Bühnenbildner stehen oft im Schatten der Sängerinnen, Schauspieler und Regisseurinnen – dabei erschaffen sie den Raum, in dem sich ein Stück, eine Regie entfalten kann, der auch unser Hören lenkt und an den sich Erinnerungen knüpfen können. Rufus Didwiszus, 1967 in Köln geboren, hat viele solcher Räume geschaffen, zuletzt den lauschig-abgründigen Guckkasten für Barrie Koskys bejubelte Salzburger Inszenierung von Jacques Offenbachs Orphée aux enfers. Am 12. Oktober hat in Zürich Helmut Lachenmanns Musiktheaterwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern Premiere. Für Inszenierung und Choreographie des Ballettchefs Christian Spuck hat der 52-jährige die Bilder entworfen.Rufus arbeitet in der Kirchstraße in Moabit, erster Stock. Die Fenster sind offen, von draußen hört man Scharen von Kindern. An der Decke in etwa fünf Metern Höhe blättert zartrosa Anstrich aus Helmut Kohls Zeiten, ein Ofenrohr mündet direkt in den Putz, es gibt auch einen Flügel und ein Vibraphon. An den Wänden lehnen großformatige Holzdrucke voller Zeichen und Reihen. Wir setzen uns mit Cappuccino an einen gewaltigen, knapp kniehohen Tisch.

VAN: Spielt die Musik von Anfang an eine Rolle, wenn du für Ballett und Oper etwas entwirfst?

Rufus Didwiszus: Mit Christian immer. Da brauche ich die Musik, weil wir beide am Anfang nicht wissen, was es denn werden soll. Dann sitzen wir viel an diesem Tisch, zwei, drei Tage, hören die Musik an, jeder schweigt, und wenn ihm was einfällt, sagt er das. Christian kommt gern nach Berlin, weil bei ihm in Zürich dauernd das Telefon klingelt. Wenn er bei mir ist, bleibt das alles draußen.

Habt ihr euch auch mit Helmut Lachenmann getroffen?

Ja, einen Tag lang. Er kam mit so einer riesigen Kladde an und ging das Seite für Seite mit uns durch. Das Gute war, dass er selbst lange nicht mehr reingeguckt hatte und sich nun wieder erinnerte, wie er zu etwas kam, woher etwas kam. Das hat mir sehr geholfen, dieses Spannungsfeld zu sehen, das Politische und diese große Lust an Klängen. Er war ja sehr eng mit Nono, in dieser Zeit, als jeder Ton politisch sein musste. Ich kenne das von meinem Vater, das Misstrauen nach dem Krieg, die Striktheit, den politischen Ansatz.

14-1570006687-69.jpgscreenshot2-1570006692-86.jpg

Im Mädchen mit den Schwefelhölzern wird Andersens Märchen von der erfrierenden Streichholzverkäuferin verbunden mit Gudrun Ensslin, die 1968 an den Kaufhausbrandstiftungen beteiligt war, noch vor Gründung der RAF.

Das ganze Stück geht auf diese Streichhölzer zurück, den einen Schritt, von dem es kein Zurück gibt. Das Mädchen kann nicht nach Hause, der Vater schlägt die tot, wenn sie die Streichhölzer nicht verkauft hat. In dem Moment, wo sie sich entscheidet, sie abzubrennen, ist die Linie überschritten. Für Gudrun Ensslin war diese Linie das erste Kaufhaus, das angezündet wurde.

Das klingt erstmal sehr gedankenschwer…

Lachenmann sagte uns: ›Bei mir kann´s auch nach oben schneien.‹ Der Mann hat sehr viel Humor. Und wieviel Gefühl ist in dieser Musik! Es kann auch nur der pure Klang sein. Dieser Mehrschichtigkeit muss ich mich als Bühnenbildner stellen, ich muss aufpassen, dass ich nicht das ganze Ding bremse, dass ich nichts zukleistere. Ich bin ja selbst so begeistert von den Klängen und will zuhören. Bei der Vorbereitung habe ich das Stück für viel intellektueller gehalten, als es ist. Ich dachte, ich bin viel zu doof, oder das ist verkopft. Als ich das Spannungsfeld kapiert habe, die Politik und die Klanglust, war ich drin.

Was passiert, wenn du in einem Stück drin bist?

Dann werde ich zum Eremiten. Wahrscheinlich geht das den meisten so. Das Entstehen eines Bühnenbildes ist ein bisschen wie im Nebel suchen, man sieht einen vagen Umriss. Wenn in dem Moment jemand etwas Falsches sagt über meine Idee, oder etwas anderes darin sieht, biege ich vielleicht zu früh ab. Es gibt einen Punkt, an dem Leute reden dürfen und einen, an dem sie es nicht dürfen.  

Wie wichtig sind Recherchen für dich?

