam aus Russland zurück und brachte eine Kassette mit einer Aufnahme des Oktetts Ustvolskaya mit. Ich hörte es mir an und es war wie eine Art Schock für mich. Mein Gott! Eine Komponistin, eine Frau, hat unter Stalin ein Stück geschrieben, das in überhaupt keiner Verbindung steht zu der Musik, die sie umgab, der Musik ihrer Kultur. Diese Stimme war so authentisch, so völlig eigen. Wir entschieden uns, das aufzuführen. So kam ich in Kontakt mit ihr. Sie hörte eine Aufnahme von mir, die hat ihr offensichtlich recht gut gefallen.

Alexei Lubimov (Pianist und Cembalist): Seit meiner Jugend hatte ich ein großes Interesse an Neuer Musik, besonders an Musik, die unbekannt war oder von der Regierung nicht gebilligt, vielleicht sogar geheim gehalten und in der Sowjetunion nur nicht-öffentlich aufgeführt wurde. Ich hatte zuvor schon ein paar Mal Noten von Werken Ustvolskayas gesehen, aber sie wirkten auf mich ziemlich primitiv und nicht besonders ausgefeilt, deswegen habe ich ihnen keine weitere Beachtung geschenkt. 1991 traf ich dann den Geiger Josef Rissin, der mir Aufnahmen von Violinsonate und Duett zeigte. Ich war beeindruckt und fing an, mir die Noten genauer anzuschauen. Damals verstand ich, dass ihre Musik nichts mit der Avantgarde oder der Musik Schostakowitschs zu tun hat.

1992 oder 1993 versuchte ich dann Leute zu finden, die mit mir das Oktett, das Klarinetten-Trio und einige Sonaten spielen wollten. Wir machten ein paar Aufnahmen, die ich ihr schickte. Sie schrieb mir, dass wir ihre Musik nicht richtig spielten. Sie erklärte mir aber nicht, was wir denn anders machen sollten, und so fing ich erst an zu verstehen, was sie meinte, als ich Reinbert de Leeuw ihre fünfte Klaviersonate spielen hörte. Ich machte eine weitere Aufnahme und schickte sie ihr. Dieses Mal war sie sehr glücklich mit dem Ergebnis. Wir telefonierten danach viel. Ich traf sie auch, und versuchte, ihre Musik so viel es ging in Moskau und Europa zu spielen. Ich kann nicht sagen, dass sie mir mitgeteilt hätte, wie man ihre Musik spielen soll, aber ich glaube, ich habe ziemlich gut verstanden, wie man sie nicht spielen soll. Zusammen mit dem Wissen, welche Aufnahmen ihr gefielen, ergab das ein gutes Bild von dem, was die Musik braucht.

Josée Voormans: Es ist schwer zu sagen, warum sie gerade mich mochte, aber ich war einer der wenigen Menschen, mit denen sie sich wohlfühlte. Sie fing an, mich gelegentlich anzurufen, als ich als Cutterin für das niederländische Fernsehen arbeitete. Dort fragte man mich: »Warum machst du keinen Film über sie?« Ich war ein bisschen zurückhaltend und meinte, das sei nicht möglich. Aber dann fasste ich mir ein Herz. Ich rief sie an und fragte sie, ob es möglich wäre, ein Interview mit ihr zu filmen. Ihr Ehemann ermutigte sie und sagte ihr: »Wenn du berühmt und bekannt sein willst, musst du auch etwas dafür tun.« Sie hasste die Kamera, aber wir setzten uns in ihrer Leningrader Wohnung gemeinsam hin und redeten und filmten das. Das war ziemlich komisch. Der Tonman hielt die Tonangel über ihren Kopf und sie schaute schockiert nach oben und fragte: »Was ist das?« Das Mikrophon, erklärte ich ihr. »Oh«, sagte sie, »können wir dann anfangen?« Wir hatten aber längst angefangen. Ich weiß nicht, was sie erwartet hatte, aber sie meinte ziemlich erschrocken: »Was? Ich höre gar nichts.«

