Über das weltweit erste professionelle transgender Tanztheater.

Text · Titelbild © Hans-Jürgen Wege · Datum 2.10.2019

Es ist schwer zu sagen, was ein Theater- oder Opernabend konkret mitbringen muss, um nach Verwandlung, Vorhang und Applaus weiterzugehen. Weiterzugehen in dem Sinne, dass das Gezeigte und Erzählte wie mit langen Armen aus dem schmucken Theaterbau hinaus in den Alltag hineingreift, weil es nicht nur das Denken an diesem Abend – Ach, interessant! – angeregt hat. Weil es Erkenntnisse und vielleicht gar Erlebnisse ermöglicht, die nachhaltig die Wahrnehmung und den Blick auf die Welt beeinflussen, die beim Bahnfahren, Bücherlesen, Kaffeekochen weiterwirken.

So geschehen im Juni diesen Jahres, als im Lüneburger Stadttheater zuerst Tänzer und Sänger Brix Schaumburg auf die Bühne trat und nach ihm drei weitere Performer*innen, Aline de Oliveira, Josefine Sagawe und Beck Heiberg, die wie er an diesem Abend keine Rolle einnahmen, sondern sich, ganz öffentlich, von einer Rolle verabschiedeten.

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Schaumburg und die anderen Drei sind transgender. Sie wurden in Körpern geboren, die nicht mit ihrem Geschlecht übereinstimmten. Also entschieden sie – in einem über Jahre dauernden Prozess –, ihr wirkliches Geschlecht zu leben und eine Transition, eine Angleichung des Körpers vornehmen zu lassen. Nach dieser Transition standen sie nun auf der Bühne, als das weltweit erste professionelle transgender Tanzensemble: das Transparence Theatre. Ihre Geschichten erzählen von massiven Konflikten und Problemen, auch wenn sich alle vier beruflich in Bereichen bewegten und nun wieder bewegen, die gemeinhin als offen gelten: Tanz und Theater.

Brix Schaumburg
Brix Schaumburg

Die Brasilianerin Aline de Oliveira betrat an diesem Juniabend, sechs Jahre nach Beginn ihrer Transition, zum allerersten Mal als Frau die Bühne – das Stück Transparência erzählte zum großen Teil ihre eigene Lebensgeschichte: »Es war nicht ganz leicht, auf der Bühne zu stehen und keine Maske zu tragen«, sagt sie im Gespräch. »Das hat viel Kraft gekostet.« Auch Josefine Sagawe, die vor der Transition an einer renommierten Hamburger Ballettschule ein Stipendium hatte und nach ihrer Transition plötzlich arbeitslos war, tanzte wieder. Andere, wie der Musicaldarsteller Brix Schaumburg, hingegen wurden nach ihrer Transition erst richtig berühmt: »Seitdem ich ich bin, hat meine Karriere einen richtigen Kickstart erlebt«, sagt er. »Im Grunde bin ich ein ganz normaler Kerl, der seinen Job gut macht.« Mittlerweile ist er National Director des deutschen Teams bei den World Championships of Performing Arts.

Aline de Oliveira • Foto © Andrea Küppers
Aline de Oliveira • Foto © Andrea Küppers

Dass ein Teil seiner Mit-Performer*innen im Transparence Theatre jedoch regelrecht durch die Hölle gegangen ist, erfuhr Schaumburg erst im direkten Kontakt. »Ich wusste nicht, dass es so viele verschiedene Welten da draußen gibt, und dass da Menschen sind, die riesengroße Schwierigkeiten mit ihrem Dasein als Transpersonen haben.« Auf der kleinen Kellerbühne des Stadttheaters spielten sie dieses Spiel im Ensemble jetzt erneut. Cocktailkleider, Hosenträger, existenzielle Identitätskrisen, Wischmob, Muskelspiele, wer bin ich, mit welcher Erwartung kann ich mich arrangieren? Stoff fürs Theater. Oder?

