VAN: Vor drei Jahren war ›Keine Angst vor niemand‹ das Spielzeitmotto am Deutschen Theater. Seitdem sind Theater und Opernhäuser als Orte, an denen ein Klima der Angst herrschen kann, selbst in den Fokus gerückt. Hat Sie das überrascht?

Ulrich Khuon: Als Möglichkeit hat es mich nicht überrascht, weil es überall dort, wo Unsicherheiten herrschen oder zum Berufsbild dazugehören, natürlich auch Raum für wachsende Ängste gibt. Das Theater ist ein bewegliches Instrument. Es gibt dauernd Veränderungen, Menschen ziehen hin und her, kommen neu dazu oder müssen gehen. Darum spielen hier Macht und Verantwortung eine besondere Rolle. Gleichzeitig ist Theater auch ein Ort mit großer Freiheit und Ausdrucksvielfalt, an dem man all diese Themen künstlerisch bearbeiten kann. Wir müssen darauf achten, wie wir die Lücke schließen zwischen dem was wir verhandeln, und wie wir es tun.

Der Bühnenverein hat letztes Jahr einen Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch veröffentlicht. Trotzdem gibt es scheinbar noch sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eigentlich übergriffiges Verhalten ist. Ihr Kollege Dietmar Schwarz, der Intendant der Deutschen Oper, findet es zum Beispiel ›etwas lächerlich‹, jemandem ungebetene Zungenküsse vorzuwerfen.

Was eine Grenzüberschreitung ist, liegt in der Wahrnehmung der Person, die sie beschreibt. Eigentlich sind die Grenzen ganz einfach dadurch abgesteckt, dass die oder der andere ›ja‹ oder ›nein‹ sagt. Wenn sie oder er ›nein‹ sagt, ist das zu respektieren, fertig. Das können Gesten sein, das können ungewollte Kränkungen sein … deswegen ist der Kodex auch ein zweiseitiges Papier und kein Dreizeiler. Es war uns wichtig, darin genau zu beschreiben, um was es gehen könnte. Nun kann man sagen: ›Wir bewegen uns durch permanente Nähesituationen in einer gefahrgeneigten Arbeit.‹ Aber gerade weil es heikel ist, muss man das Feld abstecken. Übrigens wäre es schon beim Schreien richtig, sich zu entschuldigen. Das ist ein allgemeinmenschlicher Vorgang, dafür brauche ich eigentlich keinen Kodex.

Ulrich Khuon ist seit der Spielzeit 2009/2010 Intendant des Deutschen Theaters in Berlin und seit Januar 2017 Präsident des Deutschen Bühnenvereins, dem Arbeitgeberverband der deutschen Theater und Orchester. • Foto © Klaus Dyba
Ulrich Khuon ist seit der Spielzeit 2009/2010 Intendant des Deutschen Theaters in Berlin und seit Januar 2017 Präsident des Deutschen Bühnenvereins, dem Arbeitgeberverband der deutschen Theater und Orchester. • Foto © Klaus Dyba

Was sagen Sie Ihrem Kollegen Dietmar Schwarz? Müssten Sie jetzt, wo es so einen Kodex gibt, nicht mal Ross und Reiter nennen?

Ich habe seine Äußerungen nicht gelesen. Wenn er sagt, dass Domingo selbst sein Verhalten nicht als problematisch empfunden hat, würde ich sagen: Das kann ich mir vorstellen. Aber darin liegt ja auch das Problem. Wenn er sagt – was ich mir schwer vorstellen kann –, dass die beschriebenen Verhaltensweisen Bagatellen sind, dann würde ich widersprechen.