Reinbert de Leeuw: Wir hatten schon Dokumentationen über Messiaen, Ligeti und Gubaidulina gedreht und wollten auch eine über Ustvolskaya machen. Sie hatte zugestimmt, dass wir bei ihr zuhause filmen, aber sie selbst wollte nicht auf den Aufnahmen sein. Sie sagte, sie sei in den letzten 40 oder 50 Jahren nicht mehr fotografiert worden. Wir machten uns also auf nach Russland ohne die geringste Ahnung, wie wir dort vorgehen sollten. Im Film spiele ich die fünfte Sonate in der Glinka Hall in St. Petersburg. Wir hofften, dass Ustvolskaya anwesend sein würde, aber sie kam nicht. Sie lud uns in ihre Wohnung ein. Im Film sieht man, wie ich die vielen Stufen zu ihrer Wohnung hinaufsteige und wie sie die Tür ein klein wenig öffnet und auf Deutsch sagt: »Ich bin zu menschenscheu.« Sie erlaubte uns dann, in ihrer Wohnung zu filmen. Ich sprach ein wenig mit ihr, aber sie machte keine Anstalten, irgendwas zu erklären. Sie war der Meinung, dass niemand ihre Musik analysieren sollte.  

Thea Derks (Musikjournalistin): Ich war 1995 bei einer Aufführung ihrer dritten Sinfonie, sah sie dort und ging einfach zu ihr. Ich hatte ein Jahr lang Russisch gelernt und sprach sie auf Russisch an: »Ich habe Ihre Musik wirklich sehr genossen – darf ich ein Radio-Interview mit Ihnen machen?« Sie antewortete: »Ich denke nicht.« Aber ihr Mann sagte: »Wir sind in einem Hotel nicht weit von hier untergebracht, rufen Sie uns dort an, dann sehen wir weiter.« Am Tag darauf rief ich sie an, aber sie wollte noch immer nicht. Ich versuchte, ihr ein gutes Gefühl zu geben – es wirkte auf mich so, also wäre sie irgendwie misstrauisch Fremden gegenüber, als hätte sie Angst vor der Möglichkeit, an jemand unfreundliches zu geraten. Ich erzählte ihr auf russisch, dass ich Theodora Ivanovna heiße – also denselben zweiten Namen habe wie sie. Da war sie plötzlich bereit zu einem Interview. Wir verabredeten uns für den folgenden Tag. Als ich im Hotel ankam, begrüßte mich ihr Mann in der Lobby und brachten mich auf ihr winziges Zimmer. Ich erinnere mich noch, wie schockiert ich war, dass eine so großartige Komponistin in so einem kleinen Zimmerchen untergebracht war. Und dann wollte sie plötzlich nicht mehr reden. Ich hatte meinen Recorder herausgeholt, um unser Gespräch für’s Radio aufzunehmen und das hatte ihr Angst eingejagt. Deswegen schlug ich vor: »Ich schalte das Ding wieder aus, schreibe mit und dann wird es ein geschriebener Text.« Sie wollte noch immer nicht, aber ich wollte auch nicht einfach so aufgeben. Ihr Mann war auch dafür, dass sie das Interview machte – und schlussendlich kamen wir zu einem Kompromiss: Er rief ihren Freund, den Komponisten Victor Suslin an, der auch für ihren Verlag arbeitete. Es war ziemlich merkwürdig: Wir vier saßen in diesem winzigen Raum. Ich stellte meine Fragen und Suslin antwortete, aber jedes Mal sagt er dazu: »Aber Frau Ustvolskaya kann diese Frage sehr viel besser beantworten.«

Josée Voormans: Ich habe angefangen, sie Dinge zu fragen, aber es war so schwierig, eine Antwort aus ihr herauszubekommen. Irgendwann war ich ziemlich frustriert. Sie antwortete nur mit »ja« oder »nein«, deswegen entschied ich mich, meine Fragen anders zu formulieren, weil ich etwas über Schostakowitsch, ihre Kindheit, ihr Studium und ihre Familie erfahren wollte. Irgendwann erzählte sie mir dann alles. Ich fragte sie, was sie mal werden wollte, als sie klein war. »Ich wollte ein Orchester werden«, antwortete sie. Sie hatte eine Zwillingsschwester, eine Mathematikerin, die aber früh gestorben ist. Sie mochte sie nicht und genauso wenig mochte sie ihre Mutter. Ihr Vater war halb taub, deswegen schrien sie zuhause immer sehr laut, was sie auch nicht mochte. Ihr Rückzugsort war unter dem Klavier.

