Mit einer grandios freihändigen Prozession über den Giovanni-Mythos gelang Ulrike Schwab der Durchbruch. Was an der Neuköllner Oper mitten im Publikum zündete, hatte die Intensität einer von innen brennenden Kollektiv-Performance. Die junge Regisseurin, bislang vor allem in der Freien Szene unterwegs, hat jüngst erste Erfahrungen mit einem Repertoire-Hit auf der großen Bühne eines Stadttheaters gesammelt – in Bremen inszenierte sie Leoncavallos Pagliacci. Derzeit probt die ausgebildete Sopranistin an der Volksoper Stockholm Mozarts Così fan tutte (auf Schwedisch). Im August 2021 wurde ihr im Rahmen der Salzburger Festspiele der mit 30.000 Euro dotierte Förderpreis der Mortier Awards für Musiktheater verliehen. VAN schaut auf den Kern der Arbeiten Ulrike Schwabs.

Das Wichtigste: Sich nichts vormachen. Aufs Ganze gehen. Etwas Unvordenkliches, etwas Besonderes in die Welt setzen. Prozesshaft, lotend, in kollektiver Anstrengung. Mit Freude, allen Sinnen, allen Kräften. Ein Musiktheater, das die Bühne primär als Spiegel unserer Wirklichkeit nutzt, ist Ulrike Schwab zu wenig. Solisten und Chöre, Tänzerinnen und Statisten in Szene setzen, als simulierten sie reale Beziehungen? Das passt nicht zu ihrer lustvoll-beharrlichen Suche nach einem Theater, dessen Magie aus der Präsenz und Bewegung individueller Körper entsteht. So wie der plane Realismus abbildender Räume oder pseudonatürlicher Lichteffekte für sie zu kurz greift. Es sind weniger Geschichte und Gegenwart der Opernregie, ästhetische Impulse aus dem Fach, das sie an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler studiert hat, die ihre Arbeit an und mit diesem komplexesten aller Genres beflügelte. Eher die existenzielle Unbedingtheit einer anderen Praxis, die immer wieder, oft in radikaler Zuspitzung, die Grenze zwischen Kunst und Leben, Leben und Tod erkundet – die Performance Art.

Exemplarisch deutlich wird dieser Einfluss in Schwabs jüngster Arbeit, einer um ein Intermezzo zwischen den beiden Akten erweiterten Auseinandersetzung mit Ruggero Leoncavallos Verismo-Hit Pagliacci am Theater Bremen (Oktober 2021) – ihrer ersten Produktion mit dem gesamten Apparat eines städtischen Mehrspartenhauses. Meist bleibt die optische Aufbereitung dieses Reißers auf ein Eifersuchtsdrama zwischen den Hauptfiguren – Nedda, Canio, Silvio, Tonio – fokussiert, das auf den gewaltsamen Tod der von drei Männern begehrten Frau zutreibt; die Commedia, das Spiel im Spiel, in dem der »reale« Mord begangen wird, fungiert dabei als Podium eines Psycho-Thrillers um die erotischen Wirrungen einer Mimen-Truppe. Doch ist dieser in Literatur, Theater, Oper, Film endlos variierte Plot das Wesentliche eines Stücks, das seit seiner Mailänder Uraufführung 1892 zu den beliebtesten cash cows des Opernbetriebs zählt?

Theater Bremen, Der Bajazzo; Marie Smolka, Luis Olivares Sand.oval, Claudio Otelli, Elias Gyungseok Han, Diego Silva • Foto © Jörg Landsberg

Im Sog der zumal aus dem Orchestergraben schäumenden Gefühle legt Ulrike Schwab etwas anderes, oft Übersehenes frei: die Einsamkeit der Protagonisten. Auf sich zurückgeworfen, allein gelassen mit ihren Wünschen, Träumen irren sie durch einen Raum ohne festen Grund, ohne stabile Kontur. Ständig kippt er weg, der perforierte Boden, aus dessen Luken der karnevalesk stilisierte Bauern-Chor mechanisch wippende Köpfe reckt, ragt steil auf oder fährt nach oben. Halt findet hier keine der schwankenden Gestalten. Nicht einmal in den an Museumsmöbel erinnernden Vitrinen, die das affektgeladene Gruppenbild mit Dame einfassen. Aus einem gläsernen Behältnis, Schneewittchen-Sarg und Schaukasten, steigt die Heroine zu Beginn, madonnengleich, um sich an die Tragikomödie zu verlieren. Am Ende harren alle Solisten hinter Glas – Performer, die sich selbst ausstellen, einem Unort ausliefern, an dem die kinetische Energie des Spiels eingefroren, jede Sekunde zur Ewigkeit geronnen scheint.