Sie haben gesagt, Übergriffe hingen auch mit den Entstehungsbedingungen von Kunst in der Theaterbranche zusammen, der Verhandlung von Nähe und Distanz, dem Sich-verletzbar-Machen. Aber gibt es darüber hinaus auch eine kulturelle Dimension, die Machtmissbrauch begünstigt? In der Klassikwelt zum Beispiel das Bild des unantastbaren Genies oder Meisters…

Ja, das ist ein schwer auflösbares Dilemma. Ich glaube schon, dass individuelle Großbegabung für Kunst wesentlich ist. Das muss nicht dazu führen, dass man sich im Leben egoman verhält. Aber wenn entfesselte Individualgröße genügend Fans produziert, ist es schwer, auf dem Teppich zu bleiben und nicht größenwahnsinnig zu werden. Das ist in der Kunst so wie im Sport oder in der Politik. Der Druck, der mit solcher Bedeutung einhergeht, die man ja nicht verlieren will, kann natürlich auch manche Fehlleistung produzieren. Aber ein außergewöhnlicher Dirigent zu sein, hat ja nicht automatisch zur Folge, dass ich übergriffig werde. Welches Verhalten mindestens peinlich ist oder eben Konsequenzen hat, muss jetzt gelernt werden, auch von älteren Menschen. Wer aufhört zu lernen, auch sozial zu lernen, der sollte überhaupt aufhören, Leitungsaufgaben zu übernehmen.

Glauben Sie, dass der egomanische, zur Despotie neigende Intendant, Regisseur oder Dirigent eine aussterbende Species ist?

Das ist schwer zu sagen. Im Moment gibt es dahingehend eine sehr starke Tendenz. Wir arbeiten viel auf dem Feld der Geschlechtergerechtigkeit, und man kann schon sagen, dass es nicht unbedingt eine weibliche Eigenschaft ist, übergriffig zu werden. Ich merke auch in den Regiehandschriften, dass das weibliche Arbeiten kollektiver ist, partnerschaftlicher – jetzt mal ganz allgemein gesagt, natürlich gibt es auch Männer, die so arbeiten. Insofern glaube ich, dass diese Entwicklung – die eine gute ist – den von Ihnen beschriebenen Typus langsam ablösen wird.

Sie haben bei der diesjährigen Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins gesagt, dass ›erst eine Frauenquote den nötigen Druck für eine nachhaltige Veränderung erzeugt‹. Warum eigentlich?

Ohne Quote verbleibt man oft im Bereich des guten Willens und dann setzen sich meist die beharrenden Kräfte durch. Man findet, wenn man finden will, oder muss. Und da hilft natürlich eine Quote. Die Frage ist, was für eine. Ich habe erlebt, wie beim Bühnenverein innerhalb von 30 Jahren der Anteil von Intendantinnen von 0,8 Prozent auf 22 Prozent gestiegen ist. Eine Zeitlang habe ich gesagt: ›Das ist doch ein Weg.‹ Inzwischen würde ich sagen: ›Das ist zu wenig für diesen Zeitraum.‹ Deshalb fordern wir jetzt, dass mehr Gas gegeben wird. Wenn man nur sagt ›wir wollen uns ändern‹, dann passiert zu wenig.

Der Kult um die großen Meister geht oft damit einher, dass diese von ihren Fans umso mehr gefeiert werden, je ›politisch unkorrekter‹ sie sich geben, so wie Frank Castorf nach seinen abwertenden Äußerungen über Regisseurinnen, oder auch Plácido Domingo bei den Salzburger Festspielen.

Castorf wird vor allem deswegen zurecht gefeiert, weil er außergewöhnliche Theaterabende hinkriegt. Wir brauchen diese Berserker wie ihn. Was sie dann so reden – grundsätzlich immer das Gegenteil von dem, was angesagt ist –, ist oft auch einfach  der Widerspruchsgeist. ›Ich kenne keine einzige Regisseurin, die irgendwas hinkriegt.‹ Das ist ja eine reine Provokation, die ins Leere läuft. Ich würde eher fragen: ›Warum fragt man diese Personen denn immer wieder solche Sachen?‹

Bei der Diskussion um die Vorwürfe gegenüber Plácido Domingo hat man in der Klassikwelt das Gefühl gehabt, man würde mit der #metoo-Bewegung gerne abschließen. Glauben Sie eigentlich, dass sich durch die Bewegung etwas nachhaltig verändern wird?