II. Das System

Andrei Bakhmin (Ustvolskayas Archivar und Biograph): Ihr erster Erfolg als Komponistin war die Bylina Stepan Razins Traum über die Ideen der ungeliebten Resolution von 1948. Ihre folgenden Werke sind stärker dem Sozialistischen Realismus zuzuordnen, aber die meisten wurden von der Regierung nicht befürwortet oder einfach nicht bekannt genug, um öfter als ein oder zwei Mal aufgeführt zu werden. Die einzige Ausnahme war die Kinder-Suite, die jahrelang hochgelobt und vielfach aufgeführt wurde. An diesem Stück wurde überhaupt nichts kritisiert.  

Nach dem Abschluss ihres Studiums erwartete man von ihr, dass sie, wie alle anderen auch, auf eine Art komponierte, die ihr nicht gefiel, die sie, so glaube ich, sogar verachtete. Es gab viele, die die 1948er-Resolution begrüßten, die zu schwach oder noch jung genug waren und sich ihre Sicht auf die Welt von der Partei diktieren ließen. Ustvolskaya musste versuchen so zu sein wie sie, und das klappte auch auf eine gewisse Weise, aber sie war wirklich so unzerstörtbar wie ein Diamant und ihre Fähigkeit, Musik zu schreiben, in der sie sich selbst treu war, überlebte. Auch Schostakowitsch schaffte es, sich anzupassen – er kämpfte sich aus der Ungnade, in die er gefallen war und schrieb das Lied der Wälder, das der Regierung gefiel und ihm Erfolg, Rehabilitation und Geld einbrachte. Auch er litt darunter, aber er konnte so handeln, weil er wirklich an Lenin glaubte – Ustvolskaya aber glaubte an Gott. Stellen Sie sich vor, Messiaen hätte Kantanten schreiben müssen, die Stalin, der Roten Armee oder den Pionieren gewidmet wären.

Reinbert de Leeuw: Kurz bevor ich ihre Musik entdeckte, hatte ich mich ziemlich intensiv mit dem späten Schostakowitsch auseinandergesetzt. Es faszinierte mich, wie düster diese Musik war und dass sie manchmal aus nur so wenigen Tönen bestand – je weniger Töne, desto mehr Ausdruck, so schien es mir. Als ich dann zum ersten Mal Musik von Ustvolskaya hörte, fand ich in ihr eine sehr enge Verwandtschaft zum späten Schostakowitsch. Allerdings verhielt es sich damit, wie Schostakowitsch selbst sagte, so: »Nicht ich habe dich beeinflusst, sondern du mich.« Der späte Schostakowitsch der 60er und 70er hatte Ustvolskayas Musik schon im Rücken. Es gab alle möglichen Gerüchte darüber, was zwischen den beiden wohl vorgefallen war, aber ihre Einstellung dazu war: Sprich seinen Namen nicht in meiner Gegenwart aus. Ich werde nicht darüber reden. Er hat das beste in mir getötet.  

Josée Voormans: Sie erzählte mir, dass sie Schostakowitsch nicht mochte, dass sie ihn hasste, weil er so egoistisch war. Er war der Kopf des Komponistenverbandes und wählte als solcher die Komponist*innen für die staatliche Musikkomission aus. Damals waren alle ziemlich arm und brauchten dringend Geld, aber sie sagte, dass er einen Großteil der Kommission einfach selbst behielt. Einmal, erzählte sie, war er ziemlich betrunken. Er kam zu ihr nach Hause – da war sie schon verheiratet –, warf sich auf die Knie und sagte: »Du weißt, dass ich der beste Komponist der Welt bin.«

Andrei Bakhmin: Die Werke, die ihrem »wirklichen« Stil zuzuordnen sind, stammen alle aus den 1960ern. Aber 1963 führten die Parteiführer eine neue, wenn auch kurze Kampagne gegen Formalismus und Abstraktion durch, und ihre Sonate wurde in einer großen sowjetischen Zeitung als eines der Beispiele für schädlichen avantgardistischen Einfluss aus dem Westen kritisiert, der die Grundlagen des sozialistischen Realismus untergrabe.

Unter Breschnew, 1964, änderte sich das. Ihm war es weniger wichtig, dass alle sowjetischen Komponistinnen und Komponisten im selben Stil schrieben. Deswegen wurde Ustvolskayas erste Sinfonie im Jahr 1966, nachdem die Komponistin sich zehn Jahre lang erfolglos dafür eingesetzt hatte, schließlich aufgeführt.