Kolja Schallenberg • Foto © Marlin
Kolja Schallenberg • Foto © Marlin

»Mittlerweile sind wir an dem Punkt, an dem kein Haus mehr unpolitisch sein kann«, sagt Regisseur Kolja Schallenberg, 35 Jahre alt, gebürtiger Dortmunder, der seit über zehn Jahren in Hamburg lebt und arbeitet. Er gründete das Transparence Theatre vor drei Jahren zusammen mit Aline de Oliveira und Choreograf Wallace Jones. »Theater kann nicht mehr unpolitisch sein.« Doch tatsächlich erlebte auch er die Ablehnung: Mehrere Häuser fragte er an, wie er es als freier Regisseur gewohnt ist. »So viele Absagen beziehungsweise so großes Schweigen habe ich noch nicht erlebt«, sagt er. Die meisten hätten auf seine Anfrage gar nicht reagiert, einigen anderen hätte er erklären müssen, dass sein Ensemble keine Dragshow plane, »davon gibt es echt genug.« Die Absagen mussten nicht zwingend etwas mit der Ausrichtung des Ensembles zu tun haben. Doch stellten sich bei Schallenberg Zweifel ein: »Ich glaube, dass es ganz viel Unsicherheit bei dem Thema gibt.«

Hinter der Bühne werden Jobs selbstverständlich als m/w/d (männlich/weiblich/divers) ausgeschrieben, auf der Bühne jedoch nach wie vor klassisch für Männer und Frauen. Das macht die Arbeit während der Transition oder als nichtbinäre*r Künstler*in schwer. Aline de Oliveira beobachtet das seit einigen Jahren: »Bis sich, nachdem man angefangen hat Hormone zu nehmen, der Körper wirklich verändert, braucht es Zeit«, erzählt sie. »Ich habe mich in dieser Zwischenzeit in Deutschland für viele Rollen beworben, wurde aber nie zu Auditions eingeladen. Es ist schwierig, weil die Leute nicht wissen, was sie mit so einem Charakter machen sollen, der nicht klassisch weiblich oder männlich ist.«

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Dabei findet der Wandel in der Gesellschaft schon lange statt. Diskriminierung, sagt de Oliveira, habe sie außerhalb des Theatergeschäfts kaum erlebt, und wenn, »dann vor allem von sehr religiösen, gläubigen Menschen.« Allerdings sieht sich de Oliveira nach der Transition im Arbeitsleben mit der fehlenden Gleichberechtigung von Frauen im Berufsleben konfrontiert: »Als Frau verdiene ich auf der Bühne 30 bis 40 Prozent weniger als ein Mann. Dabei müssen Frauen auf der Musicalbühne viel mehr Leistung bringen, sie haben mehr Szenen, mehr Text, sie tanzen und singen mehr.« Eine Tatsache, von der Brix Schaumburg nun profitiert: »In der Musicalbranche gibt es viel mehr Frauen als Männer. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr Frauen sich da durchsetzen müssen.« Mittlerweile habe er »viel mehr Erfolg mit viel weniger Dampf.« Und er verdient besser als vorher: »25 Prozent mehr sind schon üblich.«

»Ihre Geschichten erzählen von massiven Konflikten, auch wenn alle in Bereichen arbeiten, die als offen gelten: Tanz und Theater.« @vanmusik über das erste professionelle transgender Tanztheater, das Transparence Theatre.

Vergangene Woche trat das Transparence Theatre zum ersten Mal gemeinsam mit cis-Gender-Darstellern auf: Broadway backwards heißt das Programm, in dem sie alle gendertypischen Rollen verkehren. Tarzan als Frau, Mary Poppins als Mann, Aladdina und Gräfin Krolock – in dem Moment sind es nur Rollen, ein Spiel, das vor allem erheitert. Für de Oliveira ist das von zentraler Wichtigkeit: »Ich finde, Humor sollte die Welt regieren«, sagt sie. »Hätte ich meinen Humor nicht, ich wäre wohl nicht mehr am Leben. Und wenn Sie mit anderen Transmenschen sprechen, die schon erfahrener sind, dann sehen Sie, dass sie alle ihre schwere Geschichte mit Humor nehmen.« Tatsächlich ist das Lachen über das Geschehen auf der Bühne aber auch kein völlig freies, losgelöstes Lachen. Manchmal schon, in wenigen, manchmal comedyhaften Einzelszenen. Meistens aber hat es Widerhaken, es fühlt sich ein bisschen rau an. Dann nämlich, wenn man versteht, dass das Lachen gerade vor allem eine Strategie ist: das Resultat eines Perspektivwechsels, der die Absurdität und Unnötigkeit des Leidenmüssens der Protagonisten freilegt. So bleibt vielleicht besonders stark das Gefühl zurück, dass sich nicht nur auf der Bühne und in der Welt, sondern vor allem in unserer Wahrnehmung derselben ziemlich viel verändern muss – und es unweigerlich auch wird. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.