Ich habe großen Spaß daran, zum Leidwesen meiner Regisseure. Bei Lachenmann die verschiedenen Schichten zu erforschen, Sekundärmaterial zu beschaffen, das behindert nicht unbedingt die Inspiration. Die Wohnung meiner Eltern bestand nur aus Bücherregalen… [er lacht] Ich brauche das. Sich dem Märchen anzunähern, den Versionen, die es vorher gab und die viel brutaler waren – wie sieht das die Psychoanalyse? Das sickert alles ein, und dann geht’s los mit der Pappe. Dann ist die Schrift weg, dann gibt es nur noch das Objekt.

Machst du keine Entwürfe vorher, auf Papier?

Ganz wenig. Ich arbeite viel am Modell. Es geht nur über die Hände. Manchmal kommt etwas raus, von dem ich überrascht werde, besser als geplant. Durch Farbe, durch Fehler, durch ein Material, bei dem ich denke: ›Die hintere Ecke war immer ein Problem, und jetzt geht’s!‹ Zu dieser Arbeitsweise bin ich wohl schon im Studium bei Jürgen Rose gekommen.

Jürgen Rose ist einer der großen Zauberer deiner Zunft. Wie bist du sein Student geworden? Hattest du etwas von ihm gesehen?

Nee. Ich kam zu dem Studium wie die Jungfrau zum Kinde. Ich hatte immer gemalt und war nie im Theater gewesen. Ich ahnte schon, den Drive eines Künstlers, jeden Morgen aus sich selber heraus inspiriert zu sein, den habe ich nicht. Ich brauche die Box, in der ich mich entfalten kann, die man auch sprengen kann. Damals lebte ich in Stuttgart, da war die Kunstakademie, und ich dachte, Bühnenbild? Da ist doch ein bisschen von allem dabei, bewirbst du dich mal…. Man musste in der Aufnahmeprüfung mit Rose auch darüber reden, was einen am Theater interessiert. Da habe ich improvisiert, das ist ihm bestimmt nicht entgangen. Aber irgendwas fand er gut. Und erst durch ihn hat mich das alles interessiert, durch seine Begeisterung. Er hat das ja gelebt.

War er der Meister, von dem man sich etwas abguckt?

Er wollte keine Erfüllungsgehilfen. Er wollte, dass man den eigenen Prozess begreift: Wenn jemand mit Bleistift entwirft, muss die Bühne am Schluss anders aussehen als bei jemandem, der Collagen macht. Am Ende muss ich immer noch die Skizze sehen. Ich kann darauf zurückgreifen in diesen einsamen Momenten, wenn nichts mehr stimmt. Ich weiß, wie ich meinen eigenen kreativen Prozess betrachten kann, damit ich nicht in einen Abgrund falle. Dieses Handwerkszeug war viel wichtiger, als zu lernen, wie das wirklich funktioniert am Theater. Wir haben auch immer alles selbst gebaut, eins zu eins, der Raum musste schon funktionieren, aber nicht mit Blick auf die Praxis im Theater. Rose meinte, ihr könnt ja in den Ferien hospitieren, dann wisst ihr, wie das ist, in echt.

paintingmed-1570006883-33.jpg02-1570006888-80.jpg

In der Musikausbildung geht es zunehmend darum, wie man später im Betrieb Platz findet. Es wird nicht darüber geredet, dass man einen gigantischen Vorrat an Utopie und Fantasie braucht.

Eben. Ohne das kann man´s nicht machen. Es ist ja absurd, dass erwachsene Menschen in so ein Pappgebilde reingucken und es für den Moment ernstnehmen. Das geht nur, weil wir uns darüber verständigt haben.

Du hast die ›einsamen Momente‹ erwähnt, gibt es die oft?

Es ist in jeder Arbeit so, dass ich mich am Anfang relativ sicher fühle und inspiriert. Ungefähr nach der Hälfte der Zeit schwimmt alles weg, nichts mehr im Griff, verzweifelt! Dann kriege ich die Kurve, und genau so muss es sein: Es muss weggleiten, und dann muss ich es neu greifen. Aber vorher muss erstmal der Mond angeheult werden, sonst geht´s nicht.

Wenn man sich hier umguckt, könnte man denken, dass bildende Kunst immer noch eine große Rolle für dich spielt.

Das ist alles von Mathias Hornung. Wir haben beide bei Rose studiert in diesem verrückten Jahrgang. Er ist in die bildende Kunst gegangen, und ich habe eigentlich immer in seinen Räumen mitgearbeitet. Letztes Jahr bin ich testweise in ein ordentliches Atelier umgezogen, alles weiß und mit Tischen. Bei so vielen Aufträgen dachte ich, ich muss jetzt mal erwachsen werden. Ich bin zurückgekommen, weil mir diese Anarchie gefehlt hat. Mathias produziert wie ein Wahnsinniger und in völlig anderen Größenordnungen. Womit ich herumbastele bei meinen Modellen, das sägt der mal kurz von einem Holzstück ab. Ich brauche das, im Zimmer so einen zu haben, und das Chaos.