Josée Voormans: Einer ihrer frühen Partner war ein Komponist namens Yuri Balkashin. Er starb 1960 im Alter von 36 Jahren. Sein Sarg stand im Haus der Komponisten, sie saß daneben und weinte und weinte. Ein anderer Komponist erzählte, wie schrecklich das für ihn anzusehen war. Später traf sie dann Konstantin Bagrenin. Er war ihr Schüler an der Musikschule und über 20 Jahre jünger. Er hat ihr in geschäftlichen Dingen viel Arbeit abgenommen. Sie nannte ihn mir gegenüber ihren Assistenten. Sie lebten in einer winzigen Wohnung mit einer Küche und zwei Zimmern. In einem stand eine Couch, im anderen ein Bett und ein Klavier.

Der Pianist Oleg Malov nahm ihre Stücke als erster auf. Später gefiel ihr sein Spiel nicht mehr, aber er war doch sehr wichtig für sie, indem er die Welt überhaupt auf ihre Existenz aufmerksam machte. Sie beklagte sich dennoch: »Reinbert fragt mich nie, wie er irgendwas spielen soll. Er spielt einfach und es ist immer gut. Malov fragt mich wegen allem Möglichen und spielt nie gut.« Sie war wirklich nicht nett zu Malov, deswegen habe ich allergrößten Respekt davor, dass er ihre Musik trotzdem weiterhin spielt.

Dr. Maria Cizmic (Musikwissenschaftlerin an der University of South Florida): In den 90ern gab es in Westeuropa ein aufrichtiges Interesse an den Komponistinnen und Komponisten, die bis dato hinter dem Eisernen Vorhang verborgen gewesen waren. Teil der Rezeption von Ustvolskayas Musik im Westen war auch, immer wieder zu bekräftigen, wie schlimm es in der Sowjet Union gewesen war und sie somit als Dissidentin darzustellen. Sie wird so in eine Opferrolle gedrängt, dabei handelte es sich bei ihr und ihren Kolleg*innen um echte Menschen, die Entscheidungen getroffen haben und nicht um Spielbälle der politischen Gegebenheiten ihrer Zeit. Diese Sichtweise wird auch von der romantischen Vorstellung gespeist, dass Kunst aus Leiden entsteht, und ihre Musik passte in dieses Bild, weil sie zum Teil sehr ernst und körperlich schmerzhaft ist.

Ein anderer Aspekt der Rezeption, die übrigens wirklich international stattfindet, ist die Einordnung ihrer Musik in geschlechtersspezifischen Rollenerwartungen. Rostropowitsch erzählte mal, wie er sie zum ersten Mal traf: eine höfliche, bescheidene junge Frau, die sich ans Klavier setzte und dann mit etwas loslegte, das überraschend aggressiv war.

Alexei Lubimov: Ihre Musik reflektiert das Eingesperrtsein in einem System, das keine Freiheit erlaubt. Sie war nicht wirklich eine Reaktion auf das System, eher eine Reflexion. Das fühle ich besonders in ihren Werken aus den 1950er Jahren: der Violinsonate, dem Grand Duo und der dritten Sonate. Für mich transportieren sie alle dieses Gefühl eines menschlichen Wesens in einem geschlossenen Raum, aus dem es kein Entkommen gibt.

III. Unteilbar

Alexei Lubimov: Sie sprach nie darüber, wie sie irgendwas komponiert hat oder was ihre Werke bedeuten sollen und sie sagte aus nichts zur Interpretation. Sie war gegenüber uns Musikerinnen und Musikern immer sehr höflich, besonders, weil sie damals unsere Interpretationen schon von Aufnahmen kannte. Sie war immer sehr zufrieden mit uns, bis sie die nächste Aufnahme von Reinbert de Leeuw bekam und die noch besser fand – fast immer war das so!

Reinbert de Leeuw: Sie war eine Persönlichkeit mit einer sehr starken Message, die schon in den frühen Werken vernehmbar ist und sich dann durch ihr gesamtes Schaffen zieht.