Ein Jahr nach dem Aids-Tod des britischen Filmregisseurs Derek Jarman (1994) konnte man in Londons legendärer Serpentine Gallery der Schauspielerin Tilda Swinton eine Woche lang beim Schlafen zusehen. Leger, unscheinbar gekleidet, ruhte sie in einer Glas-Box, von tausenden Augenpaaren betrachtet. Der Körper: ein Museumsstück, lebendig und tot zugleich. Beinahe zwei Jahrzehnte später (2013) hat Swinton die Performance noch einmal für das New Yorker Museum of Modern Art aufgegriffen, wenige Monate nach dem Tod ihrer Mutter. Man kann The Maybe – so der enigmatische Titel – als elegisches Ritual lesen, ein stilles, persönliches Totengedenken. Aber auch als Versuch, durch Aufbietung des eigenen lebendigen Seins, in aller Verletzlichkeit exponiert, der musealen Konservierung, Entkräftung schöpferischer Vitalität zu widerstehen.

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Tilda Swinton ist nicht die einzige opernfremde Künstlerin, auf die sich Ulrike Schwab – etwa mit dem Vitrinen-Zitat in den Bremer Pagliacci – bezieht. Eine andere Quelle: die Aktionen Marina Abramovićs – von frühen, in extreme Erfahrungsbereiche führenden Happenings wie «Rest Energy» (1980), bei dem ihr damaliger Partner Ulay einen gegen sie gerichteten Pfeil auf gespannter Sehne hält, bis zu den anlässlich einer Retrospektive im MoMA zelebrierten zweisamen Besucher-Blick-Ritualen in «The Artist is Present» (2010). Auch Valie Export und Niki de Saint Phalle, Bruce Nauman oder Joseph Beuys zählen mit ihrer experimentellen Suche nach Zugängen zu einem vitalen, unwiederholbar erlebenden Verständnis der Conditio humana zweifellos zu den geistigen Paten, die Schwabs künstlerische Haltung prägen. Nicht, dass sie, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, den Kitzel potenziell tödlicher Risiken beschwört. Doch die Sehnsucht, auf der Bühne hohe Intensitätswerte zu erzielen, vibriert in allen Projekten, die sie bisher realisieren konnte.

Es waren vor allem Bearbeitungen bekannter Werke, entworfen und erprobt mit Gleichgesinnten aus der Freien Szene, vorgestellt im Off der großen Häuser, die das eigensinnig-imaginative Talent der Regisseurin erkennen ließen. Die witzig-liebevolle, parodistische Hommage an den seit Carlo Goldoni bis zum Abwinken bemühten Buffa-Topos über Alters- und Klassengrenzen hinweg verbandelter ungleicher Paare: La Commedia è Finita (2015) nach Gaetano Donizettis zur Hochzeit des Belcanto-Fiebers komponiertem Evergreen Don Pasquale – ein in Sperrmüll-Kulissen angesiedeltes, kammermusikalisch verdichtetes Spektakel zwischen Vorstadtschmiere und Cabaret, Lustspiel und absurdem Theater, das von fern an die klanginspirierte Fantasie eines Christoph Marthaler oder David Marton erinnert. Oder die geniale Verschränkung von Engelbert Humperdincks wagnernder Märchenoper Hänsel und Gretel mit dem Schicksal jener sogenannten »Wolfskinder«, die sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Wälder Ostpreußens schlugen – Flüchtlingsgespräche für sieben in einem allseits einsehbaren Gehäuse musizierende und singspielende Darstellerinnen, die seit 2018 an der Neuköllner Oper in Berlin das Publikum mitreißen. Und, vielleicht der bis dato in der Summe beste Wurf Ulrike Schwabs, die großartige Überführung einer der wirkmächtigsten mythischen Figuren der Neuzeit ins 21. Jahrhundert: Giovanni. Eine Passion (2019) – eine paneuropäische Prozession über Lust, Leid und Leidenschaft als Triebkräfte des Menschlichen, turbulent, bunt, nachdenklich, funkelnd, eminent körperlich, mitten unter uns, die vierte Wand ist in diesem wiederum zusammen mit der Neuköllner Oper konzipierten fröhlichen Exerzitium aufgehoben. Man spürt in jedem Moment, wie sich alle Beteiligten, die multibegabten Mitglieder des Stegreif-Orchesters, die nicht nur in Arien, Chansons, Schlagern, Canzonettas geforderten Stimmen und die im Hintergrund tätigen Kräfte mit pochendem Herzblut in die Sache werfen, bis an den Rand der Verausgabung.