Ja, ich glaube, es ist eine echte Bewegung da. Deswegen bin ich auch stolz darauf, dass der Bühnenverein diese zweiseitige Selbstverpflichtung verfasst hat. Natürlich muss jedes Haus die Umsetzung selber verfolgen, wir sind ja nicht der Vatikan. Aber eine überwältigende Mehrheit hat bei der Jahreshauptversammlung nach vielen Auseinandersetzungen gesagt: ›Das wollen wir so.‹ Das finde ich ein tolles Zeichen, weil wir unseren eigenen Anspruch öffentlich machen, auf den sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beziehen können. Jetzt finde ich wichtig, dass wir es nicht abhaken und als erledigt, sondern als echte Aufgabe betrachten und immer wieder nachfragen, in der Opernkonferenz, in der Intendantengruppe, ›wie gehen wir damit um, was sind die Konsequenzen?‹

Seit Oktober 2018 gibt es Themis, eine Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt in Film, Fernsehen oder Theater, zu deren Gründungsmitgliedern der Bühnenverein gehört. Können Sie etwas sagen über die Resonanz?

Wir waren dort und haben uns länger mit den Mitarbeiter*innen unterhalten. Es wird genutzt, übrigens im Moment noch mehr von Menschen aus dem Theater als aus der Fernseh- und Filmwirtschaft, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass die natürlich noch viel labiler ist. Bei uns gibt es ja wenigstens noch feste Zusammenhänge, im Film ist die Scheu, sich zu melden, vielleicht noch größer, weil da nur mit Einzelverträgen gearbeitet wird.

Haben Intendant*innen zu viel Macht und zu wenig Regulative, gerade wenn es um die Sanktionierung oder Nachverfolgung von Machtmissbrauch geht?

Ich finde schon, dass die Politik als Träger eine Rolle spielt und eingreifen kann. Die Intendanten sind übrigens nicht ganz so mächtig, wie man immer denkt, sie haben Zeitverträge, sie haben politische Partner, sie haben das Publikum, die Medien, ein komplexes Haus …

Aber in der Bewertung, auch vonseiten der Politik, geht es meist nur um Auslastung und künstlerisches Renommee, nie darum, ob jemand ein Haus gut führt.

Ich denke, dass das eine Bedeutung haben muss. Andererseits gibt es jetzt ja eine ganze Reihe von Intendanten und Intendantinnen, beispielsweise in Marburg die Doppelspitze Eva Lange und Carola Unser, die im Team dafür sorgen, dass sozial geführt wird. Unsere Häuser sind gar nicht direktorial zu führen. Es gibt die Ebene der Geschäftsführung, die Technische Direktion, die Position der Chefdramaturgin oder des Chefdramaturgen… Es wäre extrem unklug, sich wie ein Sonnenkönig zu gebärden.

Sollte man das Künstlerische und das Organisationale trennen?

Das ist, glaube ich, schwer, es fließt extrem stark ineinander. Ich bin ein Gegner von dogmatischen Modellen. Ich habe die Modellflut erlebt: die Viererdirektion, die Fünferdirektion, die haben sich in kürzester Zeit zerfleischt. Es muss Vieles stimmen, damit eine Gruppenkonstellation funktioniert. Die Frage ist, wie man eine Macht- und Verantwortungsbalance herstellt. Ich bin kein inszenierender Intendant, sondern ein dramaturgischer, der gerne künstlerisch denkt. Ich verstehe mich nicht als Manager, fühle mich aber eigentlich für vieles zuständig. Ich muss Verantwortung übernehmen können, um die verschiedenen Bereiche zu bewegen. Wenn es zu getrennt voneinander läuft, wird es schwierig.

Als Intendant ›ein Manager zu sein‹ ist immer noch ein großes Schimpfwort, oder?