Die späteren Stücke sind vielleicht noch extremer, besonders die beiden letzten Klaviersonaten: noch brutaler und noch espressivisimo. Am Ende ist es fast nicht mehr zu ertragen und ich kann verstehen, dass sie dann aufhörte. Du bist am Ende des Weges angekommen, wie sollst du dann noch weitermachen? Es gibt keine Möglichkeit, weiter zu gehen. Deswegen hat sie, für mich völlig nachvollziehbar, aufgehört zu komponieren.

Alexei Lubimov: Am Anfang habe ich ihre Musik sehr frei gespielt bezüglich der Tempos und des Ausdrucks, aber diese Art von Freiheit passt wirklich nicht zu ihrer Musik. Vielleicht sind das noch Überbleibsel meiner expressionistischen Phase des Musizierens. Als ich anfing, ihre Musik zu spielen, liebte ich die dritte Sonate und spielte sie mit von mir hinzugefügten Tempo-Änderungen und einigen nicht wirklich notwendigen crescendi und anderen hinzugefügten Ausdrucksweisen, um die Stimmen und die Polyphonie besser hörbar zu machen. Genau das hat sie kritisiert. Sie wollte eine größere Einheit, von Anfang bis Ende, ohne Betonungen von Details, die das grundlegende Konzept zerstören. Deswegen versuchte ich, jede psychologische oder persönliche Interpretation zu vermeiden und stattdessen mit einer Art inneren Berges oder etwas anderem Unteilbaren vor Augen zu spielen.

Elmer Schönberger: Ich glaube, ich verwendete den Ausdruck »die Dame mit dem Hammer« zur Beschreibung von Ustvolskaya zum ersten Mal nach einem Konzert in St. Petersburg, bei dem die fünfte Sinfonie uraufgeführt wurde. Natürlich ist der »Hammer« inspiriert von der Composition No. 2, dem Dies Irae, in dem ein Holzwürfel mit einem Hammer geschlagen wird. Komponistinnen und Komponisten mit nur einem Satz zu beschreiben, ist immer kompliziert und man erfasst damit immer nur einen Teil der Wahrheit, das ist mir bewusst. Aber ihre Musik hämmert nun mal. Es gibt das niederländische Sprichwort über den »Mann mit dem Hammer«, das hört man oft im Sport. Wenn du zum Beispiel bei der Tour de France mitfährst und mitten im Rennen plötzlich völlig erschöpft bist: Das ist der Mann mit dem Hammer, dieses plötzliche Gefühl von Erschöpfung. Das hat man auch bei Ustvolskayas Musik, weil ihre Wirkung so allumfassend ist.

Alexei Lubimov: In ihren späteren Werken gibt es einige Besonderheiten. Wiederholungen derselben geschlossenen Form, wie in den letzten beiden Sätzen des Oktetts: Ein Pattern oder eine Reihe von Takten wird ohne jede Änderung wiederholt. Es ist eine Art Montage von Elementen, die sich selbst nicht entwickeln oder nicht entwickelt sind und einfach zusammengeklebt wurden. Sie nutzt Melodielinien mit parallel geführten dissonanten Intervallen, Septen oder Akkordkombinationen, die auf Septe, Tritonus und None aufbauen. Auch das Tempo ändert sich den ganzen Satz über nicht. All diese gleichbleibenden Elemente in Zeit und Harmonie sind, so denke ich, besonders wichtig für sie.  

Reinbert de Leeuw: Ihre Musik ist so stark auf eine Sache hin konzentriert. Die fünfte Klaviersonate besteht im Wesentlichen aus einem Ton, des. Es gibt diese obsessiven Dinge. Ich mag die Violinsonate sehr, ein sehr frühes Stück. Jedes Mal, wenn wir sie spielen, scheint es, als würde darin etwas herumspuken. Was macht sie da? Es gibt dieses eine Motiv, dass sich wiederholt und zwei Menschen – an der Geige und am Klavier –, die am Anfang unterschiedliche Sprachen sprechen und dann zueinander finden. Es ist so unwiderstehlich, wir sind jedes Mal fasziniert, wenn wir es spielen. Aber die Faszination ist sehr schwer zu erklären, weil sie mit so einfachen Mitteln hervorgerufen wird. Es gibt im ganzen Stück nur Viertelnoten, geradezu zwanghaft.