Neuköllner Oper, Wolfskinder • Foto © Matthias Heyde

Was immer Ulrike Schwab anpackt, der singende, singspielende Mensch steht im Mittelpunkt, von ihm geht alle Energie in jenem »Kraftwerk der Gefühle« aus, als das Alexander Kluge die Oper einmal bezeichnet hat. Die spielerische Suche nach der Wahrheit der Stoffe, Stücke und Figuren ist durchdrungen von einem auf Monteverdi und Mozart zurückgehenden Geist: uns den »hin- und herflutenden Lichtwechseln des Gemüts«, dem Gewoge unserer Ängste und Sehnsüchte mit freiem, unerschrockenem Blick zu stellen, »gramtrunken« (Ivan Nagel) und hoffnungsfroh, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Nicht nur Giovanni. Eine Passion demonstriert den Augen und Ohren öffnenden Gewinn dieser Einstellung – es ist Schwabs Liebe zu, ihre tiefe Verehrung von Mozarts »Oper aller Opern« (E.T.A. Hoffmann), die das sinnenprall wogende Treiben um die von Spanien aus ganz Europa, ja die Welt infizierende Don Juan-Legende entzündete, das virtuose Jonglieren mit Geschlechterrollen, Verführung und Vergehen, Anziehung und Abwehr im Hier und Heute.

Neuköllner Oper, Giovanni. Eine passion • Foto © Matthias Heyde

Dass Ulrike Schwab liebend brennt für das, was sie regieführend auf den Weg bringt, zeichnet nicht nur die Ergebnisse ihrer Arbeit aus – ob sie sich nun mit Donizetti oder Gluck (Armida, Neuköllner Oper 2016), Verdi (Rigoletto, Schlossoper Haldenstein 2013) oder Humperdinck, Paul Lincke (Ist die Welt auch noch so schön nach Frau Luna, Neuköllner Oper 2019), Prokofjew (Die Liebe zu den drei Orangen, Alter Orchesterprobensaal der Lindenoper 2019) oder einer zeitgenössischen Kammeroper (Malte Giesens Tako Tsubo, Tischlerei der Deutschen Oper Berlin 2017) befasst. Dieses innere Feuer inspiriert auch das Arbeiten selbst, eine aus intensivem Dialog resultierende Herstellung von Spannungsfeldern, die alle Mitwirkenden elektrisiert. Es geht um das Ideal eines Ensemblegeistes, der heraus will aus der Komfortzone, der mit jeder Geste, jeder Bewegung, jedem Ton kämpft ums Einzigartige, Unwiederholbare.

Ulrike Schwab ist selbst Sängerin, das hilft dem Anliegen, das Musiktheater zum Aufbruch in ungesichertes Terrain zu ermutigen und zu verführen. Durch ihren Vater Ulrich Schwab, von 1996 bis 2005 Generalintendant des Nationaltheaters Mannheim, hat sie die Wechselfälle des Betriebs aus der Nähe kennengelernt. Und daraus für sich die Konsequenz gezogen, die Sphäre des Möglichen voll auszureizen statt sich der Macht des Faktischen zu fügen. Ganz im Sinne einer Sentenz des Mozart-Bewunderers Søren Kierkegaard: »Sich trauen heißt, einen Moment lang den Halt zu verlieren. Sich nicht trauen heißt, sich selbst zu verlieren.« ¶

schreibt seit den frühen 1990ern über Musik und anverwandte Themen. Als Schüler schlug er sich mit Latein und Altgriechisch herum, sonntags saß er auf der Orgelbank. Seine arg limitierten Tastenkünste mutet er heute nur noch sich selber zu. Drei Jahre lebte er in den USA, zwei Jahre in England. An der Freien Universität Berlin und State University of New York at Buffalo studierte er Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Philosophie. Von 1993 bis 2004 war er der für Musik, Medien und Kunst...