Wie ging es weiter nach dem Studium?

Rose hat mich mitgenommen an die Münchner Kammerspiele, das war der Ritterschlag. Aber ich sollte da mit einem jungen Regisseur und einem Bühnenbildner arbeiten, die habe ich aus vollster Seele gehasst, arrogante Typen. In der Kantine habe ich mich bei einem anderen jungen Regisseur ausgekotzt, der hat mir dann eine Chance gegeben. Das war Christian Stückl mit Roberto Zucco. Danach dachte ich, jetzt bin ich ja Bühnenbildner, kein Assistent mehr. Der Rest der Welt wusste es aber nicht. Dann kamen so ein paar Hungerjahre in Berlin, in denen hat mir Mathias wahnsinnig geholfen. Ich hätte damals künstlerisch nicht überlebt, wenn ich nicht in all seinen Ateliers mitgesessen hätte. Ich habe Wohnungen renoviert und Böden abgezogen, mit einem Freund, der einen kleinen Betrieb hatte. Ich war ganz schlecht darin. Wenn die Tür zufiel, fiel der Putz von der Wand.

Und dann bist du in der Baracke gelandet, der des Deutschen Theaters.

Ich ging in die Baracke, weil alle hingingen, es waren Thomas Ostermeiers allererste Stücke. Ich dachte, ›ah, hier sind meine Leute, das hat mit mir zu tun, das gibt’s also doch.‹ Es war ja alles informell, man saß im Garten und ich neben ihm, und er sagte, ›du, ich brauche jemanden für Shoppen und Ficken, einen Bühnenbildner. Hab´ gehört, du bist einer.‹ Dann haben wir das gemacht und es war das Ding, das durch die Decke schoss. Das war eine wahnsinnig beglückende Zeit, drei Jahre vollkommener gelebter Utopie in Berlin. Das wird sich nicht wiederholen, ist aber auch nicht schlimm, wenn man das erlebt hat. Das würde heute gar nicht mehr gehen. Wir hatten alle kein Zuhause.

Woher kommt bei dir der differenzierte Umgang mit Musik?

[lacht] Das war ein typisches Waldorfschülerding. Neun Jahre Geige, und dann festgestellt, in der Rockband ist die Geige nicht so sexy, also wurde sie in die Ecke gestellt. Es folgten fünfzehn Jahre in der Band mit allen möglichen Instrumenten, bis es immer mehr Bühnenbildarbeit gab. Dann kam zum Glück meine jetzige Frau Joanna Dudley in mein Leben, die als Musikperformerin auftritt. Auch durch ihren Einfluss denke ich immer, ›es muss doch einen Ansatz im Musiktheater geben, der sich nicht aus der Oper speist.‹ Deswegen ist es ja so toll, mit Lachenmann einen zu haben, der so eine ›Musik mit Bildern‹ schreibt.

05-1570005814-86.jpgwallworkfa-1570005821-52.jpg

Wie bist du klargekommen mit deiner ersten ›richtigen‹ Oper?

Barrie Kosky hatte mich für Puccinis La fanciulla del West in Zürich gefragt. Vorher war Oper für mich so ein abstraktes Ding. Inzwischen habe ich eine Schwäche für italienische Opern, hätte ich nie gedacht. Wer weiß, wie es mir mit Borodins Prinz Igor an der Bastille geht. Ich musste erstmal lachen, als ich die Musik hörte. Kosky schmeißt mich immer in so neue Sachen rein. Nach unserer ersten Oper sagte er, ›so, und jetzt Operette, farbig und durchgeknallt.‹ Das passt eigentlich nicht zu meinem Repertoire, wenn man sich die Sachen anguckt, aber siehe da, ich habe eine neue Seite von mir entdeckt.

Wenn du hier wochenlang gebastelt hast und die Werkstätten anfangen, dein Modell zum großen Bild zu machen, was machst du dann?

Für mich geht es darum, den Charme wiederherzustellen. Die Werkstätten sind ja besser als ich, alles wird von Spezialisten gebaut, jeder rechte Winkel ist richtig. Dann wissen die schon, dass Rufus mit seinem Farbeimer kommt. Manchmal ist es notwendig, dass ich nochmal Hand anlege, farblich, oder irgendwo ein Loch reinhaue, damit es weniger ordentlich aussieht.

Das darfst du?

Die Leute, die mich kennen, warten schon darauf. Einmal habe ich in den letzten zwei Wochen jede Nacht in der Seitenbühne meine Eimer über den Schränken ausgekippt, damit das irgendein Leben bekommt. Teils ist es aber so, dass ich denke, ›ich habe ja gar nichts mehr angefasst!‹ Dann ist meine Idee so weit weg von mir, und ich möchte mir das Bühnenbild wieder zurückholen. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.