Das finde ich auch falsch. Ich denke, die Dinge überlagern sich, wie Schichten. Wir sind ein Betrieb, wir haben Tarifverträge, Zielvereinbarungen, einen Personalrat, die Politik sagt: ›Ihr müsst 20 Prozent im Jahr selber einnehmen.‹ Wir sind aber auch eine soziale Gruppe, wir sind auch Künstler. Zu sagen: ›Wir machen nur Kunst, und Betrieb sind wir schonmal gar nicht‹, ist völliger Quatsch. Wenn der Betrieb gut läuft, haben wir den Kopf frei für gute Kunst.

Wenn es auch ein Betrieb ist, warum gibt es dann oft viele Sachen nicht, die es in anderen Betrieben gibt?

Wir sind dabei, das zu lernen. Wir Intendanten haben immer ein bisschen die Tendenz gehabt, zu glauben, wir seien Naturtalente. Wir haben Betriebsführung gelernt, indem wir einfach gemacht haben, ein bisschen wie man Kinder erzieht, man kriegt es irgendwie hin, mehr schlecht als recht. Da sind wir inzwischen anders unterwegs. Der Bühnenverein bietet übrigens schon seit langem Weiterbildungskurse an. Dennoch müssen wir in den einzelnen Häusern das Thema Weiterbildung ernster nehmen. Wir haben hier am Deutschen Theater im letzten Jahr mehrere Führungsweiterbildungen durchgeführt, da habe ich wieder was dazugelernt, auch wenn es manchmal anstrengend ist.

Sie haben zwei Kinder, die ebenfalls am Theater arbeiten. Tauschen Sie sich über das Thema Übergriffe mit ihnen aus?

Ich rede seit einigen Jahren mit sehr vielen Menschen darüber. Im Grunde ist es ein bisschen wie bei der Kirche, erst nimmt man es nicht wahr, dann wird viel verdrängt. Ich habe das ganze Thema Übergriffe, bis es so aufbrach, unterschätzt. Das wird mir auch im Gespräch mit meinen Kindern bewusst. Wenn jemand mit einer Beschwerde zu mir kam, bin ich dem schon nachgegangen. Aber richtig viel ist nicht zu mir gedrungen, manches habe ich auch versucht zu verfolgen, mit unterschiedlichem Erfolg. Es ist nicht so, dass man durch ein Leben geht und immer alles richtig macht. Man ist nicht immer konsequent genug. Deswegen ist es richtig, auf breiter Ebene einen Boden zu schaffen, sich nicht nur an einzelnen Fällen abzuarbeiten, diese aber auch nicht zu ignorieren.

Glauben Sie eigentlich, die Oper ist anfälliger für Machtmissbrauch als das Theater?

Das Thema Orchester ist, glaube ich, virulent und rückt zunehmend ins Bewusstsein. Als ich in Hannover Intendant war [zwischen 1993 und 2000 am Schauspielhaus], war die Oper für mich immer ein Gute-Laune-Generator. Menschen singen gerne, die Sonne geht auf ….  Da hat man gedacht:›glückliches Land hier‹, das war so eine Stimmung. Und wir beim Schauspiel waren der Problembär: Man kommt rein, und Leute haben nur problematisiert, mit Stücken, mit sich, mit der Welt gerungen, gegrübelt. Die Kehrseite dieses ›oh, ich darf singen, wir machen Musik, wir öffnen die Welt‹ ist vielleicht, dass das Bewusstsein von uns selbst als Mängelwesen in der Oper etwas weniger ausgebildet ist. Ich habe aber von der Opernkonferenz den Eindruck, dass sich vieles bewegt, und zwar sehr konsequent. Das merke ich in den Gesprächen mit den Opernintendantinnen und -intendanten, auch in der Diskussion um den Kodex. Ich kenne aber aus beiden Bereichen – Oper und Schauspiel – die Reaktion. ›Die Erotik geht verloren.‹

›Jetzt darf man nicht mal mehr flirten.‹

Oder: ›Ich darf kein Kompliment mehr machen.‹ Nee, du darfst alles, du musst nur ein bisschen mitkriegen, wie der andere das empfindet. Erotische Räume darf es absolut geben, es hat einfach damit zu tun, dass Menschen es gemeinsam wollen, fertig. Ganz so blöd, wie wir uns stellen, sind wir ja nicht. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com