Maria Cizmic: Ein Student Ustvolskayas sagte mal: »Sie bleibt, umwogt von der stürmischen Politik ihrer Zeit, standhaft und sich selbst treu.«

IV. Ausdauer

Josée Voormans: Ich glaube, sie war sehr religiös, aber was das genau für sie bedeutete, weiß ich nicht. Als ich sie fragte, sagte sie, sie sei nicht religiös, sondern spirituell. Sie meinte, Spiritualität sei das, was von einem menschlichen Wesen bleibe, wenn alles andere verschwunden sei.  

Maria Cizmic: Ihre Musik ist keine Darstellung von Religiösem, sondern eine Art rituelle Erfahrung. Der Konzertsaal selbst ist ein ritueller Ort und dazu kommen dann noch die repetitiven Elemente ihrer Musik. Sie versuchte, denselben Weg zu gehen wie einige andere aus ihrer Generation: Sie wollten Räume schaffen, in denen ihre Kunst in Verbindung zu Religiösität und Spiritualität stehen konnte, ohne der Institution Kirche, insbesondere der Orthodoxen Kirche zu folgen, weil die immer in irgendeiner Form mit der Sowjet-Regierung zusammenarbeitete.

Patricia Kopatchinskaja (Geigerin): Im Jahr 2000 gab es in Bern ein Ustvolskaya-Festival. Ich studierte damals dort. Reinbert de Leeuw und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter spielten all ihre Werke in einer alten dominikanischen Kirche, ein sehr passender Ort für diese überwältigende Erfahrung. Diese Musik war so ganz anders als alles andere: völlig ursprünglich und unwiderstehlich.

Reinbert de Leeuw: Ustvolskaya war auch da, das war schon etwas sehr Besonderes.  

Patricia Kopatchinskaja: Obwohl sie sehr zurückhaltend wirkte, hat sie den Applaus offensichtlich genossen. Jedes Mal ging sie langsam den langen Weg durch die ganze Kirche nach vorne und verbeugte sich so, als wäre es das letzte Mal in ihrem Leben. Immer, wenn sie lief, dachte ich: es ist wirklich ihre Musik.

Weil ich russisch spreche, musste ich damals für sie übersetzen. Einmal bat sie mich über ihren Ehemann, ihr einen ganz bestimmten Schlafanzug aus dunkelblauem weichem Flanell zu kaufen. Wundersamer Weise schaffte ich es, genau das Teil zu finden, das sie haben wollte, und sie freute sich sehr. Sie waren im luxuriösesten Hotel der Stadt untergebracht. Ich lebte irgendwo am Stadtrand. Eines Tages bat man mich, dringend so schnell wie möglich zum Übersetzen ins Hotel zu kommen. Als ich ankam, fragte mich Ustvolskayas Ehemann, ob ich dem Kellner sagen könnte, dass sie ihre Suppe ohne Salz wolle.

Josée Voormans: Es gab einige Orte in Leningrad, aber auch im Umland, die sie besonders mochte, an denen sie sich gerne niederließ und im Kopf komponierte. Als wir die letzte Dokumentation mit ihr drehten, fragte ich, ob wir an einen dieser Orte gehen könnten. Wir gingen zu einem baumumstandenen See. Es war Herbst und überall auf dem Boden lagen gelbe Blätter. Sie sagte, sie habe hier die zweite Sinfonie geschrieben. Sie hat sie natürlich nicht dort aufgeschrieben, aber im Kopf entworfen und dann aufgeschrieben, als sie nach Hause kam. Sie hatte eine ziemlich schlechte Handschrift und es wurde immer schlimmer, weil ihre Hände zitterten. Sie gab die Saiten wenn sie fertig war ihrem Mann, der sie in der Küche noch einmal abschrieb, damit auch andere sie lesen konnten. Ich glaube, das war auch ein Grund, warum sie irgendwann nicht mehr komponierte: Weil das Schreiben für sie immer schwieriger wurde und weil niemand mehr lesen konnte, was sie schrieb.

Sie wusste ganz genau, wie die zweite Sinfonie aufgeführt werden sollte. Und ich war sehr froh darüber, dass wir dem nachkommen konnten. Wir aßen zu Abend und sie war bester Laune. Es war ein wunderbares Treffen.

Ich war nur ein einziges Mal in St. Petersburg nach den Dreharbeiten. Wir saßen an ihrem Küchentisch, sie, mein Partner Kees, ihr Mann und ich, und aßen den besten Schokokuchen (den hatte sie bestellt). Wir aßen und sie rezitierte Heinrich Heine – ihr Deutsch war sehr gut – und sie redete und lachte. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.

Nach ihrem Tod fuhr ich nochmal hin, um ihr Grab zu filmen und auch ihre Wohnung, die ihr Partner völlig unverändert zurückgelassen hatte. Ich filmte das Haus ohne Ustvolskaya, aber mit ihrer Atmosphäre, ihre Schuhe waren auch noch da. Wir hatten geplant, 2006 in Holland ein Festival mit ihrer Musik zu veranstalten und sie hatte gehofft, kommen und alles anhören zu können. Aber dann war sie nicht mehr da.  

Reinbert de Leeuw: Es war wundervoll. In drei Tagen machten wir sowas wie vier Konzertprogramme. Wir spielten eine der sinfonischen Dichtungen im Stil der Zeit und ihr Klavierkonzert und dann, in der zweiten Hälfte, die Michelangelo-Suite von Schostakowitsch, in der er ihr Trio zitiert. Drei Tage lang Ustvolskaya, das war etwas sehr Besonderes. Es war wirklich viel Publikum da und die Leute waren so beeindruckt. Das war schon nach ihrem Tod, als eine Art Denkmal für sie.

Patricia Kopatchinskaja: Seit dem ersten Treffen mit ihr bin ich Fan ihrer Musik und spiele sie, wann immer ich kann. 2017 spielte ich beim Lucerne Festival sogar den Holzblock in Dies Irae. In Interviews sagte ich ein paar Mal, dass dieser Holzblock mich an einen Sarg erinnert. So sah es für mich zumindest aus, als Reinbert de Leeuw den Part spielte und einen etwas größeren Block verwendete, als sie in den Noten vorgibt. Die Ustvolskaya-Community beschwerte sich über diese Assoziation, deswegen entschuldigte ich mich und versprach, das Teil nie wieder »Sarg« zu nennen. Diese entsetzlichen Schläge, die man in diesem Stück hört, erinnern mich trotzdem an eine orthodoxe Bestattungs-Zeremonie, bei der der Sarg erst offen ist, damit sich die Familie vom Toten verabschieden kann, und erst in der Zeremonie wird ein Deckel darüber gelegt und mit lauten Hammerschlägen zugenagelt.

Reinbert de Leeuw: Ich habe sehr viel Ustvolskaya aufgeführt. Mein Problem ist, dass ich die Compositions I, II und III nicht mehr spielen kann. Ich habe nicht genug Kraft, sie sind wirklich anstrengend. Aber die Violinsonate führe ich zum Beispiel noch auf.

Patricia Kopatchainskaja: Deine Finger bluten buchstäblich beim Spielen. Du leidest wirklich, wenn du diese Musik spielst, und ich glaube, dieses Leiden ist wichtig. Nur dann kannst du die Wahrheit dieser Musik transportieren. Es ist eine außergewöhnliche intime Musik, ganz persönlich und einsam. Es ist, als würde man sein eigenes Kreuz tragen – in sich selbst.

Keine Effekte; kein Raum für Interpretation. Es ist ein Bekenntnis.

Elmer Schönberger: Ich habe ihr mal die Hand geschüttelt, aber ich hatte keine persönliche Beziehung zu ihr wie zum Beispiel Josée Voormans. Auf eine Art war es gut für mich, dass sie so auf Distanz blieb, für mich immer mehr eine Figur als ein echter Mensch war. Ich konnte ihre Musik wie die einer toten Komponistin spielen, ohne dass irgendwas Persönliches dazwischenfunkte – so merkwürdig das klingt. Mir gefiel das.

Alexei Lubimov: Oh, nur ganz nebenbei: Ich erinnere mich an Schwester Andre. Sie rief mich 1992 oder 93 an und wir unterhielten uns über Ustvolskaya. Ich war dabei etwas unzufrieden mit mir, weil ich gerade erst anfing, ihre Musik zu verstehen und nicht viel Sinnvolles sagen konnte. Schwester Andre hatte mir da etwas voraus, glaube ich. Tatsächlich glaube ich, dass sie in Sachen Ustvolskaya vielen etwas vorraus hatte. ¶